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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Dienstreise – Leben und Leiden meiner Eltern in der Sowjetunion 1935 bis 1955

Dr. Andrej Reder, Berlin

 

In der vollbesetzten »junge Welt«-Ladengalerie stellte Andrej Reder am 25. Februar 2015 sein Buch »Dienstreise – Leben und Leiden meiner Eltern in der Sowjetunion 1935 bis 1955« vor. Einleitend äußerte sich jW-Chefredakteur Arnold Schölzel zur Biografie des Autors. Andrej Reder wurde 1936 in Moskau geboren. Als sein Vater Gabo Lewin 1938 verhaftet wurde, war er keine 2 Jahre alt. Als er ihn wiedersah, war er 18. Von der schweren, bitteren Zeit dazwischen handelt das Buch, in dem wir die von 1938 bis 1954 zwischen Gabo und seiner Frau Hertha ausgetauschten Briefe ebenso finden wie eine Vielzahl von Dokumenten aus sowjetischen bzw. russischen Archiven. »Ich war traurig und wütend darüber, dass das alles geschehen konnte«, sagte Andrej Reder in der Ladengalerie. Und: »Das ist nicht nur die Geschichte eines Paares. Sie hat sich 100-fach und 1000-fach wiederholt. Ich wollte die Deutungshoheit nicht dem Zeitgeist überlassen. Ich bin nicht bereit, die Geschichte dieser Menschen instrumentalisieren zu lassen. Ich distanziere mich vom Stalinismus im Sozialismus. Aber der Sozialismus war mehr als die Gulag-Perspektive.« Andrej Reder ist für sein Buch sehr zu danken, ebenso wie für die Erlaubnis, nachfolgend Auszüge daraus zu dokumentieren.

 

Gewidmet deutschen Kommunisten und Antifaschisten, die zwischen den 1930er und 1950er Jahren Opfer von Repressalien in der Sowjetunion wurden. Gegen Instrumentalisierung ihres tragischen Schicksals und Vermächtnisses. – Es folgen Auszüge aus dem Buch, die der Autor für die »Mitteilungen« zusammengestellt hat.

 

»Der Entschluss, über eine ›Dienstreise‹ meiner Eltern in die Sowjetunion zu berichten, fiel mir nicht leicht. Diese Reise begann in Berlin, ihrer Geburtsstadt und nahm in Moskau, in meiner Geburtsstadt, eine tragische und langjährige Fortsetzung ...

57-jährig wurde ich erstmals angehalten, über diese ›Dienstreise‹ in der Sowjetunion zu schreiben. Damals konnte ich es nicht. Mir waren zu jenem Zeitpunkt die ungeheuerlichen Einzelheiten ihres Schicksals ebenso unbekannt wie die Gründe, warum die Eltern darüber eigentlich nur zurückhaltend sprachen und später auch nichts aufschrieben. Bis zum Tod meiner Eltern erschlossen sich mir keine zwingenden Gründe, mich mit der Geschichte meiner Familie intensiv zu beschäftigen und darüber auch noch schreiben zu müssen. Nichts Klärendes oder Neues zu unserer Geschichte hätte ich damals beitragen können, und auf den überschäumenden Wellen des ›Antistalinismus‹ zu reiten, war ich nicht bereit und bin es auch jetzt nicht ...

Erst nach dem Tod meiner Eltern begann ich im Jahre 2000 zunächst einige Briefe zu lesen. Danach wurden sie chronologisch sortiert, leserlich abgeschrieben bzw. aus dem Russischen übersetzt. Die Schriftzüge meines Vaters fesselten mich, machten mich traurig und wütend. Sie weckten meine Neugierde, weiteren Spuren seiner ›Dienstreise‹ … in der Sowjetunion nachzugehen ...‹

Die Briefe (der Eltern) und später auch die Moskauer Archivunterlagen offenbarten einen nahezu unwirklichen und sich erschütternd gestaltenden Lebensabschnitt, den ich mir so nicht annähernd hätte vorstellen können, denn sonst hätte ich mit Sicherheit darauf bestanden, dass sich meine Eltern mir gegenüber öffneten. Sie taten es aber nicht, und zwar nicht wie heute leichtfertig behauptet wird, weil es ›verordnet‹ gewesen ist ...«

Der Abschnitt »das ›verordnete‹ Schweigen« in meinem Buch schließt mit der Aussage:

»Kommunisten sollte man im Übrigen zugestehen, dass sie in der Regel ihre Entscheidungen aus Überzeugung trafen bzw. treffen. Ihr Entschluss, Kommunist zu werden, Kommunist zu sein und Kommunist selbst dann zu bleiben, wenn es für sie lebensgefährlich wurde, spricht nicht unbedingt dafür, dass diese Menschen den einfachen und bequemeren Weg wählen, auf dem sie etwa von Verordnungen und Vorschriften geleitet würden. ...«

Auf Beschluss der KPD-Führung emigrieren die Eltern im Spätherbst 1935 in die UdSSR.

»Ein Auszug aus dem Protokoll Nr.12 der Kleinen Kommission der KJI [1] ohne Datum teilte der Vertretung der KPD bei der Komintern mit, dass das Exekutivkomitee der KJI ab 1. Januar 1938 die Zahlungen einstellen werde. Man hielte ›den weiteren Aufenthalt der Genossen Balder, Arno (mein Vater – A. R.), Landwehr, Reder (meine Mutter – A. R.) und Dolli Wehner in Moskau nicht (für) zweckmäßig‹.

Mit dieser lapidaren Mitteilung wurden ganz offensichtlich die Weichen für einen ›zweckmäßigeren‹ Aufenthalt meiner Eltern fern von Moskau gestellt. ...

Im November 1936 kam ich in Moskau zur Welt. Auch nach meiner Geburt galt die größte Aufmerksamkeit meiner Eltern keineswegs nur ihrem von Rachitis befallenen Sohn, sondern weiterhin der Verwirklichung der Idee von einer gerechten, ausbeutungsfreien und von Nazis freien Gesellschaft in Deutschland.

Die Zeit in Moskau begann nicht leicht. Doch die engagierte 28-jährige Jungkommunistin und der 30 Jahre alte Kommunist waren der festen Überzeugung, dass sie nunmehr die Grundlage für ihr Familienglück schaffen könnten.

Dieses Glück fand ein jähes Ende, als mein Vater wie aus heiterem Himmel am 15. Februar 1938 durch die Organe des Volkskommissariats für innere Angelegenheiten (NKWD) verhaftet wurde. Ein Sonderschnelltribunal(OSO), bestehend aus jeweils einem Vertreter des NKWD, der KPdSU und der Staatsanwaltschaft, verurteilte ihn am 17. August zu zehn Jahren ›Umerziehungs-Arbeitslager‹ auf der sibirischen Halbinsel Kolyma. Dabei bezog man sich auf eine Anklageschrift vom 15 April 1938. Darin war mein Vater der konterrevolutionären Tätigkeit und der Spionage für Deutschland bezichtigt worden, womit er als Feind des Sowjetvolkes galt und entsprechend behandelt wurde ...

Meine Eltern genossen bis dahin politisches Asyl, zumal die Gestapo in Deutschland nach ihnen fahndete. ...

Im Februar 1948 war die Zeit der ›umerzieherischen‹ Zwangsarbeit meines Vaters in Sibirien abgegolten. ... Am 17. Februar wurde Vater tatsächlich aus dem Lager entlassen, er war kein Gefangener mehr. Er hatte nunmehr, wie er schrieb, sogar das Recht, jeden mit ›Genosse‹ anzusprechen. Vaters Gesundheitszustand war zu jenem Zeitpunkt infolge jahrelanger Entbehrungen und schwerer körperlicher Arbeit so schlecht, dass er anderentags ins Krankenhaus eingeliefert werden musste, um sich ›auszuruhen‹, wie er schrieb, denn er wäre ›ein wenig auf den Hund gekommen‹: Er wog nur noch 48 Kilo bei einer Körpergröße von 171 Zentimetern.«

Während meine Mutter und ich aus Kasachstan kommend im August 1948 in Berlin eintrafen, »erhielt mein Vater endlich die Erlaubnis, den Fernen Osten zu verlassen und zu uns, wie er zu jenem Zeitpunkt glaubte, nach Kasachstan zu reisen. Trotz der ungeheuren, wie aus den Briefen hervorgeht, nicht nur materiellen Schwierigkeiten, sondern auch enormen infrastrukturellen Unwägbarkeiten, erreichte er Ende 1948 die südkasachische Stadt Tschimkent – und zwar etwa in dem Augenblick, als wir gerade in Berlin unsere Zelte aufschlugen … Am 14. März 1949 wurde mein Vater erneut verhaftet und am 20. Juli auf Beschluss eines Sondertribunals des Ministeriums für Staatssicherheit Kasachstans wegen angeblicher Spionage erneut zu zehn Jahren verurteilt. … Zunächst arbeitete er als Kutscher in einer Holz verarbeitenden Fabrik, später, nach dem Tode Stalins, als Deutschlehrer an einer sowjetischen Schule in Jenissejsk. ...«

Am 11. Juli 1954 richtete mein Vater eine umfangreiche Eingabe an den Generalstaatsanwalt der UdSSR, in der es u. a. hieß:

»Wenn es 1938 tatsächlich den Verdacht gab, dass meine vergangene politische Tätigkeit in den Reihen der Kommunistischen Partei Deutschlands und des Kommunistischen Jugendverbandes nur eine ›Maskierung‹ war und dass ich ein Feind, ein faschistischer Spion sei, dann sind seither 16 Jahre vergangen, und es sind Fakten vorhanden, die die Möglichkeit bieten, den Menschen zu erkennen, zu prüfen, zu überprüfen sowie die Wahrhaftigkeit von der Heuchelei zu unterscheiden. ... Ist es denn nach all dem nötig, mir die Möglichkeit zu verweigern, gemeinsam mit meiner Frau und meinem Sohn, die man aus der UdSSR in die Deutsche Demokratische Republik abberufen hat, für ein einheitliches demokratisches Deutschland zu kämpfen, wenn man selbst Kriegsverbrechern die Möglichkeit einräumt, in der DDR zu leben und zu arbeiten?!«

»Mein Vater ersuchte den Generalstaatsanwalt, Einspruch gegen diese Beschlüsse der Sondertribunale von 1938 und 1949 einzulegen, der gesetzwidrigen Situation ein Ende zu setzen, ihn zu rehabilitieren und aus der Verbannung zu befreien.« ...

»Nachdem mein Vater am 28. August 1954 … zum zweiten Mal in der Sowjetunion freigelassen worden war, kehrten sich die Ereignisse endlich ins Positive. In ihrer Erregung schrieb mir meine Mutter am 15. März 1955: ›ich zittere noch am ganzen Körper – vor zehn Minuten (während der 8-Uhr-Nachrichten) kam ein Anruf aus Karlshorst, dass dort ein Telegramm aus Krasnojarsk für mich eingetroffen ist: Reise ab nach Moskau. Schreib ans Rote Kreuz. Arno.‹

Somit erhielten wir erstmals eine Mitteilung, dass mein Vater definitiv an den Ort zurückkehren würde, wo er einst verhaftet worden war – nach Moskau, meiner Geburtsstadt. Von dort meldete er sich kurz vor Mitternacht des 22. März 1956 per Telefon. Erstmals seit siebzehn Jahren sprach er mit meiner Mutter. In der Nacht zum 14. April rief er sie erneut an und teilte mit, dass er in wenigen Tagen abfahren würde. Zwei Tage später wurde er – zunächst mündlich – rehabilitiert. Das Dokument über seine offizielle Rehabilitierung konnte ich selbst erst am 16. Juni 2009 im Moskauer Archiv in Augenschein nehmen. Am 24. April 1955 konnten sich meine Eltern in Berlin endlich wieder umarmen, ich kam erst einige Tage später aus der Internatsoberschule. Meine Mutter war inzwischen 47, mein Vater 49 Jahre alt und ich bereits volljährig ...

Erst auf Anfrage meines Vaters an russische Stellen im Zusammenhang mit seinem Rentenantrag teilte das Militärkollegium des Obersten Gerichts der Russischen Föderation am 31. Januar 1994 schriftlich mit, dass er rechtswidrig verurteilt worden sei, das Verfahren gegen ihn eingestellt sei und er damit rehabilitiert ist ...«

Der entscheidende Grund, warum ich mich dieser Seite unserer Familiengeschichte so intensiv widmete, war die seit Jahren öffentlich geführte Auseinandersetzung zum Thema. Ich war und bin nicht bereit, die Deutungshoheit jenen Menschen zu überlassen, die mehr oder weniger dem antikommunistischen Zeitgeist der Herrschenden huldigen und die damit objektiv dazu beitragen, dass diese Geschichte bewusst entstellt und damit zum politischen Instrument gemacht wird. Indem ich mich zu pervertierten Seiten des Sozialismus kritisch äußere, wende ich mich zugleich entschieden gegen Versuche von Verantwortungsträgern der Partei DIE LINKE und deren Vorgängerpartei PDS, die den ›stalinistischen‹ Sozialismus kritisch ›aufarbeiten‹, indem sie den vergangenen Sozialismus radikal und in Gänze über Bord werfen. Eine einseitige und ahistorische ›Aufarbeitung‹, die einer Abrechnung mit dem Sozialismus gleichkommt, machte und macht die Partei keinen Deut glaubwürdiger im Ringen um eine gesellschaftspolitische Alternative im vereinten Deutschland. Die Verkürzung des sozialistischen Werdegangs auf Verbrechen wird auch all jenen Repressierten nicht gerecht, die überlebt und sich seinerzeit bewusst für die DDR und für den sozialistischen Aufbau in diesem Land entschieden hatten ...

Natürlich kann man heute mit Recht beanstanden, dass meine Eltern sich unkritisch auch zu Dingen verhielten, die nicht durch die Systemauseinandersetzung diktiert, aber mit dieser legitimiert wurden. Ich maße mir jedoch nicht an, Menschen solche Vorhaltungen zu machen, die derartiges Leid erdulden mussten wie meine Eltern. Ihre Erfahrungen mit und im Sozialismus haben sie in der Erkenntnis bestärkt, dass man das Wesen dieses Systems weder in der Sowjetunion noch in den anderen sozialistischen Ländern schlechthin auf Unrecht und Verbrechen reduzieren kann und darf. Sie bewerteten die zivilisatorischen Erfolge und Errungenschaften höher als die kritikwürdigen und abzulehnenden Seiten des real gewesenen Sozialismus. Nicht zuletzt das erklärt ihre Haltung zur UdSSR und zur deutsch-sowjetischen Freundschaft. ...

Auch das aktuelle Parteiprogramm der Partei DIE LINKE widerspiegelt eine durchaus kritische Auseinandersetzung mit dem Sozialismus in der DDR. ›Als die SED/PDS 1989 mit dem Stalinismus als System gebrochen hatte, war diese Entscheidung ein Gebot der Stunde.‹ Dieser Bruch war nicht nur damals richtig, sondern gelte, wie es im Erfurter Parteiprogramm vom Oktober 2011 heißt, unverändert. Dies dürfte mehr denn je insbesondere für all jene Konsens sein, die sich für einen demokratischen Sozialismus, für eine andere als die kapitalistische Gesellschaftsordnung einsetzen.

Als einem Mitbetroffenen Stalinscher Verbrechen in der Sowjetunion ist es mir nach einem langen und schmerzlichen Selbstfindungsprozess wichtig, meine Überlegungen zu diesem Bruch und zu dem, womit wir eigentlich gebrochen haben dürften, auch anderen Interessierten mitzuteilen.

Berlin, 8. Februar 2015.

 

Verlag Das Neues Berlin, 2015, 256 Seiten, ISBN-13: 978-3355018241, 18,99 Euro.

 

Anmerkung:

[1] Kommunistische Jugendinternationale (Red.)

 

Mehr von Andrej Reder in den »Mitteilungen«: 

2013-11: Bleibendes Gedenken in unserer Gesellschaft bewahren

2013-11: Worin wir uns einig sind

2013-03: Einige Erfahrungen der PDS und der Partei DIE LINKE