Eine Erinnerung an den Reichstagsbrandprozeß
Prof. Dr. Detlef Joseph, Berlin
Am 27. Februar 2008 ist der 75. Jahrestag der Reichstags-Brandstiftung. Wohl kaum ein anderes Ereignis ist in seinen Ursachen in der Geschichtswissenschaft so diametral abgehandelt worden und wird es noch immer. Kurz gefaßt kann man konstatieren, daß einerseits die Brandstiftung einem Einzeltäter angelastet wird und andererseits die Ansicht besteht, daß eine Tat derartiger Wirkung nur das Werk Mehrerer gewesen sein kann. So gut wie unstrittig ist dabei, daß die Nazis mindestens absolute Nutznießer dieser Brandstiftung waren, wobei die Vorbereitungen für einen vernichtenden Schlag gegen die bürgerliche Demokratie und die bürgerlichen Freiheiten im allgemeinen und die deutsche kommunistische Bewegung im besonderen längst getroffen worden waren.
Faschistische Vorbereitung
So gab die Politische Polizei am 28. Februar 1933 um 15:33 Uhr einen Funkspruch heraus, in dem die Verhaftung von 24 namentlich genannten Mitgliedern des ZK und weiterer Funktionäre der KPD befohlen wurde. Aufgeführt waren unter anderem Ernst Thälmann, Franz Dahlem, Wilhelm Pieck, Walter Ulbricht, John Schehr und Willi Münzenberg. Unverzüglich wurde am 28. Februar 1933 die Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat herausgegeben, die mit dem unzweideutigen Satz beginnt, daß sie "zur Abwehr kommunistischer staatsgefährdender Gewaltakte" erlassen werde. Ebenfalls am 28. Februar meldete der Amtliche Preußische Pressedienst in übelster antikommunistischer Diktion die Brandstiftung als "bisher ungeheuerlichste(n) Terrorakt des Bolschewismus in Deutschland" und verkündete weitere Einzelheiten des angeblich beabsichtigten kommunistischen Terrorismus [Der Reichstagsbrandprozeß und Georgi Dimitroff. Dokumente, Bd. 1, Berlin (DDR) 1982, S. 37 f.]. Es ist bekannt, daß sich die Nazis beim Organisieren der Verfolgung von Kommunisten auf Materialien stützen konnten, die bereits in der Weimarer Republik erarbeitet worden waren.
Die heutzutage festgezurrte Alleintäterthese des Marinus van der Lubbe geht prinzipiell auf die Ausarbeitung des ehemaligen Verfassungsschutzbeamten und Hobbyhistorikers Fritz Tobias zurück, der 1959/60 für seine Behauptung im Nachrichtenmagazin SPIEGEL umfangreichen Platz erhielt und dessen Ansicht seitdem für sakrosankt gehalten wird. Die Spiegel-Serie erschien 1962 dann noch als Buch [Fritz Tobias: Der Reichstagsbrand. Legende und Wirklichkeit, Rastatt 1962.], in dem sich Fritz Tobias immerhin zu der Aussage verstieg: "’Aus dem zivilen Reichskanzler wurde damals fürwahr in einer Sternstunde der Menschheit im flammenlodernden Symbol des besiegten Weimarer Staates der machtberauschte, sendungsbesessene Diktator Adolf Hitler’, der aus der ‚Verkennung des Brandes als kommunistisches Aufstandsfanal’ heraus gehandelt habe." [Ebenda, S. 592. Zit. nach: Hans Mommsen: Betrachtungen zur Reichstagsbrand-Kontroverse. In: Uwe Backes/Karl-Heinz Janssen/Eckhard Jesse/Henning Köhler/Hans Mommsen/Fritz Tobias: Reichstagsbrand – Aufklärung einer historischen Legende, München-Zürich 1987, S. 247.] Als der vom Münchener Institut für Zeitgeschichte mit einer Begutachtung beauftragte Hans Schneider nachwies, "wie selektiv Tobias verfuhr, wie obskur seine Quellen und wie falsch seine Thesen waren" [Werner Röhr: Weil alle Täter tot sind. In: junge Welt v. 26. Juni 2006.], wurde er erpreßt, der Auftrag wurde ihm entzogen, und er erhielt Publikationsverbot. Seitdem wird jeder, der es wagt, die Allein-Position zu bezweifeln, mit dem Verdacht belegt, ein unverbesserlicher Holzkopf und Ignorant zu sein.
Dem Grunde nach hätte van der Lubbe wie ein Wirbelwind durchs Gebäude gefegt sein und seine Fackel an überall vorbereitend deponierte Brandbeschleuniger halten müssen, um in Windeseile ein derart verheerendes Feuer entfachen zu können. Bekanntlich war Göring Reichstagspräsident und verfügte über ein gegenüber dem Reichstag stehendes Dienstgebäude, das durch einen unterirdischer Gang mit dem Reichstag verbunden war. Eine vorzüglich geeignete Möglichkeit, ungesehen in den Reichstag gelangen und Übles verrichten zu können. In den Prozeßdokumenten findet sich das Protokoll der richterlichen Vernehmung des Nachtpförtners im Reichstagspräsidentenpalais P. Adermann über Schritte und andere Geräusche im unterirdischen Gang zwischen Kesselhaus und Reichstag [Dokument Nr. 86. In: Der Reichstagsbrandprozeß und Georgi Dimitroff. Dokumente, Bd. 1, Berlin/DDR 1982, S. 188.]. Adermann hatte angegeben, daß er längere Zeit vor dem Brand Geräusche in diesem Gang vernommen hatte, die letzten Geräusche vernahm er etwa 10 Tage vor dem Brand. Diese richterliche Ermittlungshandlung spielte im Prozeß dann eine Rolle! Drei Brand-Sachverständige hatten van der Lubbe auf der Grundlage ihres Gutachtens [Dokument Nr. 108. In: ebenda, S. 220 ff.] vorgehalten, daß "er die Tat auch nicht habe allein ausführen können, daß vielmehr wissenschaftlich erwiesen sei, daß die Inbrandsetzung des Plenarsaals einer umfangreichen Vorbereitung bedurft habe." [Dokument Nr. 110. In: ebenda, S. 223. "1970 erstellte das Thermodynamische Institut der TU Berlin eine Expertise, die zum selben Ergebnis kam." (Werner Röhr: "Weil alle Täter tot sind". In: junge Welt v. 26. Juni 2006).] Das Reichsgericht ging dann im Urteil, sich auf die Gutachten stützend, auch von Mittätern aus, unterstellte als diese aber die Kommunisten und begründete die Freisprüche für G. Dimitroff, B. Popov, V. Tanev und E. Torgler damit, daß sie "der Mitwirkung bei der Tat als nicht überführt anzusehen" seien [Am 6. Dezember 2007 hat die Bundesanwaltschaft "festgestellt, daß das Urteil gegen den im ‚Reichstagsbrandprozeß’ verurteilten Marinus van der Lubbe aufgehoben ist." Grundlage für die Feststellung war ein Gesetz aus dem Jahr 1998, nach dem Urteile aus der Zeit zwischen 1933 und 1945 von Amts wegen aufzuheben sind, wenn sie auf spezifischem nationalsozialistischem Unrecht beruhen.]. Über diesen Urteilsspruch empört, forderte G. Dimitroff sofort das Wort, das ihm vom Gerichtspräsidenten Dr. W. Bünger rigoros verweigert wurde.
Der Reichstagsbrand kam den Nazis bestens gelegen, mit Brachialgewalt gegen Links, zunächst insbesondere gegen die Kommunisten, vorzugehen. Listen zum Verfolgen der politischen Gegner waren seit längerem vorbereitet und standen sofort und unmittelbar zur Verfügung. Die Verfolgungsmaschinerie konnte unverzüglich in Gang gesetzt werden und wurde es. Dennoch erreichte die KPD in der Reichstagswahl vom 5. März 1933 noch 81 Sitze, die von den Nazis unverzüglich annulliert wurden.
Kommunistenjagd und SPD
Die offenkundige Verfolgung der Kommunisten war auch Gegenstand der letzten Sitzung der Reichstagsfraktion der SPD. Josef Felder, Teilnehmer dieser Sitzung, schrieb in seinen Erinnerungen, daß man erörterte, ob die SPD in der bevorstehenden Reichstagssitzung am 23. März 1933 gegen die Mandatsentziehung der KPD protestieren sollte. "Bevor wir aber gingen, beantragten einige noch, den Satz aus der Rede von Wels zu streichen, in dem er unseren Protest dagegen aussprach, daß man die Kommunisten zwar wählen ließ, ihren gewählten Abgeordneten aber unter Bruch der Verfassung den Zutritt zum Reichstag verweigert hat. Der Satz könne so nicht stehen bleiben. Nach der Rede von Hitler vom Vormittag, in der die Kommunisten geradezu als kriminelle Verbrecher hingestellt wurden, werde der Satz, wenn er stehenbliebe, zu einem ungeheuren Trubel führen. Wir würden den Kommunisten gar nichts nutzen, sondern die völkische Presse würde schreiben: Jetzt haben sie sich völlig solidarisiert mit den verbrecherischen Kommunisten. Das würde eine ungeheure Rückwirkung haben, zu Ausschreitungen der SA und SS gegen unsere kleinen Funktionäre im Reich führen. Wir würden zusammengeschlagen werden, aber den Kommunisten dadurch gar nicht helfen. Wir müßten auch jetzt berücksichtigen, daß uns die Kommunisten bis zuletzt nicht geholfen hätten, wir für sie bis zuletzt Sozialfaschisten gewesen seien. Nach diesen Erklärungen wurde der Satz einstimmig gestrichen." [Josef Felder: Erinnerungen. In: Vorwärts v. 24. Februar 1983, Beilage S. 4.] Den Sozialdemokraten hat das bekanntlich nichts gebracht. Sie wurden verboten und verfolgt.
Man sollte wissen, daß zu den "wissenschaftlichen Grundlagen" der Beurteilung des Reichstagsbrandes jene "Erkenntnisse" gehören, die in dem "Abschlußbericht des Kriminalkommissars der Politischen Polizei Dr. W. Zirpins über die Ermittlung zur Reichstagsbrandstiftung und zur Person M. van der Lubbes" [Dokument Nr. 29. In: Der Reichstagsbrandprozeß und Georgi Dimitroff. Dokumente, Bd. 1, Berlin/DDR 1982, S. 70-78.] (vom 3. März 1933) geschrieben worden sind. An zwei Stellen bringt Zirpins seine Meinung zum Ausdruck, die er aus dem Verhör gewonnen hat. Es heißt wörtlich: "Die Frage, ob van der Lubbe die Tat allein ausgeführt hat, dürfte bedenkenlos zu bejahen sein." [Ebenda: S. 74.] "Der dringende Verdacht gegen van der Lubbe, daß er im Auftrage der KPD gehandelt hat, ist also gegeben. Die Erhebungen in dieser Richtung werden mit Nachdruck geführt." [Ebenda: S. 77 f.] Daß Zirpins während der Nazizeit Karriere machte, schadete seinem Aufstieg nach 1945 in den Westzonen/der BRD nicht. [Vgl. Frank Liebert: "Die Dinge müssen zur Ruhe kommen, man muß einen Strich dadurch machen". In: Gerhard Fürmetz/Herbert Reinke/Klaus Weinhauer (Hrsg.): Nachkriegspolizei, Hamburg 2001, S.97–100.]
Der Prozeß vor dem 4. Strafsenat des Reichsgerichts begann am 21. September 1933, lief über 57 Verhandlungstage und endete am 23. Dezember 1933 mit der Urteilsverkündung. Die faschistische Regierung war offenbar vom Ausgang des Prozesses in ihrem Sinne überzeugt, was schon daran erkennbar war, daß sie den Prozeß in voller Öffentlichkeit durchführen ließ. Eine Fülle an Journalisten aus dem In- und Ausland war zugelassen. Sogar Rundfunkübertragungen waren großzügig vorgesehen. Nachdem erkennbar wurde, daß Dimitroff es vermochte, das Gerichtsverfahren als eine Tribüne der Entlarvung des deutschen Faschismus zu nutzen, wurden die Übertragungen stark reduziert und schließlich eingestellt. Auch die Berichterstattung in der deutschen Presse wurde rigoros eingeschränkt.
Historische Wahrheit und ihre Beschreibung
In der Sowjetischen Besatzungszone erschien bereits 1946 in erster Auflage – insgesamt gab es über die Jahre mehrere Auflagen –, eine Sammlung mit Dokumenten, die den Kampf Dimitroffs im Leipziger Reichstagsbrandprozeß widerspiegelte.
Im Gegensatz zur in der BRD vorherrschenden These von der Alleintäterschaft des Marinus van der Lubbe wurde der Reichstagsbrand in der DDR-Geschichtsschreibung als provozierter Ausgangspunkt für einen unerhörten Terror gegen Gegner der Nazis, insbesondere gegen Kommunisten, beurteilt. Die im Grundsätzlichen richtige Berichterstattung über den Reichstagsbrandprozeß war allerdings zwischen 1946 und 1982 auch durch Geschöntes und Textverfälschungen gekennzeichnet. Dies soll hier nicht erwähnt werden, weil es modisch ist, immer auch die DDR zu kritisieren, sondern weil uns Tendenzen der Schönfärberei zu viel gekostet und weil wir daraus zu lernen haben.
Es ist zu vermerken, daß die Herausgeber die Dokumente Dimitroffscher Urheberschaft mittels Bearbeitung "schönten" und "verfeinerten". [Georgi Dimitroff. Reichstagsprozeß, Berlin (DDR) 1953.] Verständlich ist, daß Dimitroff, der sich selbst und die kommunistische Sache verteidigte, als Ausländer die deutsche Sprache nicht perfekt beherrschte. Offenbar scheute man 1946 und in den folgenden Jahren die Tatsache zu vermitteln, daß Dimitroff ein Bulgare war, der sich der deutschen Sprache bedienen konnte – und zwar mit allen Problemen, die man als Ausländer eben hat. Wie bedeutend ist es jedoch zu lesen, was Dimitroff unter den Bedingungen einer drohenden Todesstrafe zu sagen hatte. Um die Unvollkommenheit seiner Sprachkenntnisse wohl wissend und dennoch den Kampf offensiv zu wagen, zeugt viel mehr von der Größe Dimitroffs, als das von den deutschen Herausgebern auf "Schönheit" manipulierte Wort. Und es muß bedauerlicherweise auch von textlicher Manipulation gesprochen werden. Bis 1982 war diese Dokumentensammlung das einzig verfügbare Material. In diesem Jahr wurde jene Dokumentation begonnen, die sich, auf drei Bände berechnet, durch wissenschaftliche Exaktheit auszeichnet. Leider sind davon nur zwei Bände erschienen. Der Untergang der DDR hat die Vervollständigung dieser Ausgabe verhindert. Veröffentlicht wurde "Der Reichstagsbrandprozeß und Georgi Dimitroff – Dokumente" [Band 1: 27. Februar bis 20. September 1933/ Berlin 1982/; Band 2: 21. September bis 23. Dezember 1933/ Berlin 1989. Herausgeber sind die Institute für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED sowie der KPdSU und für Geschichte der BKP beim ZK der Bulgarischen Kommunistischen Partei.]. Ein Vergleich mit den Originaltexten in diesen Bänden bringt in Bezug auf das Buch von 1946 erhebliche Mängel zutage. Als Beispiel sei auf die Schlußrede Dimitroffs verwiesen. Sie wurde 1946 um Sachverhalte "bereichert", die aktuelle politische Interessen der SED innerhalb der Arbeiterbewegung reflektierten und sich insbesondere gegen eine "Politik der Arbeitsgemeinschaft" sozialdemokratischer Parteien mit der Bourgeoisie richteten. Es wurden Einfügungen veröffentlicht, die Dimitroff nicht gesprochen hatte. So wurde Dimitroff durch das Gericht daran gehindert, seinen berühmten Verweis auf die Position Galileo Galileis, der betont hatte, daß sich die Erde doch vorwärts drehe, zu sprechen. Tatsächlich hatte Dimitroff sich als Vorbereitung auf seine Schlußrede ein längeres "Konzept für sein Schlußwort" erarbeitet, in dem es wörtlich heißt, daß Galilei, vor einem Gericht stehend, "mit tiefster Überzeugung und feste Entschlossenheit zugerufen (hat): trotzdem sie – die Erde – dreht sich! Und diese wissenschaftliche These war später Gemeingut der Ganze Menschheit. Wir Kommunisten können heute nicht weniger entschlossen als alte Galilei sagen: Und trotzdem dreht sich. Das Rad der Geschichte dreht sich nach vorwärts – nach eine Sowit-Europa, nach einen Weltbund der Sowjet-Republiken. Und dieses Rad, betrieben durch das Proletariat, unter Führung der Kom. Internationale, wird durch keine Ausrotungsmaßnahmen, durch keine Zuchhaustrafen und Todesurtei aufgehalten werden. Es dreht sich und wird sich drehen bis zum endgültige Sieg des Kommunismus! Für meine Person will ich kein Märtirer werden durch ein Urteil als Ersatz-Reichstagsbrandstifter. Ich will Kämpfer bleiben – Und wenigstens, noch 20 Jahre für den Kommunismus leben und kämpfen und dann ruhig sterben!" [Dokument Nr. 334. In: Der Reichstagsbrandprozeß und Georgi Dimitroff. Dokumente, Bd. 2, Berlin/DDR 1989, S. 812. Die Fehler sind so im Original geschrieben!]
Es wäre ein leichtes gewesen, aus diesem "Konzept" zu drucken und den Satz so bekannt zu machen. Aber nein. Dramatisch war es eindrucksvoller, die Worte als im Gerichtssaal gesprochen zu verkünden, obwohl das durch den rigorosen Abbruch der Verhandlung seitens des Gerichtspräsidenten Wilhelm Bünger nicht geschehen konnte. Es mag sein, daß dem Herausgeber der weitverbreiteten einbändigen Ausgabe zum Reichtagsbrandprozeß mit dem Erscheinen des ersten Bandes des geplanten Dreibänders wegen der genannten Ungereimtheiten unwohl wurde. Jedenfalls gibt es auf diese DDR-Ausgabe im Vorwort des ersten Bandes von 1982, das bisherige Publikationen zum Reichstagsbrandprozeß auflistete, keinen Hinweis.
12. Dezember 2007