Ein lebendiger Marxismus tut not
Michael Holzmann, Freising
Unzweifelhaft wird uns immer klarer vor Augen geführt, welches Gefährdungspotential der kapitalistische Lebensstil für das Leben oder besser das Überleben der Menschheit auf dem Planeten Erde hat. Der bislang ungebremste Temperaturanstieg oder der Klimawandel als die logische Konsequenz eines unverantwortlichen Produktionsexzesses von Gütern mit Hilfe des Einsatzes von fossiler Energie in den reichen Industriestaaten führt die Menschheit an den Rand des Abgrunds.
Es ist so, als ob der Schleier der Bewusstseinsvernebelung über unsere Art zu wirtschaften, sich langsam aber sicher zu lüften beginnt. Wäre es also nicht an der Zeit, innezuhalten, und unseren Lebensstil kritisch zu hinterfragen, und gegebenenfalls eine Umwertung der uns maßgeblich bestimmenden Werte vorzunehmen? Also eine grundlegende Auseinandersetzung über das Selbstverständnis unseres Menschseins. Wir erinnern uns, dass genau dies vor über 175 Jahren von Karl Marx und Friedrich Engels versucht wurde, im Angesicht des Elends von Millionen, der Leidtragenden der Bereicherungssucht der Wenigen in der ersten Hochphase der industriell-kapitalistischen Entwicklung in Europa. Konzentriert sich unser Menschsein vor allem auf die Wohlstandssicherung? Bin ich also erst ganz Mensch, wenn ich wohlhabend bin? Rechtfertigt der zu erringende Wohlstand den Einsatz unser aller Energie und Zeit? Ist es nicht so, dass dies uns zu Einzelkämpfern macht, und wir angehalten sind, mit Hilfe unserer Ellenbogen unsere »Beute« gegen die Begehrlichkeiten anderer zu verteidigen? Was hat das alles für Konsequenzen für die Aura unseres Zusammenlebens? Merken wir überhaupt noch, wie kalt und gnadenlos, immer lauernd auf die Blöße des anderen, wir oft miteinander umgehen? Wollen wir das wirklich, eine Gesellschaft der Entmenschlichung? Ist es nicht so, dass dies unweigerlich die Konsequenz ist, wenn die Habgier nicht mehr als Verfehlung betrachtet wird, sondern als willkommene, dem Kapitalismus angemessene Grundhaltung?
Es ginge auch anders. Wäre es nicht eine interessante Akzentverschiebung, wenn nicht die Wohlstandssicherung, sondern die Schaffung von gesellschaftlichen Bedingungen, in denen Menschen zu sich selbst finden und ihr Wesen ganz entfalten zu lernen beginnen, einen großen Teil unserer Energie beanspruchen würde? Der Wohlstand wäre also in dieser Welt nur Mittel für den eigentlichen Zweck unseres Daseins, nämlich unsere volle Menschwerdung, und damit auch die Vermenschlichung unserer Gesellschaft, in der es sich dann wirklich zu leben lohnt. In dieser neuen Aura ist die Wirtschaft so angelegt, dass sie zum einen nur der Befriedigung unserer wirklichen Bedürfnisse dient, zum anderen die Bedürfnisse aller im Blick behält, wie es echter Humanität entspricht. Das würde bedeuten, dass wir unsere Güterproduktion, und damit den Ressourcenverbrauch und den CO2-Ausstoß erheblich zurückfahren könnten. Hinzukommen könnte auch eine gesellschaftliche Debatte – in die alle Menschen einbezogen sind – was wir alles produzieren wollen, eine Debatte über unsere wirklichen Bedürfnisse. Dies wäre gleichzeitig ein Durchbruch zu einer umfassenden Demokratisierung unserer Gesellschaft. Könnte es sich also lohnen, den Gedankenschatz des »Marxismus« neu zu heben, und ihn zu reinigen von Entstellungen, Verzerrungen und Dämonisierungen?
Könnte es also sein, dass der Klimawandel unfreiwillig die Grundaussage der marxistischen Theorie vom Kapitalismus als dem falschen Leben bestätigt? Ich möchte versuchen – sehr subjektiv, also einseitig – mich dem anzunähern, was »Marxismus« sein könnte.
Ich beginne mit einer nötigen Differenzierung. Ich meine nicht den dogmatisch erstarrten, auf kritiklose Unterordnung angelegten »Marxismus«, der den Geist Stalins in sich trägt. Ich meine den Marxismus, der lebendig macht, der erkenntnisfähig sein will, und der den erworbenen geistigen Besitzstand immer wieder hinterfragt. Dieses befreite Denken ist ein offener Prozess, kommt nie an ein Ende, und lebt von der Fähigkeit zu Kritik und Selbstkritik. Die »Waffe der Kritik« will Licht hervorbringen zur Frage, was es überhaupt heißen könnte, richtig zu leben, und das falsche Leben zu erkennen. Das Ziel ist das zu sich selbst befreite Menschsein. Deshalb ist die Etablierung autoritärer Strukturen mit dem marxistischen Menschenbild nicht vereinbar. Die Erfolgsaussichten hängen nicht ausschließlich an der Machtfrage, sondern inwieweit die Massen den inneren Transformationsprozess vom entfremdeten Objektstatus hin zum bei sich selbst angekommenen Subjektsein vollziehen können.
Lebendiger Marxismus wird fähig zur Tiefe. Es ist die Suche nach dem gelingenden Leben. Dies kann zur existentiellen Notwendigkeit werden, wenn wir den Scherbenhaufen, den der kapitalistische Lebensstil hinterlässt, genauer betrachten. Denn das Verhängnis der Erderwärmung ist ja nur die Konsequenz eines Lebensverständnisses, das in der Besitzanhäufung den Lebenssinn zu erkennen meint. So könnte der marxistische Ansatz der Überwindung der Eigentumsfixierung als die zentrale Achse der Lebensausrichtung uns den Blick öffnen für eine neue Lebensweise.
Ein weiterer wichtiges Anliegen ist die Auseinandersetzung mit den eigentlichen Ursachen der immer wieder entfesselten Zivilisationsbrüche in den letzten 500 Jahren. Es lässt sich erkennen, dass diese ausschließliche Fixierung auf den Besitz und dessen Vermehrung das Innere des Menschen verunstaltet und zersetzt. Dies führt dann zu einer Entmenschlichung der Verhältnisse. Die uns eigentlich angeborene Empathiefähigkeit, und das Interesse am Wohlergehen meines Nächsten lösen sich auf. Es entsteht eine andere Welt, in der der Mensch dem Mitmenschen nur noch Mittel ist, die eigenen Ziele, also die Reichtumsvermehrung zu erreichen. In diesem Kontext des fehlenden Mitgefühls ist ein Mensch zum bloßen Kostenfaktor reduziert. Es gilt das Gesetz der Minimierung der Kosten, um den eigenen Ertrag zu maximieren. Nach dieser Logik werden die zentralen Verbrechen an der Menschlichkeit verstehbar. Es ist zu erkennen, dass die Leitmaxime »Wohlstandssicherung« als sinnstiftende Lebensform, die in den letzten 500 Jahren die Welt geprägt hat, den Keim des Zivilisationsbruchs in sich trägt. So war die Epoche der Sklaverei nach jener Logik sinnvoll, denn diese minimiert den Kostenfaktor Mensch ganz erheblich. Wer also den Wunsch nach einer Welt, die zur Menschlichkeit fähig ist, in sich trägt, kommt nicht umhin, das Privateigentum an Produktionsmitteln kritisch zu hinterfragen. Denn dies ist die zentrale Achse der kapitalistischen Wirtschaftsform, und zugleich der Ursprung von Macht. Wer ein großes Vermögen hat, ist in der Lage, gemäß seiner Lebenslogik die Gesellschaft zu prägen, was der Masse der Besitzlosen – auch im reichen Deutschland wohl an die 50 Prozent – nicht vergönnt ist. Hier zeigt sich doch ganz deutlich ein enormes Demokratiedefizit. So erscheint ein System, dass der persönlichen Bereicherungssucht alle Türen öffnet, mit dem Ziel einer menschlichen Gesellschaft nicht vereinbar.
Wichtig erscheint mir, dass der geschaffene Wohlstand Mittel ist, nicht das Ziel an sich. Mittel zur Befriedigung unserer wirklichen Bedürfnisse. Mittel, um allen Menschen ein Leben in gesicherten materiellen Verhältnissen zu ermöglichen. Die oft extrem ungleiche Einkommens- und Vermögensverteilung in kapitalistischen Gesellschaften zeigt ja an, dass dieses Ziel dort nicht vorrangig ist. Im Sinne von Bert Brecht »Armer Mann trifft reichen Mann … wär ich nicht arm, wärst du nicht reich« könnte man zuspitzen, dass die Bereicherung vor allem der 1 Prozent, letztlich das materiell karge Leben der 50 Prozent in Deutschland voraussetzt. Weiter lässt sich daraus folgern, dass es in kapitalistischen Systemen um die Achtung des Allgemeinwohls, auf das die Nichtprivilegierten oft existentiell angewiesen sind, schlecht bestellt ist. Hier ließe sich eine lange Liste der Mängel in Deutschland anführen. Ein Schienennetz im beklagenswerten Zustand, fehlender bezahlbarer Wohnraum, schlechte personelle Ausstattung in der Altenpflege, in den Kitas, der besorgniserregende Zustand der Krankenhäuser und der Schulen weisen darauf hin, dass die legitimen Bedürfnisse der Mehrheit in kapitalistischen Systemen keine Priorität genießen. Ein Blick in den Alltag des politischen Betriebs legt offen, dass das Urbedürfnis der Mehrheit nach Solidarität der Privilegierten mit den um ihre materielle Existenz Ringenden in Zeiten von Corona und Energiepreisexplosionen immer erfolgreich abgewehrt werden konnte, also das Anliegen der Mehrheit keine Durchsetzungskraft besitzt. Was sagt das aus über den Zustand unserer Demokratie? Es scheint, dass der marxistische Ansatz, in bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaften von einer herrschenden Schicht, den Besitzenden, zu sprechen, nicht ganz von der Hand zu weisen ist.
Es drängt sich der Verdacht auf, dass vieles im Selbstverständnis bürgerlicher Demokratien inszeniert wirkt. So die Selbstbeschreibung als die »freie Welt«, der Monopolanspruch auf den Freiheitsbegriff. Die Gegenüberstellung von Freiheit und Sozialismus hatte in der Tat eine durchschlagende toxische Wirkung. Kapitalismus als der Raum der Freiheit. Sozialismus als Beispiel eines autoritären Modells. Vielleicht geht es darum, die befreiende Kraft der Idee des Sozialismus stärker in den Vordergrund zu rücken. Karl Marx skizziert als das Grundprinzip einer sozialistischen Gesellschaft »die volle und freie Entwicklungsmöglichkeit eines jeden Individuums«. Er entwirft die Vision von einer Gesellschaft, in der die notwendige Arbeit auf ein Minimum reduziert werden kann, so dass das wahre Reich der Freiheit, das sich in der freien Verfügbarkeit der Lebenszeit begründet, entstehen kann. Die Entwicklung der Produktivkräfte, anders gesagt der Produktivitätsfortschritt, ermöglicht dieses, eigentlich. Ebenso die Konzentration auf unsere wirklichen Bedürfnisse. Die humanistische Größe von Marx offenbart seine Forderung, dass der Mensch ein Recht habe zur »Mußezeit«, in der Raum ist zur menschlichen Entwicklung, auch der künstlerischen Neigungen. Denn »ein Mensch, der nicht über freie Zeit verfügt, dessen ganze Lebenszeit … von seiner Arbeit für den Kapitalisten bestimmt ist, ist weniger als ein Lasttier.« Schließlich stellt sich Marx die Frage, inwieweit in einer kapitalistischen Gesellschaft Freiheit und Autonomie substantiell verwirklicht werden können, wenn man bedenkt, dass die Akkumulation des Kapitals durch die Maximierung des Mehrwerts der eigentliche Zweck dieses Wirtschaftens ist.
Es ist offensichtlich, dass das autoritäre Denken nicht vereinbar ist mit einem lebendigen Marxismus. Dieser möchte einen Beitrag leisten zur Befreiung des Menschen von den allgegenwärtigen Zwängen und Nötigungen. Zur nötigen Begriffsklärung und Abgrenzung: Rechtes Denken ist von seiner ganzen Natur her autoritär. Als »autoritär« verstehe ich ein gesellschaftliches Klima, in der Menschen zu bloßen Vollzugsorganen des Willens der Mächtigen oder Autoritäten in der Gesellschaft degradiert und deformiert werden, so dass sie selbstentfremdet leben müssen. Es gibt in dieser Hinsicht eine gewisse Begriffsverwirrung. Dieser gilt es auf den Grund zu gehen. Gab es im zurückliegenden realsozialistischen Experiment (1917-1991) autoritäre Züge? Wie konnte dieser wohl erste, ernsthafte Versuch der Etablierung einer gesellschaftlichen Alternative zum System der Habgier so kraftlos in sich zusammenfallen? Wie konnte es geschehen, dass in der Breite die Massen nicht erkannten, dass es ihr Projekt ist, das nun auf der Kippe stand? Wo blieb der entschlossene Widerstand? Könnte es daran liegen, dass viele Menschen in der DDR ihren Staat oft als bevormundend und grenzüberschreitend, also autoritär, empfunden haben?
Was heißt es, Marxist zu sein? Vielleicht dies: Das Ziel, dass der Mensch ganz Mensch sein kann. Die volle, freie Entfaltung der eigenen Potentiale, der Durchbruch zum innerlich ungeteilten Dasein, das Ankommen im eigenen Wesenskern, so dass der Mensch innerlich reich werden kann. Der Mensch, gedacht als Individuum.
Marxismus verstehe ich also als eine Metapher für den Willen zu einer grundlegenden Umwälzung unseres Selbstverständnisses als Menschen. Und dies scheint notwendiger denn je. Denn die Geschichte der organisierten Habgier in den letzten 500 Jahren, beginnend mit der spanischen Eroberung Mittel- und Südamerikas bis in die Gegenwart, würde ich als eine Kultur des Todes bezeichnen. Ein beständig wiederkehrendes Kennzeichen dieser Kultur sind die Exzesse blutiger Grausamkeit gegen jene, die ihrer Bereicherungssucht im Wege waren und sind. Die Maßlosigkeit dieser Lebensform ist es, die letztlich auch den Klimawandel zu verantworten hat.
So möchte ich Marxismus verstehen als ein Eintreten für eine Kultur des Lebendigen.
Der Beginn aller Umwälzung ist die Revolution unserer Art zu denken. Wir sind geprägt vom formallogischen oder mechanistischen Denken, das uns hindert, Gegensätze, aufeinander bezogen und zusammengehörig, als Teile eines Ganzen zu verstehen. Dies jedoch ermöglicht das dialektische Denken. Es ist die Voraussetzung, in der Wirklichkeit anzukommen oder die Strukturen der Wirklichkeit zu erfassen. Deshalb ist das dialektische Denken das lebendige Denken, das sich leider in der westlichen Sphäre nicht durchgesetzt hat. Hier herrscht das mechanistische Denken, in der Tradition des Aristoteles, das abtrennt. Eine geistige Ursache unserer heutigen Umweltkrisen liegt darin, das sich das Lebewesen Mensch eine Scheinwirklichkeit konstruiert hat, im Glauben, abgetrennt und autark von den übrigen Lebewesen agieren zu können. Eine ungeheuerliche Verblendung, und dies zeigt wiederum, wie sehr der kapitalistische Lebensstil gegen das Lebendige wirkt, und damit die Überlebensbedingungen der Menschheit existentiell bedroht.
Im Gegensatz dazu lässt sich die marxistische Weltanschauung des historisch-dialektischen Materialismus als dem Lebendigen zugewandt verstehen. Historisch, weil Geschichte als ein in Bewegung befindlicher Prozess verstanden wird, der alle Erscheinungen in der Natur und Gesellschaft bestimmt. Nichts also ist unwandelbar. Dialektisch, weil in allem immer schon der Gegensatz präsent ist, und der innere Zusammenhang der einzelnen Teile, der Widersprüche erkennbar ist. Materialismus, weil die Produktionsweise unseres materiellen Lebens, also die Art und Weise unserer materiellen Bedürfnisbefriedigung, unseren Lebensstil und unsere Werte maßgeblich bestimmt.
Der Marxismus stellt also einen Paradigmenwechsel in unserem Selbstverständnis als Menschen dar. Nicht mehr die materielle Bereicherung als Sinnstiftung unseres Lebens, sondern die Bejahung unserer Individualität und der Wille zum Entwicklungsweg hin zum Individuum, also zur vollen Menschwerdung, erhält darin Priorität, was uns empathisch und menschlich werden lässt. Die Bereicherungssucht tritt zurück zugunsten der Ermöglichung, lebendig zu werden. Dieses hängt an unserer Fähigkeit, in dem Gesamtzusammenhang von Wirklichkeit anzukommen, und diesen zu verstehen. »Werde ganz«, ein Schlüsselsatz vieler Weisheitslehren. Dieser jedoch bezieht sich auch auf unser Verhältnis zur eigenen, inneren Wirklichkeit. Die dialektische Umwälzung in dieser Hinsicht bedeutet innerlich ungeteilt leben zu wollen, was die Bejahung unserer Widersprüche in uns zur Folge hat. Ein schwieriger Prozess, werden wir doch eher in eine innere Abwehr und Abspaltung der Gegensätze in uns hineinerzogen.
Es bleibt die Aufgabe, alles zu tun, dass unser Leben gelingt, dass wir das verkehrte Leben erkennen.
Fazit:
Der Klimawandel – und die damit verbundene Gefährdung für das Überleben der Menschheit auf dem Planeten Erde – zwingt zur Ursachenerforschung. Wie konnte es soweit kommen? Es ist unbestritten, dass die maßlose Produktion von Gütern mit Hilfe des Einsatzes von fossiler Energie eine der wichtigsten Ursachen dafür ist. Wir wissen ja, dass die Entscheidung für die Produktion einer Ware in erster Linie an die Erwartung einer möglichst hohen Rendite geknüpft ist, weniger an die Notwendigkeit. Die Konzentration auf unsere wirklichen Bedürfnisse hätte als Folge einen schonenderen Umgang mit der Erde und den Menschen. Es wird also viel zu viel produziert, das eigentlich niemand wirklich braucht. Die Werbung dient ja vor allem dazu, künstliche Bedürfnisse zu wecken, damit Wenige kräftige Renditen einfahren können. Hinzu kommt, dass im kapitalistischen System den Menschen ein besitzfixierter Lebensstil aufgedrängt wird, anders ausgedrückt: die Anbetung der Ware oder der Warenfetischismus. Erschreckend ist, in welchen Ausmaß ein so ungeheuer großer Teil unserer Zeit und Energie für eine unnötig ausufernde Warenproduktion absorbiert wird. Kostbare Zeit, die uns Ausgezehrten fehlt für die Entfaltung anderer, legitimer Bedürfnisse. Der Versuch einer Lebenssinnerfahrung durch Wohlstandsmaximierung unter Inkaufnahme eines Raubbaus an Mensch und Natur scheint nun ein Auslaufmodell. Rückblickend auf 500 Jahre organisierte Habgier, sehen wir eine Entmenschlichung der Welt, in der das den Menschen Wärmende – Mitgefühl, Sinn für Gerechtigkeit, Menschlichkeit – immer mehr ausgelöscht wird. Die Sichtbarkeit des verkehrten Lebens schafft Erkenntnisgewinn. Bräuchte es nicht eine radikale Kehrtwendung hin zu einer Lebensweise, die uns lebendig macht? Es ist offensichtlich, dass die entfesselte Habgier eine Kultur des Todes hervorbringt.
Die Vermenschlichung der Welt braucht die Errichtung eines Systems, das die Befriedigung der elementaren Bedürfnisse aller Menschen in den Mittelpunkt stellt, also das Allgemeinwohl durchsetzt. Darauf aufbauend eine Einübung des Verzichts auf maximale Selbstbereicherung mit Hilfe einer Kultur der Selbstbescheidung, die uns fähig macht zum materiell genügsamen Leben, was uns vielleicht die Sicht freigibt für die Erschließung neuer Horizonte, welche die Aura unseres Zusammenlebens positiv verändert. Die Überwindung einer Kultur des gefühllosen Habens könnte systemisch abgerundet werden, indem wir die Eigentumsfrage in Übereinstimmung bringen mit dem gesellschaftlichen Charakter der Warenproduktion, also das gesellschaftliche Eigentum schaffen.
Vom Tod zum Leben. Die grundlegende Umwälzung scheint nötig.
Die Zuschrift von Michael Holzmann schildert eindrucksvoll, wie man heute als humanistisch denkender und fühlender Mensch dahin gelangen kann, mit Marx nach Lösungen für die existenziellen Probleme der Menschheit zu suchen, wohl wissend, dass damit eine ganze Reihe wesentlicher Fragen kaum berührt worden ist. So halten wir die Überlegungen zum Thema gewesener Sozialismus für wenig fundiert. Mit vielem stimmen wir aber überein. Ähnliche Gedanken, Gefühle und Sorgen bewegen auch uns. Deshalb haben wir den Beitrag ausnahmsweise in die Online-Version vom April 2023 aufgenommen. – Redaktion.