Die weltpolitische Lage
Rosa Luxemburg
(Rede am 27. Mai 1913 in Leipzig-Plagwitz. Vor 140 Jahren, am 5. März 1871, wurde Rosa Luxemburg geboren.)
Wir leben in einer merkwürdigen Zeit, in der die Aufmerksamkeit der Arbeiterklasse durch ein ganz spezielles Gebiet des öffentlichen Lebens in steigendem Maße in Anspruch genommen wird; dies Gebiet ist die auswärtige Politik. Für den Begriff und geistigen Horizont des Durchschnittsspießers gehört die auswärtige Politik zu jenem Abteil der Morgenzeitung, das er beim Morgenkaffee liest zur Zerstreuung seiner Sorgen oder von dem Gekeife seiner besseren Hälfte. Für die Arbeiterklasse dagegen ist die auswärtige Politik tief ernst und äußerst wichtig. Es ist nicht immer so gewesen. Wenn man das geistige Leben der Arbeiterschaft in den letzten Jahrzehnten verfolgt, so kann man förmlich den Puls dieses geistigen Lebens fühlen und beobachten, wie von Jahr zu Jahr bei der Arbeiterschaft die Aufmerksamkeit für die auswärtige Politik wächst. Trotzdem ist es noch immer nicht genug, es muß dahin gebracht werden, daß jede Arbeiterin und jeder Arbeiter verstehen lernt, daß es gilt, mit derselben Energie, Aufmerksamkeit und Leidenschaft wie die Fragen der inneren Politik alle Geschehnisse der Weltpolitik zu verfolgen. Jede Proletarierfrau und jeder Proletarier müssen sich heute sagen, es geschieht nichts in der auswärtigen Politik, was nicht die eigensten Interessen des Proletariats berührt. Wenn in Afrika von den deutschen Militärs die Neger unterdrückt werden, wenn auf dem Balkan die Serben und Bulgaren die türkischen Soldaten und Bauern niedermorden, wenn in Kanada bei den Wahlen die konservative Partei plötzlich die Oberhand gewinnt und die liberale Herrschaft zertrümmert, in allen Fällen müssen sich die Arbeiterinnen und die Arbeiter sagen, um eure Sache handelt es sich, eure Interessen stehen dort auf dem Spiel. Es ist Karl Marx gewesen, der uns schon viele Jahrzehnte, bevor diese Entwicklung so ausgeprägt zu erkennen war, Fingerzeige für die Erkenntnis dieser Erscheinung gegeben hat. In seiner berühmten Inauguraladresse sagte er unter anderem: Kämpfe um die auswärtige Politik bilden einen Teil des allgemeinen Kampfes für die Emanzipation des Proletariats, sie sind also ein Teil des Klassenkampfes.
Gerade wenn wir die jetzige weltpolitische Lage vergleichen mit der Zeit, in der die Inauguraladresse erschien, können wir den Wandel der Zeiten ermessen. In den 60er Jahren noch waren der Drehzapf der weltpolitischen Lage die Nachwehen und Folgen der Teilung Polens durch Preußen, Österreich und Rußland. Die gegenseitige Reibungsfläche der Mitschuldigen an dem Raube war es, um die sich die weltpolitische Läge drehte. Wenn heute jemand fragt, was der Mittelpunkt der weltpolitischen Ereignisse ist, so würde selbst ein ernsthafter Politiker über diese Frage in große Verlegenheit kommen. Heute haben wir in der Nordsee einen solchen Punkt, in der Rivalität zwischen England und Deutschland. Im Mittelmeer besteht ein ganzer Knäuel von Gegensätzen und Widersprüchen. Der Frieden am Balkan bedeutet die Zerreißung der europäischen Türkei und gleichzeitig die sichere Gewähr für den nächsten Krieg um die asiatische Türkei. Aber darin erschöpfen sich die internationalen Gegensätze nicht. Auf dem Leibe des unglücklichen Persiens wird der Kampf zwischen Rußland und England ausgefochten. Im vollsten Frieden wird ein Land und ein Volk zerstückelt. Ein Stück weiter nach Osten liegt der gewaltige Herd der Revolution in China. Von Asien führt der Weg über den Stillen Ozean nach Amerika. Hier erleben wir in den letzten Jahrzehnten immer neue Überraschungen. Seit die Vereinigten Staaten 1898 ihren ersten Kolonialkrieg mit Spanien um die Philippinen ausfochten, sehen die amerikanischen Kapitalisten begehrlich nach Asien. Daraus ist der Gegensatz zwischen Japan und den Vereinigten Staaten und England entstanden.
Auch wenn wir die Kriege der letzten 10 bis 15 Jahre betrachten, erkennen wir, wie sich der politische Horizont nach und nach erweitert hat. Man kann, grob gehauen, den Beginn dieser Umwälzung mit dem japanisch-chinesischen Kriege im Jahre 1895 beginnen. Der Krieg zeigte ein Land, das zum ersten Mal zur Selbständigkeit erwachte. 1898 folgte der Krieg zwischen Amerika und Spanien, bei dem die Vereinigten Staaten zum ersten Mal außerhalb ihres Landes kämpften. Der Burenkrieg von 1899 krönte eine Anzahl stiller Eroberungen, die England dort unten gemacht hatte. Dann kam der Hunnenfeldzug nach China, bei dem Wilhelm II. den Soldaten die Parole mit auf den Weg gab: Pardon wird nicht gegeben, Gefangene werden nicht gemacht. Die Soldaten sollten hausen wie die Hunnen, so daß nach tausend Jahren kein Chinese wagt, einen Deutschen scheel anzusehen. 1904 brach der Krieg zwischen Rußland und Japan aus, dem die russische Revolution folgte, an die sich die Revolution in Persien, in der Türkei und zum Teil in Indien anschloß. Wir haben dann in den letzten paar Jahren eine Reihe zuckender Blitze und Gewitter in China gehabt. Der Streit zwischen Frankreich und Deutschland um Marokko hat den Raubzug Italiens nach Tripolis und dieser wieder den Balkankrieg zur Folge gehabt. Die Triebkraft dieser Kriege ist das Bestreben, die noch nicht vom Kapitalismus erreichten Gebiete aufzuteilen.
Bis vor kurzer Zeit gab es in der Sozialdemokratie ein ganz einfaches Mittel, um zu entscheiden, wie wir uns zu einem Kriege zu stellen haben. Der Angriffskrieg wurde abgelehnt und verdammt, dagegen müsse auch die Sozialdemokratie für den Verteidigungskrieg eintreten. Genosse Bebel, der so viel Ausgezeichnetes, manchmal aber auch, wie jeder Mensch, weniger Ausgezeichnetes gesagt hat, hat ja einmal im Reichstage erklärt, er wolle bei einem Verteidigungskriege trotz seiner alten Tage noch die Flinte auf den Buckel nehmen. Diese Weisung ist schon deshalb nicht brauchbar, weil die Unterscheidung zwischen Angriffs- und Verteidigungskrieg unter den Händen zerrinnt oder wie eine Seifenblase zerplatzt. In den Kriegen der französischen Revolution gab die französische Regierung die Kriegserklärungen ab, und doch waren es Verteidigungskriege, die das Werk der Revolution gegen die Reaktion schützten. Der Krieg auf dem Balkan ist formal genommen ein Angriffskrieg gegen die Türkei. Aber die Machthaber der angreifenden Nationen zerfließen in Beteuerungen über die Verteidigung der heiligsten nationalen Rechte und des christlichen Glaubens gegen die Türken, und auch sie haben recht. Daraus haben wir den Schluß zu ziehen, wir als Proletarier haben uns gegen jeden Krieg zu wenden, gleichviel ob Angriffs- oder Verteidigungskrieg. Wir erkennen in ihm eine Folge des Imperialismus, und wie den Imperialismus als Ganzes, so bekämpfen wir auch jede seiner Teilerscheinungen.
Ein Notbehelf in unsrer Taktik ist, daß sich die deutsche Sozialdemokratie auf den Boden des Dreibunds stellt, das heißt, daß sie die Vereinigung der deutschen, österreichischen und italienischen Diplomatie unterstützt. Es ist tief bedauerlich, daß erst vor einigen Wochen, als die neue Militärvorlage im Reichstage verhandelt wurde, Genosse David der Regierung im Auftrage der Fraktion öffentlich erklärte, wir Sozialdemokraten stehen auf dem Boden des Dreibunds, wobei nur der Vorbehalt gemacht wurde, der Dreibund müsse ein braver Knabe sein und für den Frieden wirken. Leider sind wir nicht allein damit geblieben, denn fast am gleichen Tage hat im Wiener Parlament Genosse Renner eine ähnliche Erklärung für die österreichische Sozialdemokratie abgegeben. Vom Dreibund, von einer kapitalistischen Bündnispolitik, die den Krieg vorbereiten soll, erwarten, sie solle für den Frieden wirken, das ist das Beginnen eines Menschen, der vom Distelstrauch Feigen pflücken will Man muß nur einmal die Resultate des Dreibunds betrachten. Seine erste Folge war, daß Frankreich zu der schmachvollen Allianz mit Rußland förmlich getrieben wurde und daß England mit Frankreich und Rußland zu jenem dreieckigen Verhältnis gebracht wurde. Eine andre Folge des Dreibunds sind die ungeheueren Rüstungen Deutschlands gegen Frankreich und Rußland und ebenso die Rüstungen Österreichs. Wo war denn auch der Dreibund, als es galt, den Frieden zu erhalten, als eine Dreibundmacht Tripolis überfiel oder als Österreich Bosnien und die Herzegowina annektierte? Es ist eine alte Binsenwahrheit, daß, wo zwei oder drei kapitalistische Staaten die Köpfe zusammenstecken, es sich immer um die Haut eines vierten kapitalistischen Staates handelt. Welche Naivität gehört dazu, von diesem Bündnis zu erwarten, es sollte eine Gewähr sein für den Frieden. Es gibt ein internationales Bündnis, das sich als einzige Gewähr für den Frieden herausgestellt hat. Das einzige Bündnis, auf das zu rechnen ist, das ist das Bündnis aller revolutionären Proletarier der Welt!
Wir haben auch noch mit einer andern Illusion, die Verwirrung anrichten kann, reinen Tisch zu machen, nämlich mit der Illusion von der Abrüstung. Vor einigen Jahren gefiel es dem englischen Minister Grey, eine schöne Rede zu halten, in der er für eine Verständigung über die Rüstungen eintrat. Kaum hatte man dies bei uns gehört, so sagten einige Genossen unsrer Reichstagsfraktion: Bravo, der Mann spricht wie ein Buch. Sie glaubten, auf diese Weise könnten wir von dem Krieg nach rückwärts zu dem Frieden kommen. Als aber Grey so sprach, hatte er schon eine neue Flottenvorlage in der Tasche und statt der Abrüstungen kamen ungeheuere neue Rüstungen. Auch in Deutschland war es ja ähnlich. In der Budgetkommission redete der Kriegsminister einer Verständigung mit England das Wort. Das gab ein großes Hallo! Ein deutscher Kriegsminister, der wie eine Taube den Ölzweig des Friedens im Schnabel hielt; das war in Wirklichkeit das Vorspiel zu der ungeheueren Militärvorlage. Man muß doch geradezu die Augen schließen, um nicht zu sehen, daß die Rüstungen eine naturnotwendige Konsequenz der ganzen ökonomischen Entwicklung sind. Solange das Kapital herrscht, werden Rüstungen und Krieg nicht aufhören. Alle großen und kleinen kapitalistischen Staaten sind jetzt in den Strudel der Wettrüstungen gerissen. Es war immer das Vorrecht der Sozialdemokratie, daß sie mit ihren Bestrebungen nicht im Wolkenkuckucksheim wurzelte, sondern mit festen Füßen auf dem realen Boden stand. Wir haben bei allen Erscheinungen in der Politik immer gefragt, wie sich diese Erscheinungen mit der kapitalistischen Entwicklung vereinbaren. Wie haben wir doch über die bürgerlichen Friedenspolitiker gelacht, diese guten Leute und schlechten Musikanten. Es ist eine hoffnungslose Utopie, zu erwarten, daß durch unsre Propaganda für die Abrüstung die kapitalistischen Staaten aufhören werden zu rüsten. Die Rüstungen sind eine fatale Konsequenz der kapitalistischen Entwicklung, und dieser Weg führt in den Abgrund. [...]
Es ist nötig, daß wir unsre Kraft, die elementare Kraft der großen Masse, nicht unterschätzen, denn die Gefahr, daß wir unsre Kräfte unterschätzen, ist größer als etwa eine Überschätzung unsrer Kräfte. Wir müssen den Proletariermassen sagen, wenn wir jetzt, nach 50 Jahren der Entwicklung, in unsern Reihen Millionen zählen, daß dies nicht bloß zum Stolz berechtigt, sondern auch zu Taten verpflichtet. Je mehr wir wachsen, um so mehr sind wir verpflichtet, die ganze Wucht unsrer Masse in die Waagschale zu werfen. Wir müssen die Massen aufklären und ihnen sagen, wenn die Kapitalisten die Welt verteilen, so sind wir die Erben dieser halsbrecherischen Unternehmungen. Wir müssen jenen Mut, jene Entschlossenheit und Rücksichtslosigkeit in der Verfolgung unsrer Aufgaben zeigen, die von den bürgerlichen Revolutionären aufgebracht wurde, die Danton zusammenfaßte, als er sagte, in bestimmten Situationen brauche man als Parole nur drei Worte: Kühnheit, Kühnheit und noch einmal Kühnheit! (Stürmischer Beifall.)
Rosa Luxemburg, "Die weltpolitische Lage" (Rede am 27. Mai 1913 in Leipzig-Plagwitz. Auszug)
Leipziger Volkszeitung, Nr. 121, 29. Mai 1913.
In Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke.
Berlin: Dietz Verlag, 1970. Bd. 3, S. 212-19.