Die "Rote Kapelle"
Romanauszug
Der sowjetische Autor Juri Korolkow veröffentlichte 1974 über die Rote Kapelle den Roman "Die innere Front", der im selben Jahr auch bei "Volk und Welt", Berlin, erschien. In diesem Roman berichtet der Gefängnisgeistliche von Plötzensee Pfarrer Poelchau über seine Begegnungen mit zum Tode verurteilten Angehörigen der Roten Kapelle. So wurden am 22. Dezember 1942 Hans Coppi, Arvid Harnack und Harro Schulze-Boysen hingerichtet. Am 5. August 1943 folgten die Hinrichtungen von Hilde Coppi, Oda Schottmüller, Maria Terwiel, Eva-Maria Buch und Adam Kuckhoff.
Wir gedenken dieser mutigen Widerstandskämpfer. Heutzutage wird die Frage gestellt: Waren sie Widerstandskämpfer oder Spione? Wir sagen: Spionage gegen Hitlerdeutschland war Widerstand. Pfarrer Poelchau erzählte auch über seine Begegnung mit Adam Kuckhoff:
Nach kurzer Pause fuhr der Pfarrer fort: "Der Dichter und Dramaturg Adam Kuckhoff war der älteste unter den maßgebenden Männern der Widerstandsgruppe Schulze-Boysen/Harnack, er stand im sechsundfünfzigsten Lebensjahr. Das letzte Zusammensein mit ihm hat sich mir besonders eingeprägt. Er saß am Tisch, den Rücken der geöffneten Zellentür zugekehrt. Er hatte die breiten Schultern eines Bauern und den großen Kopf eines Denkers. Über das Blatt Papier gebeugt, schrieb er die letzten Zeilen des letzten Abschiedsbriefes. Ich wartete, bis es geschehen war. Er legte seine breite Handfläche auf die fertigen Briefe und sagte: 'Nun denn, jetzt sind alle Rechnungen mit dem Leben beglichen.'
Ich habe Kuckhoff mehrmals aufgesucht. Er hatte Vertrauen zu mir gefaßt, und wir sprachen oft über Literatur, über Dichtkunst, in die Adam mit jugendlicher Leidenschaft verliebt war. Selbst im Gefängnis, mit gefesselten Händen, gab er das Schreiben nicht auf. Er legte Gedanken zu einer dialektischen Ästhetik nieder. Diese Aufzeichnungen sind ebensowenig erhalten geblieben wie die ökonomischen Arbeiten seines Freundes Arvid Harnack.
Sieben Monate vor der Hinrichtung hatte Adam an seinen fünfjährigen Sohn einen Brief geschrieben. Der Name des Knaben war Ule. Die Eltern hatten ihn so zu Ehren Eulenspiegels genannt, über den der Dichter ein Stück verfaßt hatte. Adam gab es mir zu lesen. (Später erfuhr ich, daß sein Buch zur Verschlüsselung von geheimen Funkmeldungen gedient hat.)
'Mein lieber kleiner großer Sohn!
Ja, mein Großer bist: Du', so begann Adam Kuckhoff den Brief, 'und verstehst schon so viel mit Deinem klugen Herzen, das hab ich gespürt, als Du mich hier besuchtest, und darum weißt Du auch und sollst es auch wissen, daß Dein Vater traurig ist, weil er an Deinem Geburtstag nicht bei Dir sein kann. Wie gern würde ich in Frankfurt mit Dir vors Haus gehen, wenn es dunkel ist, oder noch lieber in Berlin auf den großen Dachgarten und mit Dir nach den Sternen sehen, die Du immer schon als ganz kleiner Krott so liebgehabt hast.
Ich habe hier viel in dem großen Buch gelesen, in dem alles über die Sterne steht (erinnerst Du Dich?), und habe oft dabei an Dich gedacht, wie Du sie noch einmal sehen wolltest nach dem Luftalarm, und da waren die zwei schönen hellen, die immer zusammenstanden, und dann der große, und Du wolltest wissen, wie er hieß. Weißt Du es noch, nein, sicher nicht: der König der Sterne - Jupiter. Denke Dir, er hat acht Monde wie unser Mond, und er ist nur so weit weg, daß man sie nicht sehen kann. Aber in Berlin gibt es ein Haus, eine Sternwarte mit Fernrohren, und wenn man hindurchschaut, sieht man die Monde um den Jupiter, und unseren eigenen Mond sieht man ganz groß mit Bergen, so hoch wie die in Traunkirchen. Es tut mir leid, daß wir nicht einmal hingegangen sind, dann hätten wir auch den Saturn gesehen, der einen großen hellen Ring um sich hat. Das geht nun nicht. Aber weißt Du was? Weil wir beide die Sterne so gern haben, wollen wir in der Stunde Deiner Geburt, so zwischen halb fünf und fünf, aus dem Fenster zum Himmel hinaufsehen und ganz besonders lieb aneinander und an Mutter denken. Und wenn der Himmel voll Wolken ist, so denke, daß es so ist wie damals, als sie Dich geboren hat und fast dabei gestorben wäre, und wenn es klar ist, daß das dieselben Sterne sind, die damals hinter den dunklen Wolken gestanden haben ... Geliebtes Kind, ich nehme Dich in meine Arme und küsse Dich. Schreib mir einmal. Dein Vater.'
Kurz vorm Verlassen der Zelle zum letzten Gang schrieb er noch einige Verszeilen für Ule nieder:
Mein lieber Sohn, du großes spätes Glück,
so lasse ich dich vaterlos zurück?
Ein ganzes Volk - nein, das ist viel zu klein,
das Menschenvolk wird dir dein Vater sein!
Ich weiß", fuhr der Geistliche fort, "daß meine Erinnerungen bei weitem nicht vollständig sind. Ich kam nicht mit allen verhafteten und verurteilten Mitgliedern der Roten Kapelle in Berührung. Aber auch bei etlichen Mitgliedern der Gruppe, die ich besuchte, ist mir ihre Zugehörigkeit nicht klargeworden oder erst viel später. Sie schwiegen mit Recht darüber.
Unter denen, die angeklagt waren, befanden sich Vertreter verschiedener Gesellschaftsschichten, Menschen verschiedener Berufe und unterschiedlichen Alters. Was sie vereinigte, war der Widerstand gegen das faschistische Regime. Der im Patriarchenalter stehende Emil Hübner fiel den Henkern am selben Tag zum Opfer wie seine Tochter und deren Mann. Das geschah im August 1943. Zusammen mit der Familie des achtzigjährigen Hübner wurden auch die Studentinnen Ursula Goetze und Eva-Maria Buch enthauptet. Beide starben wie Heilige. Vor ihrem Tode suchten sie andere zu retten, indem sie in allem sich selber beschuldigten, nur sich allein. Aber ihr Opfermut hatte keine Bedeutung mehr - alle zum Tode Verurteilten wurden hingerichtet. ..."
Abschiedsbriefe hingerichteter Mitglieder der "Roten Kapelle"
Adam Kuckhoff, 30. August 1887 - 5. August 1943)
Plötzensee, den 5. August 1943
Meine Greta!
Ich weiß, daß es schwerer für Dich ist, als wenn Du mit mir gegangen wärst, aber ich muß mich freuen, daß Du - ich hoffe es - bleibst: für den Sohn, für alles, was nur in Dir so lebendig ist, ich fühle es ganz klar voraus, ich weiß, "wie Du leben wirst", wenn Du wieder in Freiheit bist: für das, was alle Deine Briefe atmeten. Gern und für vieles fruchtbar hätte ich weitergelebt, so sinnlich gegenwärtig ist mir gerade heute so mancher Augenblick mit Dir, mit Euch - der Feuerkogel! - gewesen. Aber der Sinn eines Lebens fließt aus ihm selbst, aus allem, was es gewesen ist, wirklich gewesen ist. Es war mit Dir - ich wiederhole es noch einmal - die volle Erfüllung. Wie viele Menschen können von sich sagen, daß sie so glücklich gewesen sind. Was noch? "Nichts blieb, so wie wir zusammengingen ..." So war es, als wir uns zuletzt sahen, und so ist es geblieben. Was noch in diesen Stunden zu sagen wäre, steht in den Briefen an die anderen, ich brauche es nicht zu wiederholen. Falls ich für die Deinen nicht Zeit und Raum habe, sag ihnen, wieviel sie mir, insbesondere auch Mutters Briefe, gewesen sind und wie glücklich ich bin, Dich ihnen erhalten zu wissen. Es ist 5 Uhr, kurz bevor ich gehe, schreibe ich Dir den letzten Gruß.
Walter Husemann, 2. Dezember 1909 - 13. Mai 1943
Mein lieber Vater!
Sei stark! Ich sterbe, als was ich gelebt habe: als Klassenkämpfer! Es ist leicht, sich Kommunist zu nennen, solange man nicht dafür zu bluten hat. Ob man wirklich einer war, beweist man erst, wenn die Stunde der Bewährung gekommen ist. Ich bin es, Vater!
Ich habe alles getan, um mich zu retten, ja, ich habe meine Vergangenheit in gewisser Weise verleugnet, um mich zu retten und vor allem auch, um andere nicht in diese Geschichte hineinzuziehen. Es hat mir zwar nichts genutzt, aber den anderen, für die ich verantwortlich war. Das ist mir ein Trost.
Ich leide nicht, Vater, glaube mir das! Ich gönne keinem, mich schwach zu sehen. Anständig aus dem Leben zu gehen, das ist die letzte Aufgabe, die ich mir gestellt habe, mutig und treu bis ins Mark meiner Knochen.
Erweise Dich Deines Sohnes würdig! Überwinde den Schmerz! Du hast noch Deine Aufgabe zu erfüllen. Du hast sie doppelt und dreifach zu erfüllen, denn Deine Söhne sind nicht mehr.
Armer Vater, aber auch glücklicher Vater, der seiner Idee das Beste opfern mußte, das er zu geben hatte!
Der Krieg wird nicht mehr lange dauern - und dann ist Eure Stunde gekommen! Denkt an alle, die den Weg schon gegangen sind und ihn noch gehen werden, den ich heute gehen muß - und lernt eins von den Nazis: Jede Schwäche wird mit Hekatomben von Blut bezahlt werden. Deshalb seid unerbittlich! Bleibe hart!
Ich habe nichts zu bereuen im Leben, höchstens, nicht genug getan zu haben! Mein Tod aber wird wohl auch die versöhnen, die mit mir nicht immer einverstanden waren!
Ich hätte gerne noch die neue Zeit erlebt. Daß ich sie nicht mehr erleben soll, ist mir manchmal bitter angekommen. Aber auch Lenin, Liebknecht, Luxemburg haben nicht mehr die Früchte ihrer Arbeit ernten können, und sie hatten es tausendfach mehr verdient als ich! Wir sind nun mal der Dung, der noch in die Erde muß, bevor eine neue und schönere Saat für die Menschheit aufgehen kann.
In Dir, in Frieda, in allen, die ich gekannt habe und die unserer Sache treu und ergeben sind, lebe ich fort, und für manchen wird mein Tod ein Ansporn sein, es besser zu machen.
So werde ich doch nicht ganz nutzlos in den Tod gegangen sein.
Ach, Vater, Vater, Du Lieber, Guter! Wenn ich nicht fürchten müßte, daß Du unter meinem Tode zusammenbrichst!
Hart bleiben, hart, hart!
Beweise jetzt, daß Du aus innerstem Herzen Dein Leben lang Klassenkämpfer warst! Helfe ihm, Frieda, richte ihn auf! Er darf nicht zugrunde gehen! Sein Leben gehört nicht ihm, sondern der Bewegung. Jetzt tausendmal mehr als bisher! Jetzt muß er beweisen, daß seine Überzeugung nicht in einem romantischen Ideal, sondern in unerbittlicher Notwendigkeit wurzelt!
Sorge für Marta. Sie ist Eure Tochter. Sie wird Euch es leichter ertragen lassen, daß ich nicht mehr bin.
Grüßt alle Bekannten und Freunde. Ich will sie nicht mit Namen nennen. Aber ich drücke noch jedem einzelnen in Gedanken die Hand und danke für alle Liebe und alles Gute.
Ich sterbe leicht, weil ich weiß, warum ich sterben muß. Die mich töten, werden in nicht so langer Zeit einen schwereren Tod haben. Das ist meine Überzeugung.
Hart bleiben, Vater, hart! Nicht nachgeben! Denke in jeder schwachen Stunde an diese letzte Forderung
Deines Sohnes Walter
Quelle: Luise Kraushaar: Deutsche Widerstandskämpfer 1933-1945, Bd. 2, S. 546 und 440-442; Dietz Verlag Berlin 1970.