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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Drei Leben einer kleinen, großen Frau

Gina Pietsch, Berlin

 

Esther Bejarano zum 100. Geburtstag 
Eine Hommage

 

Floh hat man sie manchmal genannt und Krümel, weil sie so klein war. Dabei, welch ein großes Leben. Welche Leiden, welche Freuden, welche Kämpfe bis zum 10. Juli 2021? Fast hätte sie die 100 geschafft. Am 15. Dezember dieses Jahres wäre das gewesen.

Wir haben früher ein wirklich schönes Leben gehabt in den jüdischen Gemeinden. Mein Vater war Kantor. Wir haben einen koscheren Haushalt geführt, obwohl meine Familie sehr liberal war. Mit der Religion habe ich nichts zu tun. Aber kulturell hat mir das Aufwachsen in einem jüdischen Elternhaus viel gebracht. Die Liebe zur Musik; ich bin nicht zufällig Sängerin geworden.

Die Stationen bis zur Sängerin sind anrührend, oft grausam. 1934: Esther Loewy muss mit anderen jüdischen Kindern in Saarbrücken aus der allgemeinen in eine neu gegrün­dete jüdische Schule, der Vater versetzt nach Ulm, später nach Breslau.

Die schlimmen Erlebnisse ihres »zweiten Lebens« können hier nicht erzählt werden. In der »Kristallnacht« 1938 wird ihre Schwester Ruth so zusammengeschlagen, das sie kaum laufen kann. Als die Nazis Esther ein Erinnerungsbild wegnahmen und sie in Trä­nen ausbricht, kommt vom Polizisten: »Jetzt hab dich nicht so, du wirst noch Schlimme­res erleben.« Und sie erlebten, müssens aber aushalten, da zum Auswandern keine Ersparnisse. Das Angebot der Nazis an den Vater, sich durch Scheidung von seiner jüdi­schen Frau vor dem Transport zu retten, lehnt er ab.

Ich wusste zunächst nicht, wie meine Eltern umgekommen sind; Und wenn ich mir vor Augen führe, dass meine Eltern sich in einem Wald nackt ausziehen mussten, man sie mit anderen Opfern in einer Reihe aufgestellt, dann einfach abgeknallt hat und sie dann in einen Graben gefallen sind – das ist für mich das Schlimmste und viel grauen­hafter als all das, was ich in Auschwitz erlebt habe.

Auschwitz beginnt für sie am 20. April 1943 mit SS-Frauen und SS-Männern: »So, Ihr Saujuden, jetzt werden wir euch mal zeigen, was arbeiten heißt«, Haare geschoren als Nummer 41948, Schlafen auf nacktem Holz in den Kojen mit 8 bis 10 Frauen. Das »Scheißhaus« – eine ellenlange Holzstange ohne Haltemöglichkeiten, gefährlich für klei­ne Frauen (Esther war 1,47). Viele fielen in die Grube. Furchtbar eklige Tode. Sinnlose Arbeit auf dem Feld. Schwere Steine zusammentragen. Todesgefahr, täglich, unbere­chenbar, in unausdenkbaren Varianten. Da ist Hauptscharführer Otto Moll:

Ich sehe, wie er mit seinen auf Menschen abgerichteten Bluthunden stolz durch die Lagerstraße spazierte. Wenn ihn die Lust überkam, griff er sich eine Frau und ließ sie von den Hunden zerfetzen.

Tod allgegenwärtig:

Ich hab Freundinnen gehabt, die sind dann an den Stacheldraht gegangen, hängen geblieben und waren tot. Wir haben sie da weggezogen von dem Stacheldraht. Das war nicht einfach ... man kann es nicht erzählen.

Die Ängste, so etwas zu beobachten, sind vorstellbar, aber nur bedingt. »Ich hatte immer Glück im Unglück«, so Esther. Damals war ihr großes Glück ein Akkordeon, bes­ser, das Angebot, das zu spielen im Mädchenorchester Auschwitz. Esther kann nur Kla­vier, rettet sich in die Lüge, spielt auf Geheiß der Orchesterleiterin »Du hast Glück bei den Fraun, Bel Ami«. Nun also lebensrettende Privilegien, Unterkunft, Verpflegung, Behandlung betreffend. Der Preis: Sie mussten spielen, wenn die Häftlinge zum Stein­bruch gingen oder zurückkamen, bei der Ankunft der Züge und vorm Gang ins Gas.

Als die Menschen in Zügen an uns vorbeifuhren und die Musik hörten, dachten sie sicher: wo Musik spielt, kann es ja nicht so schlimm sein. Wir haben gezittert und geweint, du wusstest, die gehen jetzt ins Gas und du musst da stehen und musst spie­len. Das Schlimmste, was ich je erlebt hab; dort zu stehen und zu spielen, während die Züge zu den Gaskammern fuhren ...

Wieder ein Stückchen Glück dann, da wegen ihrer christlichen Großmutter ein Viertel arisch. So wird sie im November 1943 mit 70 anderen Frauen verlegt nach Ravens­brück. Nach vier Wochen Quarantäne und einem Monat Schwerstarbeit durch Kohlen­aufladen lässt Siemens sie, als eine der dortigen 42.000 Zwangsarbeiter und 18.000 Gefangenen aus Konzentrationslagern mittun beim Bauen von Schaltern für Untersee­boote. Hier bietet sich Sabotage an. Kleine Federn mussten »nur« ein bisschen falsch zusammengebaut werden. Ihre Freundinnen jubeln, als Lastwagen mit den nicht funk­tionstüchtigen Schaltern zurückkommen. 1945 flieht sie mit diesen Freundinnen zusammen bei einem Todesmarsch vom KZ-Außenlager Malchow nach Bergen-Belsen. Dort erfährt sie vom Mord an ihren Eltern und der Flucht ihrer Schwester Tosca nach Palästina. Als die Alliierten immer näher rückten, geht Loewys – so heißt sie ja immer noch – Flucht weiter, bis sie endlich in Lübz die Befreiung durch sowjetische und ameri­kanische Truppen erlebt. Einem amerikanischen Soldaten erzählte sie vom Orchester in Auschwitz. Er schenkt ihr ein Akkordeon. Esther spielt es. Sie tanzen um ein ange­branntes Hitlerbild. Das Glück ist unermesslich.

Es gibt Leute, die sagen, nach Auschwitz kann man keine Musik mehr spielen und kom­ponieren, keine Bilder mehr malen, keine Gedichte mehr schreiben. Das stimmt alles nicht. Im Gegenteil, man muss Musik machen, und ich bin so froh, dass ich heute sol­che Musik machen kann, die uns hilft, zu erinnern und nachzu­denken. Das Leben geht weiter und man muss was tun, damit solche Verbrechen nicht wieder passieren.

Man muss was tun

15. September 1945 Ankunft in Haifa. Bis sie dort ihren Wunsch wahrmachen kann, Gesang zu studieren, sind zwei Jahre Arbeit im Kibbuz verlangt. Dann bei der Arbeit in einer Zigarettenfabrik trifft sie auf viele Rechtsradikale. »Hitler hat vergessen, dich zu vergasen«, muss sie sich anhören. Andere Erlebnisse sind schlimmer. Wegen Mit­gliedschaft im Arbeiterchor Ron, dessen Leiter Kommunist ist, Ablehnung von der Offi­ziellen Künstlervermittlung. Das zieht wirtschaftliche Nachteile nach sich. Sie arbeitet als Musiklehrerin, in Kindergärten, Schulen und einer eigenen Blockflötenschule. An eine staatliche Unterstützung als Auschwitzüberlebende ist nicht zu denken.

Im Gegenteil. Dass wir im KZ überlebt hatten, hat man uns übel genommen. Da waren Leute, die gesagt haben: Wenn die überlebt haben, dann bestimmt, weil sie mit den Nazis zusammengearbeitet haben.

Und doch spricht sie immer wieder von Glück. Einer, der ihr »ganz großes Glück« brach­te, war Nissim Bejarano, den sie am 23. Juni 1950 heiratete und mit ihm 1951 Tochter Edna und 1952 Sohn Joram bekommt. Nissim war Fernfahrer.

Mein Mann Nissim wollte unbedingt aus Israel weg, obwohl er in Israel geboren war. Da waren nun Kriege gegen die Palästinenser, und Nissim wollte da nicht mitmachen. … Im Sinaikrieg sagte er, jetzt ist Schluss.

Und Esther dann später:

Man schaue sich nur heute die Regierung an. ... Es ist die schlimmste Regierung die wir je hatten in Israel. Dieser Netanjahu ist ein Faschist. ... So lange solche Leute an der Macht bleiben, glaube ich, dass ein Frieden dort nie möglich wird.

1. Juni 1960 Ankunft in Hamburg. Und da? Nissim erlebt nach einem Arbeitsunfall aus­länderfeindliche Behandlung im Krankenhaus. Schlimmeres muss ausgehalten werden. Beider politische Haltung machen Auswanderung nach Amerika oder Rückkehr nach Israel nicht möglich. Nissim wird erpresst, soll einen Artikel in die Zeitung setzen, in­dem er sich als Gegner der Sowjetunion zeigte. Nissim lehnt ab. Esthers Quintessenz:

Die BRD kann meine Heimat nicht sein, weil noch zu viele Nazis hier herumlaufen. Isra­el könnte meine Heimat werden, wenn Israelis und Palästinenser gemeinsam in einem Staat leben würden. Ob wir das noch erleben werden?

Seit 2009 war sie das älteste Mitglied einer Rap-Band, Microphone Mafia. Innerhalb von nur drei Jahren spielte die Band zusammen mit Esther und ihren Kindern mehr als 170 Konzerte. Als 2021 der VVN, deren Ehrenvorsitzende sie bis zuletzt war, die Gemein­nützigkeit entzogen wurde, schrieb sie an den damals noch Finanzminister Olaf Scholz:

Das Haus brennt und Sie sperren die Feuerwehr aus.

Und denkt:

Wer gegen Nazis kämpft, kann sich auf den Staat nicht verlassen.

Bei einem ihrer letzten öffentlichen Auftritte am 3. Mai 2021 bekräftigte sie ihre Forde­rung, dass der 8. Mai in Deutschland ein Feiertag werden solle. Ihre Petition dazu wur­de 150.000-mal unterzeichnet.

 

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