Ein anderer 11. September
Egon Krenz, Dierhagen
Aktenverwalter wollen herausgefunden haben, daß sich das SED-Politbüro auf seinen Sitzungen bis 1989 50 Mal mit der Situation in Chile befaßt habe. Dies dürfte – wie so vieles aus den heute vorwiegend westdeutsch interpretierten Akten der DDR – nur die halbe Wahrheit sein. Tatsächlich verging seit dem Sieg der Unidad Popular [Die Unidad Popular war ein breites politisches Bündnis linker Parteien und Organisationen, dem unter anderen die Sozialistische und Kommunistische Partei, die Radikale Partei sowie von der Christdemokratischen Partei abgespaltene Linksparteien angehörten. Der Sozialist Salvador Allende war ihr Präsidentschaftskandidat.] im September 1970 kaum eine Sitzung des Politbüros oder der Regierung, auf denen nicht Fragen erörtert wurden, die mit der chilenischen Situation zu tun hatten (Auch wenn sie aus unterschiedlichen Gründen, oft auch wegen der unumgänglichen Geheimhaltung, nicht immer schriftlich dokumentiert sind). Das Chile der Unidad Popular war für die DDR und die meisten ihrer Bürger etwas Außergewöhnliches, etwas Aufsehenerregendes, etwas ganz Besonderes. Das hatte viele Ursachen:
In eine neue menschliche Gesellschaft
Zum ersten Mal gewann ein linkes Bündnis mit einem Sozialisten als Präsidentschaftskandidat die Wahlen. Salvador Allende übernahm am 5. November 1970 das höchste Amt im Staate. Bei den Kommunalwahlen im März 1971 erreichte die Unidad Popular sogar die absolute Stimmenmehrheit. "Wir werden uns auf den Weg zum Sozialismus begeben, ohne Bruderkrieg und Blutvergießen", hatte Allende im Wahlkampf versprochen. Zwar gab es in der kommunistischen Weltbewegung keine einheitliche Position, ob dies angesichts der Gegenwehr des Imperialismus überhaupt möglich sei. Doch die chilenische Entwicklung erschien wie ein klassisches Beispiel für den friedlichen Übergang zum Sozialismus. Das veränderte internationale Kräfteverhältnis zugunsten des Sozialismus, so die damalige Bewertung, würde es ermöglichen, auch friedlich durch Wahlen an die Macht zu kommen und zum Sozialismus zu gelangen. Bei einem Treffen Walter Ulbrichts mit Luis Corvalán, dem Generalsekretär der Chilenischen Kommunisten, am 30. April 1971 in Berlin drückte der DDR-Repräsentant die Freude darüber aus, daß in Chile "der demokratische Weg zum Sozialismus eingeschlagen wird". [Stenographische Niederschrift eines Gesprächs zwischen Walter Ulbricht und Luis Corvalán am 30. April 1971 in Berlin.] Dies sei, so sein Fazit, eine "große Sache von gewaltiger internationaler Bedeutung". [Ebenda.] Die Praxis schien zu bestätigen, daß Sozialismus möglich ist ohne bewaffneten Kampf. Nach Kuba, so dachten damals viele, würde nun auch Chile Schritt für Schritt sozialistisch. Allende selbst hatte mit seiner Rede zum Amtsantritt am 5. November 1970 diesen historischen Optimismus begründet. Chile, so der Präsident, habe der Welt ein Beispiel gegeben, daß eine antikapitalistische Bewegung in der Lage sei, "die Macht in Wahrnehmung der verfassungsmäßigen Rechte der Bürger zu ergreifen, um das Land in eine neue, menschliche Gesellschaft zu führen, deren große Ziele sinnvolle Ordnung der wirtschaftlichen Verhältnisse, fortschreitende Vergesellschaftung der Produktionsmittel und Überwindung der Klassenspaltung sind …". [Aus der Rede von Dr. Salvador Allende zum Amtsantritt als Präsident Chiles am 5. November 1970.] Eine geradezu klassische Formulierung für einen demokratischen Sozialismus!
Die ersten Schritte der Volksregierung waren ermutigend. Sie stimmten jeden Sympathisanten hoffnungsvoll: Die wichtigsten Bodenschätze wurden nationalisiert. Die Nationalisierung, darunter der Kupferbergwerke, erfolgte unter Beachtung der inneren Rechtsordnung und der Normen des Völkerrechts. In Angriff genommen wurde eine Agrarreform. Durch Aktienaufkäufe erwarb die Regierung die Mehrheit an den Privatbanken. Ein Sozialprogramm, das bis heute einmalig ist, sollte die Lebenslage der Werktätigen verbessern. Jedes Kind erhielt kostenlos pro Tag einen halben Liter Milch, die Mindestlöhne wurden verdoppelt, Preise für Strom und Haushaltsgas sowie Transporttarife wurde eingefroren. Ein Programm zum Bau von 100.000 Wohnungen wurde begonnen. Die Menschen erkannten: Wahlprogramm und Taten der Regierung stimmen überein. So etwas hatte es in Chile niemals zuvor gegeben. Was für die Arbeiter und Bauern eine große Errungenschaft war, das war in den Augen der Konzerne die größte Sünde der Regierung. Sie hatte sich am Großkapital und am Großgrundbesitz vergangen, indem es die wichtigsten Zweige der Volkswirtschaft verstaatlicht hatte. So etwas verzeiht der Imperialismus nie, nicht in Europa und besonders nicht in Lateinamerika, wo nach seinem Willen das Beispiel Kuba nicht Schule machen darf.
Konnte die innere Reaktion zusammen mit den USA den Wahlsieg Allendes nicht verhindern, so taten sie in der Folge alles, um die Volksregierung zu stürzen, mit Terror und Gewalt genauso wie mit Lüge und List. Während die Unidad Popular über die Präsidialmacht und die Regierung verfügte, hatte die Reaktion noch eine Mehrheit im Parlament, die Herrschaft über die Massenmedien und die Justiz. Über die Haltung der Armee gab es unter den führenden Köpfen der Unidad Popular wohl die größten Illusionen. Sie waren stolz darauf, daß in den 160 Jahren, in denen die Republik bestand, die Armee nur einmal aus den Kasernen heraus in das gesellschaftliche Leben eingegriffen hatte. Sie vertrauten auf die Loyalität der Generalität und ihre Verfassungstreue auch noch, nachdem am 22. Oktober 1970 ihr Oberbefehlshaber, General Renè Schneider, ermordet worden war, weil er sich der imperialistischen Forderung nach einem Putsch nicht beugte. Corvalán hatte diese komplizierte innenpolitische Situation im Gespräch mit Ulbricht auf den Nenner gebracht:
Demokratie, Profit und Macht
"Wir haben die Regierung erobert, nicht aber die politische Macht." [Gespräch Ulbricht/Corvalán, 30. April 1971.] Vor der UNO-Vollversammlung klagte Allende im Dezember 1972 die finanziell-ökonomische Blockade durch die imperialistischen Länder, die Weltbank und den Internationalen Währungsfonds an. Er sprach von einer Untergrundattacke, die "ein versteckter und verschleierter Angriff (sei), der aber für Chile nicht weniger gefährlich ist als die offene Aggression". [Rede von Präsident Allende vor dem Plenum der XXVII. UNO-Vollversammlung am 4. Dezember 1972.] Die unheilige Allianz von US-Regierung, CIA und innerer chilenischer Konterrevolution organisierte politische Morde, Terroranschläge auf Eisenbahnlinien, Brücken und Hochspannungsleitungen. Chaos sollte herrschen im Lande.
Erich Honecker, seit Mai 1971 Erster Sekretär des SED-Zentralkomitees, erhielt in dieser schwierigen Situation vom MfS die Information, daß in Chile ein Militärputsch unmittelbar bevorstehe. Es waren mutige Kundschafter der DDR [Nach dem Anschluß der DDR an die Bundesrepublik wurden die Brüder Spuhler, die mit der HVA des Ministeriums für Staatsicherheit der DDR zusammen gearbeitet hatten, zu 10 bzw. 5 ½ Jahren Haft verurteilt.] in den Reihen des Bundesnachrichtendienstes, die diese geheime Botschaft, die eigentlich für die Bundesregierung bestimmt war, an die DDR weiterleiteten. Obwohl Honecker sie unmittelbar nach Chile weitergab, vertraute die Regierung weiterhin der Verfassungstreue der Militärs. Wie wir heute wissen, hat auch Fidel Castro in diesen Tagen in einem vertraulichen Brief an Allende Wachsamkeit angemahnt.
"… vergiß keinen Augenblick", schrieb er, "die riesige Kraft der chilenischen Arbeiterklasse und die energische Unterstützung, die sie Dir in allen schwierigen Augenblicken gegeben hat. ... Der Feind muß wissen, daß die Arbeiterklasse auf die Lage aufmerksam gemacht wurde und zur Aktion bereit ist." [Aus einem Brief Fidel Castros an Salvador Allende vom 29. Juli 1973, junge Welt, 26. Juli 2008.]
Wenn demokratische Sozialisten die Einheit von Sozialismus und Demokratie betonen, sollten sie nie vergessen, daß dies immer im Zusammenhang mit dem internationalen Kräfteverhältnis, mit dem Charakter des Staates und dem Klassenkampf steht. Wenn es um Profit und Macht geht, gelten für imperialistische Staaten und ihre Politiker weder Menschenrechte noch Verfassungstreue und schon gar nicht die von ihnen so viel gepriesene Demokratie. Dies alles und die in freien Wahlen durch das Volk gewählte Regierung Allendes wurden am 11. September 1973 durch einen Militärputsch unter Leitung von Pinochet im Blut ertränkt. Inspirator und Organisator des Putsches waren die Regierung und die Geheimdienste der Vereinigten Staaten von Nordamerika. Lange bevor der Terror in die USA selbst kam, haben sie ihn exportiert. Später, am 11. September 2001, kam in ihr Land zurück, was die USA in Jahrzehnten weltweit gezüchtet hatten. In seiner letzten Rundfunkrede am 11. September 1973 aus dem Präsidentenpalast hatte Allende gesagt: "Sie haben die Gewalt, sie können uns unterjochen, aber die sozialen Prozesse kann man weder durch Verbrechen noch durch Gewalt aufhalten. Die Geschichte ist unser, sie wird von den Völkern geschrieben." Bei der Verteidigung des Präsidentenpalastes fiel Allende. Es gibt Leute, die sagen, sein Tod sei Mord. Andere behaupten, Allende habe seinen letzten Schuß auf sich selbst abgegeben, um nicht in die Hände der Putschisten zu fallen. Ein medizinisches Gutachten hat die Junta meines Wissens nie veröffentlicht. Wie auch immer: Die Schuld an seinem Tod tragen die USA und die von ihnen ausgehaltenen Putschisten.
Imperialistischer Terror und Solidarität der DDR
Die Junta ließ verkünden, sie wolle "das Vaterland vom marxistischen Joch" befreien. Was das konkret bedeutete, haben über 100.000 Chilenen [Bericht über Politische Haft und Folter in Chile.] am eigenen Leibe durch Terror, Verschleppungen, Folterungen, Gefängnis und Tod bitter erfahren müssen. Das Land wurde von Konzentrationslagern überzogen. Symbolisch für alle steht hier das Schicksal von Víctor Jara. Der kommunistische Sänger und Musiker wurde in das größte Konzentrationslager der Hauptstadt, ins Nationalstadion verschleppt. Dort brachen ihm die Häscher die Hände, damit er nicht mehr Gitarre spielen konnte. Als er die Hymne der Unidad Popular "Venceremos" – "Wir werden siegen!" – anstimmte, wurde er brutal zusammengeschlagen und erschossen. Der KP-Generalsekretär Corvalán wurde auf eine KZ-Insel verschleppt. Gladys Marín, die Vorsitzende des Kommunistischen Jugendverbandes und spätere Generalsekretärin der Kommunistischen Partei, verlor ihre Kinder und ihren Ehemann. Als sie 1974 befreit wurde und illegal aus Chile ausreiste, erlebte sie eine überwältigende Reise der Solidarität durch Bezirke der DDR. Luis Corvalán kam im Dezember 1976 im Austausch gegen einen sowjetischen Dissidenten frei. In einigen Kommunistischen Parteien wurde kritisiert, daß ein Kommunist gegen einen Dissidenten getauscht wurde. Doch, wäre es denn eine Alternative gewesen, wenn Corvalán das gleiche Schicksal hätte erleiden müssen wie Víctor Jara? Ich habe damals geantwortet: Wie glücklich wären deutsche Kommunisten gewesen, wenn zwischen 1933 und 1945 die Sowjetunion die Möglichkeit gehabt hätte, Ernst Thälmann zu befreien! Heute können wir auch offen über Dinge sprechen, die damals aus Gründen der Sicherheit nicht bekannt werden durften: Unter Einsatz ihres eigenen Lebens haben DDR-Bürger, besonders Mitarbeiter des Ministeriums für Staatsicherheit der DDR, chilenische Genossen außer Landes gebracht. Fast abenteuerlich war die Befreiung des Generalsekretärs der Sozialistischen Partei, Carlos Altamirano, über Argentinien. Ich erinnere mich an eine FDJ-Kundgebung im alten Berliner Friedrichtstadtpalast am 28. Januar 1974. Als Altamirano damals seine erste Rede in Freiheit hielt, wußten die wenigsten, daß er erst gerade in der DDR angekommen war. Genossen des MfS hatten seine Flucht organisiert. Solche Leistungen zur Rettung von verfolgten Menschen werden heute offiziell verschwiegen. Sie passen nicht in das staatlich verordnete Bild vom MfS.
Die USA waren die ersten, die die Junta anerkannten und unterstützten. Aus der BRD ist überliefert, daß der ehemalige CDU Generalsekretär Bruno Heck die Situation im Konzentrationslager im Nationalstadion mit den Worten kommentiert haben soll: "Bei sonnigem Wetter ist das Leben im Stadion recht angenehm." In übler Erinnerung ist die Verharmlosung der faschistischen Gewalt durch Franz-Josef Strauß: "Angesichts des Chaos, das in Chile geherrscht hat, erhält das Wort Ordnung für die Chilenen plötzlich wieder einen süßen Klang." [Bayernkurier vom 22. September 1973.]
Allendes Chile und Solidarität der DDR dagegen gehören zusammen. Es gibt unterschiedliche Angaben über die Zahl chilenischer Emigranten in der DDR. Genannt werden häufig 5.000. Nach meiner Erinnerung waren es weit mehr. Bürgerliche Medien tun heute so, als wären die chilenischen Emigranten isoliert gewesen in der DDR. Ich schließe nicht aus, daß sich einzelne so gefühlt haben. Andererseits sprach kürzlich die heutige chilenische Präsidentin, die auch im DDR-Exil lebte, davon, daß sie hier die schönste Zeit ihres Lebens hatte. Antiimperialistische und antifaschistische Solidarität, das beweisen auch soziologische Untersuchungen, waren eine Grundstimmung der DDR-Bürger. In Berlin hatte zudem die Auslandsleitung der Sozialistischen Partei ihren Sitz, geführt vom Außenminister der rechtmäßigen chilenischen Regierung, Clodomiro Almeyda. Unser Kontakt zu den chilenischen Kommunisten, die ihren Auslandssitz in Moskau hatten, war über die Jahre besonders eng. Auch ich traf mich mit Luis Corvalán und mit der leider viel zu früh verstorbenen legendären Gladys Marín. Medien verbreiten gelegentlich die Legende, Chile sei in der DDR "Chefsache" gewesen, weil Erich Honecker einen chilenischen Schwiegersohn gehabt hatte. Daß auch Kommunisten nicht frei von verwandtschaftlichen Bindungen sind, mag auch in der Familie Honecker eine Rolle gespielt haben. Wer unsere solidarische Verbundenheit mit in Not geratenen Menschen aber darauf reduziert, versteht nicht, daß die internationale und die Solidarität untereinander zur Weltanschauung von Kommunisten gehören. Unvergessen bleibt mir, daß beispielsweise auf Jugendkundgebungen nach dem Lied "Venceremos" spontan die Hymne der Spanienkämpfer "Spaniens Himmel breitet seine Sterne" angestimmt wurde. Das "Non pasarán" der spanischen Volksfront und das "Venceremos" der Unidad Popular wurden in einem Atemzug genannt, obwohl sie aus verschiedenen Zeiten stammten. Daß Erich Honecker seine letzte Ruhe in Chile fand, hängt sicher auch damit zusammen, daß dort die drei Worte Deutsche Demokratische Republik auch an internationale Solidarität erinnern.