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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Die Schuldigen

Konrad Hannemann, Eisenhüttenstadt

Liebe Teilnehmer an dieser Gedenkfeier, welches unermessliche Leid die deutschen Okku­panten den Völkern der Sowjetunion angetan haben, kommt in dieser Begebenheit zum Ausdruck, die ich Euch jetzt vortrage. Dieses tatsächliche Ereignis hat der deutsche Schriftsteller Willi Bredel in seiner Novelle »Frühlingssonate« aufgezeichnet. Inhaltlich schildert er Folgendes:

Der sowjetische Hauptmann Nikolai Pritzker wurde auf Befehl des sowjetischen Stadtkom­mandanten arretiert.

Sein Verschulden lautet, er habe in betrunkenem Zustand die Wohnungseinrichtung eines deutschen Professors demoliert und die Familienangehörigen bedroht.

Was war geschehen?

Die besagte Professorenfamilie, also Vater, Mutter und zwei Mädchen, pflegten gern die Hausmusik. Eines Abends klopft es, vor der Tür steht Nikolai Pritzker. Die Klänge eines Brahms-Quartetts haben ihn angezogen. Er bittet um Einlass. Das wird ihm gewährt.

Und dann kommt er regelmäßig, lauscht den Klängen des Quartetts, bringt auch manchmal Lebensmittel und Wodka mit.

Eines Abends wird er nach seinem Lieblingsstück gefragt.

»Die Frühlingssonate von Beethoven« lautet die Antwort.

Die Familie des Professors greift das auf. Der zweite Satz, das Adagio, wird eingeübt.

Eines Abends ist es so weit, ein kleines Fest ist vorbereitet, rote Gladiolen stehen auf dem Tisch.

Schon bei den ersten Tönen hebt der Gast den Kopf und lauscht. Er blickt jeden Einzelnen an, aber nicht erfreut, eher erstaunt, sogar zornig. Und dann geschieht es. Ein Schrei, unverständliche Worte und berserkerhaftes Toben. Die Militärpolizei führt ihn schließlich ab.

Wie ist das Vorgefallene zu erklären?

Hauptmann Pritzker war vor seiner Einberufung zur Sowjetarmee Musikpädagoge in Kiew. Er war verheiratet, hatte einen Sohn und eine Tochter. Im Jahre 1942 haben deutsche Soldaten in Kiew Zehntausende von Juden zusammengetrieben wie Vieh und unweit der Stadt erschossen. Unter den Opfern befanden sich des Hauptmanns Frau und Kinder. Die Familie hatte am Abend, bevor Pritzker einberufen wurde, die »Frühlingssonate« von Beethoven gespielt.

Nachdenklich spricht der Professor nach diesem Ereignis: »Die Schuldigen sind doch eigentlich wir, … ich meine, wir Deutschen.«

Man stelle sich vor: Ein Offizier befindet sich in dem Land, aus dem die Menschen kamen, die seine Familie umgebracht haben. Die Mörder sind besiegt, aber die Menschen dieses Landes sind den Mördern nicht in dem Arm gefallen.

Und dann wird gerade das Stück, das eine deutsche Familie – aus der nicht einer fehlt – ihm nichtsahnend zur Freude spielt, zur größten Qual.

Kann man sich vorstellen, was in diesem Menschen vor sich ging?

Was Willi Bredel in dieser Novelle wiedergab, hat sich in den von deutschen Truppen besetzten Gebieten tausendfach abgespielt.

Darf man denn so etwas vergessen?

Im Osten Deutschlands haben wir damals die Erfahrung gemacht, dass russische Menschen größtenteils sehr kinderlieb sind.

Man stelle sich vor: Ein russischer Soldat beobachtet deutsche Kinder, die fröhlich spielen, ausgelassen herumtoben. Zunächst freut es ihn.

Aber sogleich muss er daran denken, dass seine eigenen Kinder irgendwo in russischer Erde begraben liegen. Hass kommt in ihm auf. Aber er weiß, dass er den Hass besiegen muss, wenn er will, dass Deutsche und Russen künftig friedlich miteinander auskommen sollen.

Was für eine innere Zerrissenheit!

Es gibt ein Gedicht von Jewtuschenko, das die Frage stellt: »Meinst Du, die Russen wollen Krieg?« Wer das erlebt hat – sicher nicht!

Aber wie sieht es heute aus?

Die NATO rückt mit ihren Stützpunkten immer näher an Russland heran. Die Begründung: Wir müssen uns vor den Russen schützen.

Wie glaubhaft eine solche Schutzbehauptung ist, darüber sollte man nachdenken.

Beitrag für eine Gedenkfeier anlässlich des 71. Jahrestages der Befreiung vom Faschismus am 8. Mai 2016.