Drei Hypothesen für eine linke Außenpolitik
Moritz Hieronymi, Brandenburg an der Havel
Liebe Genossinnen und Genossen, eine juristische Binsenweisheit besagt: Es gibt kein Recht im Unrecht. Konkret bedeutet das, auch Staaten ist es nicht gestattet, eigene Ansprüche oder sonstige Rechte aus dem rechtswidrigen Handeln anderer Staaten oder internationaler Organisationen abzuleiten. Recht im Allgemeinen, Völkerrecht im Besonderen fragen jedoch nicht, wie das Habitat des Unrechts entstehen konnte, sondern beschränken sich auf die Subsumtion einschlägiger Normen aus zulässigen Rechtsquellen.
Eine linke Analyse von Außen- und Sicherheitspolitik kann mithin nicht umhinkommen, über das Völkerrecht hinauszublicken. Eine materialistische Sicht auf die Dinge begreift ökonomische, kulturelle, militärische und technologische Entwicklungen als maßgebendes Element objektiver Bedingungen. Eben das schließt eine strukturelle Untersuchung des Völkerrechts mit ein.
Um die Entwicklung seit dem 24. Februar 2022 analytisch einzuordnen, genügt es gerade nicht, dass Geschehene als willkürliches Ereignis zu isolieren. Die Gefahr eines militärischen Konflikts in der Ukraine war nicht unvorhersehbar, sondern eine seit zwei Jahrzehnten durch unterschiedliche Fachleute und Diplomaten prognostizierte Gefahr. Am eindringlichsten analysierte der frühere US-Botschafter in Moskau und heutige CIA-Direktor, William J. Burns, im Jahr 2008, dass hinsichtlich einer NATO-Mitgliedschaft der Ukraine das Potenzial bestünde, dass das Land in einem Bürgerkrieg versinke und »in dieser Situation, sich Russland verpflichtet sehe, zu intervenieren […]«. [1]
Ob dieser Warnungen versagten die Systeme der Vereinten Nationen, der OSZE und des Europarates, die sich stetig zuspitzende Situation zu entschärfen. Insbesondere die UNO durchging eine Marginalisierung sondergleichen.
Liebe Genossinnen und Genossen, ein Blick auf die Entwicklungen der letzten 30 Jahre befreit von einer situationsbedingten Einschätzung und begreift Politik prozesshaft: Am 26. Februar 1999 skizzierte der US-Präsident, William – genannt Bill – Clinton, seine außenpolitische Doktrin: »Wir müssen uns die Frage stellen, welche Konsequenzen ausbreitende Konflikte für unsere Sicherheit haben. Selbstverständlich können und dürfen wir nicht überall sein. Aber wo unsere Werte und Interessen auf dem Spiel stehen, […] müssen wir handeln.« [2] Die Clinton-Doktrin war die Antwort auf eine veränderte Welt nach dem Untergang der UdSSR. Für die USA als alleinige Weltmacht wurde das internationale System der kollektiven Sicherheit der Vereinten Nationen ein Hindernis. Clinton war der Auffassung, dass die USA auch ohne scheinbare Bezugnahme auf die UN-Charta handeln können müssen.
Das Versuchsfeld dieser pax americana – eines interventionistischen Großmachtstrebens – war nicht Jugoslawien, sondern Panama. Als im Dezember 1989 der brutale Krieg gegen das kleine Land begonnen wurde, beriefen sich die USA auf extra-legale Kriegsgründe: Befreiung eigener Staatsbürger, Verhinderung schlimmster Menschenrechtsverstöße und Aufbau von Demokratie. Sie gingen so weit und sprachen Panama wiederholt die Souveränität über den gleichnamigen Kanal ab.
Nunmehr sollte eine globale Ordnung geschaffen werden, die nicht auf der Balance regionaler und internationaler Interessen fußte, sondern sich auf die Vereinheitlichung sogenannter Werte, Wirtschafts- und politischer Systeme begründete. Henry Kissinger [3] beschreibt in seinem Buch World Order, dass entgegen dem System des Westfälischen Friedens, welches auf Interessenausgleich und Inklusion beruhte, das US-amerikanische auf allgemeinen Werten, dem westlichen Verständnis von Demokratie und Ökonomie besteht. Die exzeptionalistische Rolle der USA steht dabei, so Kissinger, nicht zur Disposition. Folglich beruht diese Vormachtstellung nicht auf der Internationalisierung zwischenstaatlicher Beziehungen, sondern auf Unilateralität. Kissinger ist – anders als viele andere – klug genug zu erkennen, dass dieses System mit dem Auftreten neuer Mächte mit anderen philosophischen Prägungen an seine Grenzen gerät.
Liebe Genossinnen und Genossen! Mit der chinesischen Renaissance ist ein für die USA ernstzunehmender Konkurrent auf der Bildfläche aufgetaucht. Zugleich entwickelt sich im Besonderen bei den Staaten des pazifischen Raums ein neues Selbstbewusstsein: z.B. in Indien, Malaysia, Pakistan oder Vietnam; allesamt Staaten mit unterschiedlichen politischen und wirtschaftlichen Systemen. Südafrika und Brasilien fordern jeweils auf ihren Kontinenten Führungsansprüche ein.
Eine linke Außen- und Sicherheitspolitik muss diese Entwicklungen erkennen und die Leerstellen in der bestehenden internationalen Ordnung benennen. Hierzu folgende Hypothesen:
1. Eine progressive Realisierung der UN-Charta kann nur durch die restriktive Auslegung des Gewaltverbots gelingen.
Es ist doch bezeichnend, dass momentan diejenigen in der Partei am lautesten eine Veränderung der friedenspolitischen Grundsätze fordern, welche die größten Verfechter der Einzelfallfrage, der humanitären Intervention und responsibility to protect sind. Waren es nicht gerade diese Überlegungen, die jetzt – aus westlicher Sicht – wie ein Bumerang zurückschlagen? Folgt man der Auffassung des Internationalen Gerichtshofs (IGH) vom 16. März 2022, muss diese Schlussfolgerung gezogen werden. So ermahnte der IGH die Russische Föderation, dass die unilaterale, militärische Verhinderung eines Genozids in einem anderen Land wohl nicht völkerrechtskonform ist. [4] Somit bekräftigte der IGH den Geist der UN-Charta, dass das Gewaltverbot zur Nicht-Anwendung militärischer Gewalt verpflichte und zugleich Umgehungstatbestände auf ein absolutes Minimum reduziert werden müssen. – Eine Partei, die Völkerrechtspartei sein möchte, muss diesen Richterspruch in ihrer Programmatik berücksichtigen.
2. Die friedliche Koexistenz als Garant in einer multipolaren Weltordnung.
Neben dem Gewaltverbot ist die Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten ein Grundprinzip des UNO-Systems. Dagegen steht die vorherrschende Idee, die Welt sei in demokratische und autoritäre Regime gespalten. Diese Theorie setzt voraus, einige Staaten seien Hüter des Guten, andere die Querschläger. – Dass diese Entgegensetzung in der Konsequenz rechtswidrig und spalterisch sein könnte, ist für die neuen Völkerrechtsaffinen nur am Rande von Belang.
Ideenschwach wird das Denkgerüst werteorientierter – und damit westlicher – Außenpolitik, wenn es um die Versöhnung mit anderen Kulturkreisen geht: Ob konfuzianisch, hinduistisch oder islamisch geprägte Staaten, die Möglichkeit der Kompatibilität mit dem kantianischen Weltverständnis wird a priori beiseitegeschoben. – Wer nicht so ist, wie wir es sind, ist ein Völkerrechtsdelinquent; es sei denn, unsere Interessen erfordern die Zusammenarbeit.
Eine solche Weltordnung hat zurecht keine Chance. Stattdessen sollten wir uns an die fünf Prinzipien der friedlichen Koexistenz orientieren: 1. Souveräne Gleichheit der Staaten, 2. Anerkennung der Unterschiedlichkeit menschlicher Zivilisationen, 3. die Förderung einer Weltwirtschaft, in der alle Staaten gleich und gegenseitig voneinander profitieren, 4. Friedensicherung durch Kooperation und 5. die Förderung des Multilateralismus.
3. Das internationale System des Menschenrechtsschutzes bedarf grundlegender Reformen.
Die westlichen Staaten repräsentieren 12 Prozent der Weltbevölkerung. Zugleich betrachtet der Westen sich als ausschließliche Menschenrechtsrechts-Prärogative. Auch einige Linke glauben, dass die Universalität von Menschenrechten mit der Universalität des Menschenrechtsverständnisses deckungsgleich ist. Zugleich erlebt der Menschenrechtsdiskurs eine politische Instrumentalisierung, wodurch juristische Debatten ins Hintertreffen geraten. Bereits die Annahme, dass durch Menschenrechte politische Zustände beschrieben werden, ignoriert die juristische Systematik von der Prozesshaftigkeit des internationalen Menschenrechtsschutzes: Entwicklungsunterschiede sollen genauso berücksichtigt werden wie Rückschritte. Es fällt auf, dass die Analyse der internationalen Menschenrechte äußerst oberflächlich erfolgt, nie inhaltlich geführt wird. Dass soziale, wirtschaftliche, kulturelle und kollektive Menschenrechte unverbindliche Zielbestimmungen sind – konkret: Das Recht auf Eigentum ist rechtsverbindlich, während es das Recht auf Essen nicht ist –, bleibt ein inakzeptabler Zustand. Eine linke Menschenrechtspolitik beginnt mit der Kritik an Menschenrechten.
Liebe Genossen! Abschließend möchte ich daran erinnern, dass Fehleinschätzungen in außenpolitischen Fragen teils gravierende Folgen haben können. Vor 50 Jahren nahmen die VR China und die USA diplomatische Beziehungen auf, nachdem Moskau und Peking sich zusehends entfremdet hatten. Ich bin der festen Überzeugung, dass diese fehlerhafte sowjetische Außenpolitik maßgeblich einen Beitrag am Untergang des sozialistischen Lagers hatte. – Seien wir wachsam!
Diskussionsrede auf der Bundeskonferenz der KPF am 30. April 2022
Anmerkungen:
[1] Burns, Nyet means Nyet: Russian’s NATO Enlargement Redlines, WikiLeaks, 1.2.2008.
[2] Clinton, Remarks by the President on Foreign Policy, 26.2.1999, abrufbar: https://www.mtholyoke.edu/acad/intrel/clintfps.htm (20.5.2022).
[3] Kissinger, World Order, S. 363 f.
[4] IGH, ALLEGATIONS OF GENOCIDE UNDER THE CONVENTION ON THE PREVENTION AND PUNISHMENT OF THE CRIME OF GENOCIDE, Ukraine vs. Russia, Order Nr. 182 v. 16.3.2022, Rn. 59.
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2022-01: Von Selbstverleugnungen freimachen