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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Ein »hochintelligenter Sachse« – H. S.

Armin Stolper, Berlin

Es passiert ja nicht so oft, dass ein Westmensch, noch dazu ein Publizist, einen Ostmenschen, noch dazu einen Spitzenpolitiker wie Sindermann, derartig lobend hervorhebt, wie dies vor mehr als einem halben Jahrhundert im »Spiegel« geschah. Dies kann derjenige erfahren, der das vorzügliche Vorwort von Egon Krenz liest, das der zu der Autobiographie »Vor Tageslicht« von Horst Sindermann geschrieben hat, die kürzlich bei edition ost erschienen ist. Was ich dazu mitteilen möchte, hat vor allem etwas mit Sindermann selbst und einigen Theaterleuten zu tun.

Als in der zweiten HäIfte der neunzehnhundertsechziger Jahre – aus welchen Gründen auch immer – meine Freunde Wolfram und Schönemann nach dem zu Recht missglückten Experiment des Theaterkombinates Volksbühne/Maxim Gorki Theater gewissermaßen auf der Straße standen, weil sich ihr langjähriger Intendant Maxim Vallentin von ihnen getrennt hatte, ließ sie der damalige Hallenser Bezirksboss Sindermann wissen, dass er sich sehr gut vorstellen könnte, wenn die beiden nach Halle kämen und das dortige Theater übernähmen. Der Hintergrund: Sindermann war offenbar mit der Art von Theaterarbeit nicht recht einverstanden, die der aus der Schule des BE stammende Theatermensch Kurt Veth dort machte. Ich will mich jetzt auf eine nachträgliche Kontroverse mit Sindermann nicht einlassen; immerhin hatte Veth in Halle »Polly« von Peter Hacks zur Uraufführung gebracht, er hatte Kontakte zu Albert Ebert und Willi Sitte geknüpft – es war ein intellektuell anspruchsvolles Theater gemacht worden, das man mögen oder nicht mögen mochte; Sindermann jedenfalls meinte, dass man in der Hauptstadt des Chemiebezirks ein etwas anderes Theater machen müsste, ein volkstümlicheres, ein solches, wie es die beiden Theaterleute, die er ins Visier genommen hatte, am Maxim Gorki Theater jahrelang praktiziert hatten. Damit verband er durchaus nicht ein krudes, anspruchsarmes Eingehen auf die Forderungen des Zeitgeistes, denn wenn man mit ihm sprach, wurde man über die kulturellen, geschichtlichen Ereignisse des Chemiebezirks ausführlich informiert – von den Merseburger Zaubersprüchen, der Reformation, von dem Musiker Friedrich Reichardt, den die Preußen rausgeschmissen hatten, von der Rolle, die Halle zur Zeit der Romantik spielte, und anderem war die Rede. Und selbstverständlich auch von den Traditionen der deutschen Arbeiterklasse, dem »roten Herz Mitteldeutschlands« und den Bedürfnissen »unserer Menschen« in der Gegenwart.

Ein politischer Chefdramaturg

Nu, und dann haben wir losgelegt. Was wir da alles verbrochen haben, will ich jetzt nicht auflisten, aber sagen will ich, dass dieser »hochintelligente Sachse« – wir reden über Sindermann – für uns so etwas wie ein politischer Chefdramaturg gewesen ist. Was wir am Beispiel des 9. Bildes meines Stückes »Zeitgenossen« erlebten, das in eine Fassung gebracht werden sollte, die unseren Zuschauern wie den »führenden Genossen« zusagen sollte, ging auf keine Kuhhaut.

Gottseidank habe ich das reichlich vergilbte Manuskript wiedergefunden, wodurch ich nun genau weiß, was uns dieser H. S. damals mitgeteilt hat. Seine Bemerkungen betrafen eine Stückfassung, die noch in Arbeit war. Man stelle sich einmal vor: Wir wussten noch nicht, wie dieses verrückte 9. Bild – Auseinandersetzung auf höchster moskowitischer Regierungsebene – sich endlich gestalten sollte, da hatte uns unser Bezirksboss seine Ansichten dazu mitgeteilt. Er hatte genau herausgefunden, dass die Masche: Held gegen Ignoranten so nicht überzeugen konnte; er hatte den Finger auf die Wunde gelegt, wenn er die Widersprüchlichkeit der Standpunkte als gleichberechtigt dargestellt wissen wollte. Sindermann also hat mir und dem Theater geholfen, die Dialektik des Vorgangs zu begreifen, so dass wir den Zuschauern keine vereinfachte Lösung zum Lob des Helden zeigten, sondern ein Beispiel dafür gaben, wie solche Entscheidungen richtig gefällt werden. Auf jeden Fall gefällt werden sollten. Er empfahl, den »Mystizismus herauszunehmen und objektive Wahrheiten sagen zu lassen, damit das Problem verstanden wird.«

Ich weiß nicht wie viele Fassungen dies 9. Bildes ich geschrieben habe, um diese berechtigten Forderungen zu erfüllen. Aber wenn ich es heute wiederlese, finde ich es nach wie vor goldrichtig, dem Ratgeber gefolgt zu sein; ein Dutzend Inszenierungen des Stückes, das nach einem sowjetschen Filmszenarium entstand, bewiesen es.

In meinen Unterlagen habe ich noch ein weiteres Dokument aus unseren Hallenser Zeiten gefunden, das Sindermanns »Mitarbeit« an unserem Theater belegt. Es handelt sich um die Aufzeichnung eines Gespräches, das er mit uns am 26. Mai 1970 führte. Mit neuen Eindrücken aus seinen Besuchen in verschiedenen Großbetrieben des Bezirkes versehen, setzte er sich mit uns zusammen und erzählte brühwarm und unzensiert davon. Lese ich die Notizen, die ich damals gemacht habe, bin ich auch heute noch fasziniert von seiner Redeweise. So, als ob er die Geschichten gerade erfahren hatte, reichte er sie an uns weiter. Von Ulbrichts Zusammenkünften in Wolfen mit interessanten wissenschaftlichen Persönlichkeiten wusste er zu berichten. Gelänge es uns, aus solchen Geschichten ein Stück fürs Theater zu machen, wären wir Spitze. Besonders setzte er sich für die jungen Wissenschaftler, die jungen Facharbeiter in den Betrieben ein. »Filmherstellungsverfahren. Alte Technologie aus der Liebig-Chemie. Die Leute rühren in Retorten, gucken durch Reagenzgläser und lutschen am Finger. Alte Technologie ist derart, dass Planübererfüllung eigentlich nutzlos, ja sogar schädlich ist. Heute noch sitzen die Leute in Dunkelkammern und überprüfen mit bloßem Auge die Qualität der Filme. 60% Ausbeute, was nur ein anderer Ausdruck für 40% Ausschuss ist. Aber die alten Wissenschaftler halten die Festung der Liebig-Chemie. Sie verteidigen mit Zähnen und Klauen ihre Monopolstellung des Wissens, verweisen auf den guten Absatz der Filme im Ausland und versuchen die jungen Kader mit Witzen zu ironisieren ... Die jungen Leute haben dieser alten Denk- und Verfahrensweise den Kampf angesagt. Sie kommen von unseren Schulen und suchen nach mathematischen und kybernetischen Lösungen. Vielleicht schießen sie auch übers Ziel hinaus, aber hier liegt die andere, die neue Denkqualität.«

War Sindermann prinzipiell gegen die Alten? In Halle lebte und wirkte der international hochangesehene Prof. Dr. Bethge. AIs wir mit großem Erfolg unsere »Zeitgenossen« gestartet hatten, nahm man an, ich als Dramaturg und Stückeschreiber sei so eine Art Fachmann auf dem Gebiet der wissenschaftlich technischen Revolution. Und wenn ich das in bescheidenem Maße vielleicht war, hatte Sindermann daran eine Aktie. Blicke ich nochmal auf den Brief, den er während der Arbeit an diesem Stück an uns schrieb, erinnere ich mich, wie Edith Brandt, die Hallenser Kultursekretärin, aktiven Anteil an unserer Probenarbeit nahm, verstehe ich, warum Sindermann alle Hauruck-Lösungen, alle Personenkultismen um den Helden, der den Stopp des Riesenwerkes in Sibirien auf eigene Faust verursacht hatte, ablehnte. Dass der Verschleiß auch mit neuester Technik innerhalb kurzer Frist stattfand, und dass dafür Lösungen und zwar die richtigen gefunden werden mussten, davon war dieser »Politbürokrat« (wie manche Wendegewinner solche Leute im Nachhinein benannten), zutiefst überzeugt.

Sindermann machte mich auch auf den eben genannten Prof. Dr. rer. nat. habil. Heinz Bethge aufmerksam, der Akademiemitglied, Forschungsdirektor des Institutes für Festkörpertechnik und Elektronenmikroskopie im Zentralinstitut für Festkörperphysik und Werkstoffforschung war, aufmerksam, und als mich eines Tages die Zeitschrift »Spektrum« bat, über diesen international bekannten Mann ein Porträt zu schreiben, sagte ich zu.

(Weeßte, mein lieber Horschte, worauf ich heute noch ee bissl stolz bin? Dass ich diese Epistel noch immer lesen kann ohne sagen zu missen: was haste da bloß fier een Schmarren geschrieben, und dass ich froh bin, durch dich eene solche Kapazität wie den Bethge kennengelernt zu haben, dem seine Tochter, nach der Tätigkeit ihres Papas befragt, gemeent hat: Er untersucht Krümelchen.)

Gute Politik – der Kunst nützend

Ja und dann waren die Hallenser sozusagen dem Sindermann dorthin gefolgt, wo der schon vor ihnen vor Anker gegangen war: nach Berlin. Und als wir, die neue Leitung am Deutschen Theater, so gar nicht zu Rande kamen mit der Kompliziertheit der dortigen Arbeit, erinnerte sich der jetzige Vorsitzende des Ministerrates an unsere gemeinsame Arbeit auf dem Sektor Kultur in Halle. Das sah hier alles anders aus, wir konnten uns nicht auf ein Ensemble stützen, das im Wesentlichen die von uns als richtig benannte Linie als die seine empfand und dafür eintrat. Am DT waren wir mit drei bis vier Gruppierungen konfrontiert, die alle mehr oder weniger ein eigenes Programm verwirklichen wollten, wie es ihre Regisseure und die mit ihnen verbundenen Dramaturgen vorgaben. Die schwächste Position hierbei vertrat der starke Mann aus Halle, nämlich Schönemann. In einem mehrseitigen Brief an uns analysierte Sindermann die kulturpolitische Situation der DDR und die Aufgaben, die sich daraus für das Staatstheater der Republik ergaben. Aus ihm sprach aber auch der übertriebene historische Optimismus, wenn er schrieb: »In dieser Situation haben wir auf allen Gebieten die Überlegenheit erreicht, nicht nur historisch gesehen, sondern praktisch, im Heute schon. Ökonomisch und auch kulturell haben wir endgültig und für immer die Initiative in die Hand genommen.«

Von dieser Warte aus polemisierte er gegen alle intellektuelle Schwarzseherei, die er auch in einigen Stücken von Gegenwartsautoren in unserem Spielplan ausmachte. Er ermunterte uns, das Stück »Die Lachtaube«, das Helmut Baierl in unserem Auftrag zum 25. Jahrestag der DDR geschrieben hatte, und dem wir die Aufführung schuldig geblieben waren, weil es uns – besonders aber unserem Regisseur Schönemann – als zu leichtgewichtig, ja sogar als schönfärberisch erschienen war, uns doch noch einmal anzusehen; für ihn hatte es poetische Qualitäten, die wir nicht leichtsinnig mit der Ablehnung des Stückes opfern sollten. Während seiner Kur in Dierhagen las er »mit großem Eifer« das neue Buch »Die unheilige Sophia« seines Dresdner Landsmannes Eberhard Panitz. »Eine tolle Fabel« ließ er uns wissen. »Gen. Stolper soll es sofort lesen, mit Panitz sprechen ... Die Betrachtung unseres Weges vom heutigen Standpunkt aus, dargestellt an einer herrlichen Frauenfigur, einer blutvollen Frauenfigur! Man müsste es versuchen!«

Sindermann schrieb: »Lieber Gerhard, lieber Horst, ich schulmeistere wahrscheinlich schon wieder. Der Grund ist, dass ich mir Gedanken mache und Euch gern behilflich sein möchte. Ich bin kein Künstler, aber wahrscheinlich kein schlechter Politiker. Und die sind für den Künstler auch noch zu etwas nütze.«

Schreibt so, könnte man fragen, ein Politbürokrat? Und hatte er, was das Buch von Panitz anging, nicht völlig recht? Der zweiteilige Fernsehfilm von Wekwerth mit der großartigen Renate Richter als unheiliger Sophia erbrachte den Beweis. Der Brief aus Dierhagen endete mit Kritik an den Maßnahmen zu seiner Gesundung und dem Bekenntnis zu seiner sonstigen ungesunden Lebensweise, mit den Worten: »Inge und Horst in großer Freundschaft zu Euch!«

Starke und schwache Seiten, menschliche und sächsische Vielfalt

Erst jetzt ist mir bewusst geworden, auch durch seine Autobiographie, dass Sindermann ein Sachse war, ein Dresdner. In Halle habe ich das nicht wahrgenommen, ich hörte keinen Dialekt.

Als er sechzig wurde, bat mich das »Magazin« um einen Text, in dem ich ihn in seinen menschlichen Seiten beschreiben sollte. Ich unterschlug nicht, dass wir uns mit ihm auch zanken konnten, weil wir in Kunstfragen, auch bei der Einschätzung von Künstlern, Schriftstellern wie Regisseuren, unterschiedlicher Meinung sein konnten. (Ich denke da an Besson, an O'Casey.) Ich schrieb von der Tragödie des Flugzeugabsturzes von Peter, dem Sohn, der am Hallenser Theater als Schauspieler engagiert war.

Und was geschah? Genauso wie Sindermann uns zur Hallenser Zeit befahl, das Stück »Landshuter Erzählungen« von Sperr aus dem Spielplan zu nehmen und er verhinderte, dass »Yerma« von Lorca zur Aufführung gelangte – beide Male war Christoph Schroth der Regisseur – genauso erging es meinem Geburtstagspamphlet für ihn. Die Redaktion des »Magazin« teilte mir mit, dass auf Grund höherer Weisung ein solcher Text über ein Politbüromitglied auf ihren Seiten nicht erscheinen dürfe. Wer ihn dennoch lesen will, besorge sich mein Spotless-Buch »Auf den Bäumen trägt man Frack«, das ich zum 50. Jahrestag der DDR, also im Jahr 1995, herausgab; dort ist der Vorsitzende des Ministerrates Sindermann, zusammen mit einem Dutzend anderer Leute als Zeugen für die menschliche Vielfalt unserer DDR-Bürger zu erleben, wie ich ihn, wie ich sie erlebt habe. Lange bevor er am Ende der DDR in »Untersuchungshaft« geriet.

Man sollte aber vor allem die zwar unvollständig gebliebene Autobiographie dieses »hochintelligenten Sachsen« lesen. Unsere führenden Genossen hatten starke und schwache Seiten, sie hatten im Faschismus ihr Leben eingesetzt und machten beim Aufbau einer neuen Gesellschaftsordnung auch Fehler.

Mitunter wurden sie von den eigenen Leuten des Verrates beschuldigt. Und ihre Urteile über ihre Mitgenossen waren auch nicht immer frei von unbewiesenen Behauptungen. Aber sie waren nicht die Götzen und Götzendiener, zu denen sie der bundesrepublikanische Mainstream machen will, dessen Vertreter unsere Spitzenleute ins Gefängnis brachten, nachdem für sie bei Staatsbesuchen in Bonn der rote Teppich ausgerollt worden war.

Übrigens: der Regisseur unserer »Zeitgenossen«-Aufführung in Halle war Christoph Schroth. Auch ein Sachse, mit dem ich jahrelang beim Dorftheater Wartenberg und dem Arbeitertheater Berlin-Weißensee, am Gorki Theater und an der Volksbühne bei der Uraufführung der Komödie »Moritz Tassow« von Peter Hacks zusammengearbeitet hatte, bevor wir, die Berliner, gemeinsam mit Wolfram, Schönemann, Böwe, Silberstein, Tews, Uschi Werner nach Halle gegangen waren.

»Moritz Tassow« wurde damals von dummen Politbürokraten nach 9 Vorstellungen an der Volksbühne abgesetzt. Christoph Schroth brachte die Komödie später am Mecklenburgischen Staatstheater Schwerin, wohin er als Schauspieldirektor gegangen war, mit eher mäßigem Erfolg zur Aufführung. Der Sachse Kurt Veth war von Halle aus an das Maxim Gorki Theater gegangen, das nach der missglückten Vereinigung mit der Volksbühne wieder zu seiner eigenständigen Existenz unter der alten und neuen Intendanz von Maxim Vallentin zurückgekehrt war. Als er dort das Stück »Der Stern wird rot« von Sean O'Casey inszenierte, war ich, weil ich noch alte Vertragsverpflichtungen aus meinem Engagement am Kombinat Volksbühne/Maxim Gorki Theater zu erfüllen hatte, sein Dramaturg. Bei dessen Premiere war Maxim Vallentin schon in den Ruhestand getreten, und sein Nachfolger war Albert Hetterle geworden. Mit Veth habe ich dann, trotz meiner Arbeit an meinen neuen Stücken, die in Halle zur Uraufführung kamen, noch den Gorki-Abend zum 100. Geburtstag des Dichters gemacht, als deren Mitarbeiter wir Paul Dessau und Willi Sitte gewinnen konnten. Unsere Schauspieler Lotte Loebinger, Marga Legal, Katja Paryla, Jochen Thomas, Klaus Manchen, Hermann Beyer und Christoph Engel waren große Klasse; ihnen war es zu verdanken, wenn auf der Bühne ihres Namenspatrons seitdem ein frischer Wind durch den Zuschauerraum blies, wenn dessen Name auf dem Spielplan stand. In diese Arbeit bin ich noch heute verliebt und das ist jetzt vierzig Jahre her.

Übrigens: Sachsen können sehr unterschiedliche Leute sein, wie wir es gerade heute – 2015 – erleben. Ich bin kein Sachse, aber mit einer Dresdnerin seit mehr als sechzig Jahren verheiratet. Und ohne den Sachsen Klaus Eidam, den damaligen Chefdramaturgen der Landesbühnen Sachsen in Dresden-Radebeul, bei dem ich 1953 mein erstes Praktikum machte, wäre ich nie Dramaturg und schon gar nicht Verfasser von Theaterstücken geworden.