Die Verfassung ist tot - es lebe der Reformvertrag!
Ernüchternde Bilanz der deutschen EU-Ratspräsidentschaft - Sahra Wagenknecht, Berlin
Meßlatte für Erfolg oder Mißerfolg der deutschen EU-Ratspräsidentschaft, so stand es von Beginn fest, würde die Frage des Verfassungsvertrages sein. Mit großer Spannung wurde erwartet, ob es Deutschland gelänge, den Verfassungsprozeß zu neuem Leben zu erwecken. Nach der Regierungskonferenz Ende Juni in Brüssel war dann der letzte Zweifel beseitigt: Angela Merkel konnte mit stolzgeschwellter Brust die Einigung auf den so genannten Reformvertrag verkünden. Damit hatte sie der deutschen EU-Ratspräsidentschaft das Signum des Erfolgs verliehen und gleichzeitig ihre Position im Kreis der europäischen Staatschefs gefestigt. Mochte es dem Gipfel der Regierungschefs angesichts der häßlichen Auseinandersetzungen im Vorfeld auch an Glanz und Würde gefehlt haben – entscheidend ist das Resultat, und dies spricht eine klare Sprache: Unter deutscher Ägide ist es gelungen, die nach den ablehnenden Referenden in Frankreich und den Niederlanden verordnete "Reflexionsphase" der EU zu beenden und das vermeintlich Unmögliche wahr zu machen. Der Traum der europäischen Regierungschefs wird damit wahr: Die Verfassung ist gerettet!
Frau Merkel kennt die Tricks
Denn nichts anderes ist das, was jetzt als Reformvertrag verkauft wird. Der Name hat sich gewandelt, der Inhalt jedoch bleibt fast vollständig gleich. Irlands Ministerpräsident Bertie Ahern faßte es in Zahlen: "Etwa 90 Prozent des Kernpakets bleiben gegenüber dem europäischen Verfassungsvertrag unverändert", so lautete sein sichtlich zufrieden verkündetes Fazit. Valéry Giscard d´Estaing selbst, als ehemaliger Präsident des Verfassungskonvents der Architekt des Verfassungsvertrags, sprach von rein "kosmetischen Änderungen", die nur deshalb vorgenommen worden seien, damit der Vertrag nicht mehr aussehe wie die Verfassung und so "leichter zu schlucken sei". Unter diesen Umständen dürften die kleinen Wehmutstropfen, die fast ausschließlich im Rahmen der Symbolkraft angesiedelt sind, kaum noch ins Gewicht fallen. Jedenfalls steht nicht zu erwarten, daß der Verzicht auf ein explizites Bekenntnis zu EU-Hymne und -Fahne sowie die Umbenennung des EU-Außenministers im Kreise der europäischen Regierungen mehr als flüchtiges Bedauern auslösen werden. Schließlich ging es darum, die Kernsubstanz des Verfassungsvertrags zu sichern – und dies ist umfassend gelungen: Es gibt keine Änderung an der neoliberalen Ausrichtung des Vertrags, Wettbewerbsorientierung und Militarisierung sind weiterhin Programm. Wie Giscard betonte, habe man mit der Einigung auf den Reformvertrag "nur den Umschlag gewechselt. Der Brief im Innern des Umschlags ist nach wie vor der gleiche". Der Erfolg der deutschen Bundesregierung auf dem Brüsseler Gipfel ist deshalb ein niederschmetterndes Ergebnis für die Menschen in der EU. Ein soziales, gerechtes und demokratisches Europa rückt auch mit dem Reformvertrag in weite Ferne.
Die massiven Auseinandersetzungen im Vorfeld der Regierungskonferenz können nicht darüber hinwegtäuschen, daß es so gut wie keine Differenzen zwischen den Regierungen gibt, was die inhaltliche Ausrichtung des Vertrags betrifft. Im Gegenteil: Der neoliberale Inhalt der Verfassung, der maßgeblich zum negativen Votum der Bevölkerung in Frankreich und den Niederlanden geführt hatte, stand nie zur Debatte, sondern sollte unter allen Umständen bewahrt werden. Um die öffentliche Kritik zu bannen, mußten allerdings leichte Änderungen her. Vor diesem Hintergrund ist es ein geschickter Schachzug, auf Betreiben des französischen Präsidenten Sarkozy zwar den Verweis auf den freien und unverfälschten Wettbewerb als Ziel der EU am Anfang des Vertrags herauszunehmen – die inhaltliche Substanz jedoch mit Hilfe eines Zusatzprotokolls durch die Hintertür genauso verbindlich wieder in den Vertragstext hineinzubekommen. Frohlockend stellte der europäische Unternehmerverband Businesseurope umgehend fest, daß alle seine Vorschläge umgesetzt worden seien, und EU-Wettbewerbskommissarin Neelie Kroes erklärte, daß die vorgenommene Änderung keinerlei Einschränkung für die Politik haben werde. Nicolas Sarkozy hingegen, gerade gewählt, konnte durch seinen "Verhandlungserfolg" den Eindruck erwecken, er vertrete eine gemäßigte Politik, die das französische Non im Referendum berücksichtige – ohne jedoch auch nur ein Jota der neoliberalen Ausrichtung des Vertragswerks aufs Spiel zu setzen. Es ist jedenfalls kaum anzunehmen, daß gerade Nicolas Sarkozy, der einen Großangriff auf soziale Errungenschaften in Frankreich plant, plötzlich zum Kritiker des Wirtschaftsliberalismus mutiert ist.
Grund zur Freude haben auch andere, allen voran die Rüstungslobby. Sie, die massiv von den im Verfassungsvertrag festgeschriebenen Bestimmungen profitiert hätte und sich deshalb vehement für seine Annahme stark gemacht hatte, kann sich nach der Einigung auf den Reformvertrag wieder entspannt zurücklehnen, wurden doch sämtliche Regelungen des Verfassungsvertrags für den Militärbereich in den neuen Vertrag übernommen. Dies bedeutet, daß die Aufrüstungsverpflichtung auch im Reformvertrag Bestand hat. Ebenso ist die Einrichtung einer Rüstungsagentur festgeschrieben wie auch eine enge Zusammenarbeit zwischen EU und NATO. Wie der Verfassungsvertrag bildet der Reformvertrag einen neuen Rechtsrahmen für globale Militärinterventionen und für die Aufstellung von EU-Kampfeinheiten, zusätzlich soll auch die militärische Hilfe für Drittstaaten bei der Terrorismusbekämpfung ermöglicht werden. Dazu kommt die für künftige Steigerungen von Militär- und Rüstungsausgaben nicht unwichtige Bestimmung, einen eigenständigen Militärhaushalt zusätzlich zu den Mitteln der einzelnen EU-Mitgliedstaaten einrichten zu können. Kurz und gut: Sämtliche Kritik, die sich gegen den Verfassungsvertrag auf Grund seiner militärischen Ausrichtung und Schwerpunktsetzung richtete, hat weiterhin Bestand. Auch der Reformvertrag bleibt ein Militärvertrag!
"Europa gelingt gemeinsam", so lautete das Motto der deutschen Ratspräsidentschaft. Daß sich diese Parole aus Regierungssicht nicht gerade auf die Bevölkerung bezieht, wird dadurch unterstrichen, daß Volksabstimmungen über das Vertragswerk nach seiner Umbenennung nun unnötig werden. Daß dies ein ausgesprochen wichtiger Beweggrund für die Regierungen war, auf eine Verfassung formell zu verzichten und sich an ihrer Stelle auf einen Vertrag zu verständigen, machte neben Giscard d´Estaing auch der ehemalige Vizepräsident des Verfassungskonvents, Giuliano Amato, deutlich: Die Regierungschefs hätten beschlossen, den Vertrag schwerer lesbar zu machen, damit die Kernreformen nicht auf Anhieb erkennbar seien und sich Forderungen nach Referenden in den Mitgliedstaaten vermeiden ließen. Die Rechnung der Regierungen scheint aufgegangen zu sein. Bis auf Irland, wo ein Referendum zwingend vorgesehen ist, reicht zur Ratifizierung des Reformvertrags in den anderen Mitgliedstaaten die Zustimmung des Parlaments aus. Zur Erleichterung der Regierungschefs ist damit das Schreckgespenst erneuter ablehnender Voten wie bei den Verfassungsreferenden in Frankreich und den Niederlanden vorerst gebannt. Demokratischer wird die EU so allerdings nicht.
Das schöne Motto der deutschen Ratspräsidentschaft wurde gleichermaßen durch die unerträglichen Auseinandersetzungen im Vorfeld des Brüsseler EU-Gipfels nachhaltig erschüttert. Wenngleich man die Gefahr eines Auseinanderbrechens der Gemeinschaft in letzter Minute noch mit Mühe unter Kontrolle bekam, so hinterließ die Art der Auseinandersetzung doch einen ausgesprochen bitteren Nachgeschmack, der noch lange nachwirken dürfte. Es war nicht nur Krachen im Gebälk des "europäischen Hauses", was insbesondere von deutscher Seite gegen die polnische Regierung vorgebracht wurde. Flankiert von massiven Hetztiraden in den Medien mit klar erkennbaren rassistischen Untertönen wurde der Eindruck erweckt, Polen – mit seiner durchaus zutreffenden Kritik an der Bevorzugung Deutschlands in der Stimmverteilung – sei der einzig Schuldige an den existierenden Schwierigkeiten. Weit weniger wurde auf die Problematik Großbritanniens eingegangen, das sich der Grundrechtecharta vollständig verweigerte und dafür sorgte, daß ein zentrales Element des Verfassungsvertrags nunmehr weiter ausgehöhlt wird und für es selbst gleich gar keine Wirkung mehr entfaltet. Die Ausfälle gegen Polen sind mehr als ein harmloser Streit unter Partnern, zu Tage traten in der Auseinandersetzung übelste antipolnische Ressentiments.
Widerstand gegen den Reformvertrag!
Was der Öffentlichkeit als Erfolg der deutschen Ratspräsidentschaft präsentiert wird, könnte sich immer noch als Scheinerfolg erweisen. Die existierenden Probleme in Europa sind nicht durch den Formelkompromiß gebannt. Auch wenn nun alles getan wird, um schnellstmöglich und unter weitestgehender Ausklammerung einer öffentlichen Debatte den Reformvertrag im Hauruckverfahren endgültig unter Dach und Fach zu bringen, so hat doch das bisherige Vorgehen gezeigt, daß es mit der europäischen Einigung so weit her nicht ist. Der Versuch, ein Europa der Regierungen über die Interessen der Bevölkerung hinweg durchzusetzen, mag jetzt noch mit Mühe und Not gelingen. Europa den Menschen näher zu bringen, wird so allerdings nicht zu schaffen sein. Die mit dem Reformvertrag erzielte Einigung ist nichts anderes als die Neubestätigung einer verfehlten Politik. Vertan wurde die Chance, endlich eine Änderung des Kurses einzuleiten und ein anderes, besseres Europa zu begründen. In ihrer Bilanzrede vor dem Europaparlament äußerte Angela Merkel die Hoffnung, daß man in 50 Jahren auf 2007 zurückblicken und denken werde, daß die Weichen damals richtig gestellt worden seien. Es steht zu hoffen, daß die Menschen sich nicht ein halbes Jahrhundert Zeit lassen, um ihr Urteil zu fällen. Daß die Änderung einer Politik, die vor allem den Profitinteressen der Großkonzerne dient und die Bedürfnisse der Bevölkerung hintanstellt, mehr als überfällig ist, läßt sich auch heute erkennen. Wir brauchen ein anderes Europa. Kein Europa der Konzerne, wie es in Verfassung und jetzt Reformvertrag verankert ist, sondern ein soziales und demokratisches Europa, in dem die Menschen den Mittelpunkt bilden. Widerstand gegen den Reformvertrag bleibt deshalb so nötig wie gegen die Verfassung!