Ein "Nein", das die Lügner Lügen straft
Der Journalist und Buchautor André Scheer veröffentlichte am 3. Dezember 2007 einen Kommentar unter der oben genannten Überschrift.
Darin heißt es:
... Als Problem erwies sich für die Unterstützer der Reform letztlich das breite Spektrum der Vorschläge, die für viele Menschen unübersichtlich blieben. So konnten sich die Gegner der Reform je nach Zielgruppe ihre Kritikpunkte aussuchen, während die Unterstützer grundsätzlich das Gesamtpaket verteidigen mußten – und auch unter den Unterstützern der Regierung gab es deutliche Kritik an einzelnen Punkten. Deshalb waren viele Stimmen gegen die Reform auch ausdrücklich keine Stimmen gegen Chávez, eine Tatsache, auf die sogar die Opposition in ihrer Werbung gesetzt hatte: "Wir wählen keinen Präsidenten, wir stimmen über die Reform ab".
Auch ein weiterer Kritikpunkt der Opposition war schwer von der Hand zu weisen. Das Instrument der Verfassungsreform ist im venezolanischen Grundgesetz für Änderungen "einer oder mehrerer Normen" vorgesehen, "ohne die grundsätzliche Struktur und Grundprinzipien des Verfassungstextes zu ändern" (Art. 342). Für weitergehende Änderungen wäre die Wahl einer Verfassunggebenden Versammlung notwendig. Nach dem Vorschlag von Chávez im August hatte die Regierung auch noch in diesem Sinne argumentiert. Die 33 Änderungen umfaßten weniger als 10 Prozent des Verfassungstextes und tasteten weder die Struktur noch die Grundprinzipien des Gesetzes an. Der Begriff des "Sozialismus" wurde genau deshalb nicht in den ersten Artikeln der Verfassung eingeführt, sondern sollte zum ersten Mal in Artikel 16 auftauchen. Als aber die Nationalversammlung dann am 2. November letztlich 69 Änderungen und 15 Übergangsbestimmungen beschloß, fiel diese Argumentation den Unterstützern auf die Füße. Mit rund 20 Prozent des Verfassungstextes
war nur noch schwer von einer Änderung "einer oder mehrerer Normen" zu sprechen.
In diesem Sinne könnte sich die Abstimmungsniederlage der Regierung durchaus in einen politischen und strategischen Erfolg verwandeln.
Präsident Hugo Chávez wandte sich unmittelbar nach der Bekanntgabe der ersten offiziellen Zahlen durch den Nationalen Wahlrat (CNE) in einer Ansprache über alle Rundfunk- und Fernsehsender an die Bevölkerung. Er erkannte den Erfolg des "Nein" an und sagte, ihm sei diese knappe Niederlage lieber als ein ähnlich knapper Erfolg. Es sei dies keine Niederlage, sondern ein neues "Por ahora", sagte er unter Anspielung auf den von ihm angeführten gescheiterten Aufstand vom 4. Februar 1992. Damals hatte Chávez in einer kurzen Fernsehansprache die Verantwortung für die Ereignisse übernommen und erklärt, für den Augenblick ("por ahora") habe man die angestrebten Ziele nicht erreicht. Durch diese Ansprache wurde Chávez erst bekannt und populär, was letztlich zu seiner späteren Wahl zum Präsidenten Venezuelas führte.
In der Tat könnte der Präsident mittelfristig gestärkt aus dieser Niederlage hervorgehen. Nicht nur, daß die Opposition mit einer umfassenden Kampagne die gegenwärtig geltende Verfassung verteidigt hat, die sie jahrelang mißachtet und verleumdet hatte. In der Diskussion um die Verfassungsreform haben sich außerdem die Fronten in Venezuela weiter geklärt, Reformisten wie die sozialdemokratische Partei "Podemos" oder unsichere Kantonisten wie der frühere Verteidigungsminister Baduel sind offen zur Gegenseite übergegangen. Angebliche Ideologen des Prozesses wie der deutsch-mexikanische Soziologie-Professor Heinz Dieterich haben sich durch ihre Verteidigung der kaum verhüllten Putschaufrufe Baduels selbst in die rechte Ecke gestellt. Andere Organisationen, wie die Partei "Heimatland für alle" (PPT) und die Kommunistische Partei Venezuelas (PCV) haben sich trotz punktueller Kritik an der Verfassungsreform hinter das Projekt gestellt und aktiv für die Annahme geworben. Damit haben sie ihre Treue zum revolutionären Prozeß bewiesen, die von einigen Persönlichkeiten im Umfeld des Präsidenten in Zweifel gezogen worden war, nachdem sich beide Parteien nicht der Vereinten Sozialistischen Partei Venezuelas (PSUV) angeschlossen hatten.
Wichtiger noch könnte aber die gestärkte Argumentationsbasis der venezolanischen Regierung sein. Jahrelang hatte ihr die Opposition permanent Betrug und Manipulationen bei den Wahlen und Abstimmungen vorgeworfen. Die oppositionellen Medien in Venezuela machten sich zum Sprachrohr solcher Vorwürfe, internationale Medien in den USA und Europa, auch in Deutschland, übernahmen kritiklos solche Darstellungen, die von internationalen Wahlbeobachtern immer wieder dementiert wurden. ...