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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

»Die vierzig Tage des Musa Dagh«

Franz Werfel (1890-1945)

Vor 70 Jahren, im August 1945, starb Franz Werfel. Anlässlich des 100. Jahrestages des Beginns des Völkermordes an den Armeniern im Osmanischen Reich dokumentieren wir Auszüge aus Werfels Roman »Die vierzig Tage des Musa Dagh«. Im Kapitel »Zwischenspiel der Götter« versucht Johannes Lepsius, ein deutscher Geistlicher, den türkischen Kriegsminister Enver Pascha in Istanbul zu bewegen, keine weiteren Deportationen von Armeniern vorzunehmen.

»Sie werden in einer Stunde vor Enver stehn« – der leisen Stimme des Monsignore Sawen merkte man die Kette der schlaflosen Nächte an, sie starb gleichsam mit ihrem Volk dahin. »Sie werden vor diesem Menschen stehen. Gott segne Sie. Aber auch Sie werden nichts erreichen.« [...] »Lassen Sie das Unmögliche bleiben und konzentrieren Sie sich auf das Mögliche! [...] Vermeiden Sie vor allem eins: Moralisieren Sie nicht! Das lockt diesem Menschen nur Hohn hervor! Bleiben Sie bei den politischen Tatsachen! Drohen Sie mit der Wirtschaft, das verfängt am ehesten.« [...]

Enver Pascha, der, mit routinierter Geduld zu Boden schauend, dem Besucher zuhört, hebt bei den Worten »armenische Frage« den Kopf. Der Unmut eines verzogenen Kindes, das die ernsten Leute immer mit dem gleichen Unsinn belästigen, umwölkt einen Augenblick seine Miene. Doch sofort ist wieder alles in Ordnung. Dem Lepsius aber geht das Herz jetzt schon durch: »Ich komme in meiner Not zu Ihnen, Exzellenz, weil ich überzeugt bin, dass ein Feldherr Ihres Ranges, ein Held, nichts tut, was seinen Namen in der Geschichte verdunkeln könnte.« »Ich weiß, Herr Lepsius«, ergreift Enver Pascha mit wohlwollendster Nachsicht das Wort, »dass Sie hierhergekommen sind und diese Unterredung gewünscht haben, um über die bewusste Sache Aufklärung zu verlangen. Obwohl mich tausend wichtige Angelegenheiten in Anspruch nehmen, bin ich bereit, Ihnen hier jede Zeit zu widmen und jede gewünschte Auskunft zu erteilen.«

Lepsius muss diese Opfer mit einer Bewegung tiefer Dankbarkeit entgegennehmen.

»Seitdem meine Freunde und ich die Regierung leiten«, beginnt der General, »waren wir immer bestrebt, der armenischen Millet jegliche Förderung und unbedingte Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Es liegen alte Verabredungen vor. Ihre armenischen Freunde haben unsere Revolution aufs lebhafteste begrüßt und alle erdenklichen Schwüre geleistet, uns die Treue zu bewahren. Diese Schwüre haben sie dann über Nacht gebrochen. Wir drückten beide Augen zu, solange wie möglich, solange die osmanische Nation, das Staatsvolk, nicht gefährdet war. Wir leben doch in der Türkei, nicht wahr? Als sich aber nach Kriegsausbruch die Fälle von Hochverrat, Felonie, subversiver Gesinnung mehrten, als die Desertion schauderhaft überhandnahm, als es zu offenem Aufruhr kam, ich erinnere nur an die große Revolte von Zeitun, da waren wir zu Gegenmaßregeln gezwungen, wenn wir nicht das Recht verlieren wollten, eine Volksregierung zu sein und Krieg zu führen.« [...]

»Ich möchte dringend Ihre Ansicht über Zeitun hören, Exzellenz!« Enver Paschas blitzblanke Freundlichkeit verfinstert sich feierlich: »Der Aufruhr von Zeitun war eine der größten und infamsten Revolten in der Geschichte des türkischen Reichs. Der Kampf mit den Insurgenten hat unseren Truppen leider schwere Verluste gekostet, wenn ich sie Ihnen auch auswendig nicht nennen kann.«

»Ich habe über Zeitun andere Berichte als Exzellenz« – Lepsius führt diesen Schlag mit stockenden Silben –, »meine Berichte sprechen von keinem Aufruhr in der dortigen Bevölkerung, sondern von monatelanger Herausforderung und Bedrückung durch die Bezirks- und Sandschakbehörden.« [...]

»Sie wurden mit falschen Informationen bedient«, meint der General unberührt artig. "Darf ich die Herkunft Ihrer Berichte erfahren, Herr Lepsius?«

»Ich werde einige nennen, schicke aber voraus, dass armenische Quellen nicht darunter sind. Hingegen kenne ich die genauen Memoranden verschiedener deutscher Konsuln, ich besitze Aufzeichnungen von Missionaren, die Augenzeugen der grauenhaftesten Vorgänge waren. Und schließlich empfing ich ein lückenloses Bild von der Lage durch den amerikanischen Botschafter, Mr. Morgenthau.«

»Mr. Morgenthau«, bemerkt Enver übermütig, »ist Jude. Und die Juden stehen immer fanatisch aufseiten der Minderheit.«

Diese graziöse Unzugänglichkeit macht Lepsius erstarren. Er hat eiskalte Hände und Füße: »Es kommt nicht auf Morgenthau an, Exzellenz, sondern auf die Tatsachen. Und die Tatsachen werden und können Sie nicht leugnen. Hunderttausend Menschen sind bereits auf dem Wege der Verschickung. Die Behörden sprechen nur von Umsiedlung. Ich behaupte aber, dass dies, gelinde gesagt, ein Wortmissbrauch ist. Kann man ein Volk von Bergbauern, von Handwerkern, Städtern, Kulturmenschen mit einem Federstrich in der mesopotamischen Wüste und Steppe ansiedeln, in einer ozeanweiten Einöde, die sogar von den Beduinenstämmen geflohen wird? Und selbst dieses Ziel ist doch nur eine Finte. Denn die Ortsbehörden richten die Deportation so ein, dass die Elenden schon während der ersten acht Tagesmärsche durch Hunger, Durst, Krankheit umkommen oder wahnsinnig werden, dass man die widerstandsfähigen Knaben und Männer durch Kurden oder Banditen, wenn nicht gar durch Militär, umbringen lässt, dass die jüngeren Mädchen und Frauen der Schändung und Verschleppung geradezu aufgedrängt werden[...]«

Der General hört mit höflichster Aufmerksamkeit zu, dabei aber gibt seine abgespannte Miene zu erkennen: dieses schale Lied höre ich zwölfmal täglich. Die Manschette, die er mit seiner weißen Frauenhand ans dem Ärmel hervorholt, scheint ihm wichtiger zu sein. »Sehr bedauerliche Dinge! Aber der Oberkommandierende einer großen Wehrmacht ist für die militärische Sicherheit seines Kriegsgebietes verantwortlich.« [...]

»Ich werde Ihnen eine Gegenfrage stellen, Herr Lepsius. Deutschland besitzt glücklicher-weise keine oder nur wenig innere Feinde. Aber gesetzt den Fall, es besäße unter anderen Umständen innere Feinde, nehmen wir an Francoelsässer, Polen, Sozialdemokraten, Juden, und zwar in größerer Menge, als das der Fall ist. Würden Sie da, Herr Lepsius, nicht jegliches Mittel gutheißen, um Ihre schwerkämpfende, durch eine Welt von äußeren Feinden belagerte Nation vom inneren Feinde zu befreien? Würden Sie es dann auch so grausam finden, wenn man die für den Kriegsausgang gefährlichen Bevölkerungsteile einfach zusammenpackte und in entlegene, menschenleere Gebiete verschickte?«

Johannes Lepsius muss sich mit beiden Händen anhalten, um nicht aufzuspringen und hervorzufuchteln: »Wenn die Regierenden meines Volkes«, ruft er sehr laut, »ungerecht, gesetzlos, unmenschlich« (unchristlich hat er schon auf der Zunge gehabt) »gegen ihre Landsleute von anderem Stamm oder anderer Gesinnung vorgingen, so würde ich mich im selben Augenblick von Deutschland lossagen und nach Amerika ziehen!«

Langer Augenaufschlag Enver Paschas: »Traurig für Deutschland, wenn andre auch so denken wie Sie. Ein Zeichen, dass Ihrem Volk die Kraft fehlt, seinen nationalen Willen rücksichtslos durchzusetzen.« [...]

»Sie wollen ein neues Reich gründen, Exzellenz. Doch der Leichnam des armenischen Vol-kes wird unter seinen Grundmauern liegen. Kann das Segen bringen? Ließe sich nicht noch jetzt ein friedlicher Weg finden?«

Hier entblößt Enver Pascha zum ersten Mal die tiefere Wahrheit. Er lächelt nicht mehr zurückhaltend, seine Augen werden starr und kalt, die Lippen weichen von einem großen, gefährlichen Gebiss: »Zwischen dem Menschen und dem Pestbazillus«, sagt er, »gibt es keinen Frieden.« [...]

»Exzellenz« – er presst die Hand auf seine schöne Stirn –, »ich werde jetzt keine Selbstverständlichkeiten sagen, nicht, dass man für die Umtriebe einzelner ein ganzes Volk nicht büßen lassen darf, ich werde nicht fragen, warum Frauen und Kinder, kleine Kinder, wie Sie ja auch einmal eines waren, wegen einer Politik, von der sie nie etwas gehört haben, den bestialischsten Tod erleiden müssen. Ich will Ihren Blick auf Ihre und Ihres eigenen Volkes Zukunft lenken, Exzellenz! Auch dieser Krieg geht einmal zu Ende, und dann steht die Türkei vor der Notwendigkeit, Friedensverhandlungen zu führen. Möge dieser Tag für uns alle ein glücklicher Tag sein. Wenn er aber ein unglücklicher Tag ist, was dann, Exzellenz? Muss der verantwortliche Führer eines Volkes nicht auch für den Fall eines ungünstigen Kriegsendes Vorsorge treffen?« [...]

Enver Pascha bekommt träumerische Augen und sagt ohne Spott: »Ich danke Ihnen für diesen ausgezeichneten Hinweis. Aber wer sich in die Politik einlässt, muss zwei Eigen-schaften besitzen. Erstens einen gewissen Leichtsinn oder, wenn Sie wollen, Todesverachtung, was ja dasselbe ist, und zweitens den unerschütterlichen Glauben an seine Entschlüsse, wenn sie einmal gefasst sind.«

Nachbemerkung des Autors: Dieses Werk wurde im März des Jahres 1929 bei einem Aufenthalt in Damaskus entworfen. Das Jammerbild verstümmelter und verhungerter Flüchtlingskinder, die in einer Teppichfabrik arbeiteten, gab den entscheidenden Anstoß,·das unfassbare Schicksal des armenischen Volkes dem Totenreich alles Geschehenen zu entreißen. Die Niederschrift des Buches erfolgte in der Zeit vom Juli 1932 bis März 1933. Zwischendurch, im November gelegentlich einer Vorlesungsreihe in verschiedenen deutschen Städten, wählte der Verfasser das fünfte Kapitel des ersten Buches zum Vortrag, und zwar genau in der vorliegenden Form, die sich auf historische Überlieferung des Gespräches zwischen Enver Pascha und Pastor Johannes Lepsius stützt.

Breitenstein, Frühjahr 1933, F.W.