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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Die Republik braucht alle Frauen – alle Frauen brauchen die Republik

Dr. Ursula Schröter, Berlin

 

Unter diesem Motto fand Ende Juni 1964 der Erste Frauenkongress der DDR statt – ein aufwändig vorbereitetes Ereignis, das in vielerlei Hinsicht verdient, nicht vergessen zu werden. Ich habe im Bundesarchiv Lichterfelde nach den historischen Unterlagen gesucht und viel gefunden [1].

Um heute die geschichtliche Bedeutung des Kongresses zu erfassen, muss man sich die politischen Besonderheiten der ersten 60er Jahre vor Augen führen. In dieser Zeit waren auch in der DDR die schlimmsten materiellen Kriegsfolgen beseitigt und die sozialistischen Eigentumsverhältnisse im Wesentlichen geschaffen. Es war eine neue Generation herangewachsen, nach neuen Maßstäben gebildet und erzogen, die auch ihre Lebensansprüche auf neue Weise formulierte. Für Frauen, nicht nur für die ganz jungen, war die Bildungsoffensive im Gang oder schon abgeschlossen und Berufstätigkeit zunehmend selbstverständlich. 1962 betrug die Beschäftigtenquote (berufstätig oder in Ausbildung) der Frauen im entsprechenden Alter reichlich 70 Prozent. Dabei war weibliche Berufstätigkeit nicht nur, wie heute immer wieder behauptet wird, der ökonomischen Notwendigkeit geschuldet, sie gehörte vielmehr zum Gesellschaftskonzept, dessen Frauenpolitik vor allem August Bebel Ende des 19. Jahrhunderts in seinem Werk "Die Frau und der Sozialismus" anschaulich beschrieben hatte. Anfang der 60er Jahre schien in der DDR die Zeit reif zu sein, um neu über dieses Konzept nachzudenken, um außer Klassenwidersprüchen auch noch andere gesellschaftliche Widersprüche wahrzunehmen.

Lotte Ulbricht: Umerziehung der Männer

Anders ist nicht zu erklären, dass zwischen 1961 und 1965 parteipolitische Beschlüsse gefasst wurden, Dokumente entstanden, Gesetze verabschiedet wurden und eben auch Kongresse durchgeführt wurden, die später nicht mehr so richtig in die politische Landschaft passten, teilweise in der späteren Geschichtsschreibung ignoriert wurden. Erinnert sei an das "Kommuniqué des Politbüros des Zentralkomitees der SED ‚Die Frau, der Frieden und der Sozialismus‘ vom 23. Dezember 1961", an das entsprechende Jugendkommuniqué "Der Jugend Vertrauen und Verantwortung" von 1963, an die Veranstaltungen zum 10-jährigen Bestehen der selbständigen betrieblichen Frauenausschüsse, an das Jugendgesetz von 1964 und das Familiengesetz von 1965, nicht zuletzt an die Gründung des wissenschaftlichen Beirates "Die Frau in der sozialistischen Gesellschaft" an der Deutschen Akademie der Wissenschaften (später Akademie der Wissenschaften der DDR). Auch auf ökonomischem (Stichwort: NÖSPL) und kulturpolitischem Gebiet wurden in jener Zeit neue Zeichen gesetzt. All diese Bemühungen, die möglicherweise das sozialistische Gesellschaftskonzept hätten verändern und stabilisieren können, wurden spätestens Ende 1965 beendet. Das Frauenkommuniqué verkam danach zu einer Worthülse. Die selbständigen betrieblichen Frauenausschüsse wurden der Gewerkschaft unterstellt. Der DFD nahm, entgegen seinem Gründungsgelöbnis, die führende Rolle der SED in sein Statut auf. Und - unser Thema - das gesellschaftskritische Niveau des ersten Frauenkongresses blieb einmalig.

Der Kongress sollte eine große Aussprache über die Probleme sein, die die SED-Führung mit dem Frauenkommuniqué angesprochen hatte. In dem Dokument von 1961 war ganz behutsam auf patriarchales Denken (weniger auf die dahinter stehenden Strukturen) in der DDR aufmerksam gemacht worden. Im Kern ging es um die Überwindung zweier Mängel der bisherigen Frauenpolitik: Zu wenig Frauen seien an der Leitung des Staates beteiligt, und zu wenig Frauen würden naturwissenschaftliche und technische Berufe ergreifen. Vor allem Lotte Ulbricht nutzte jede Gelegenheit, um zu betonen, dass diese Mängel wenig mit den Minderwertigkeitsgefühlen der Frauen zu tun haben, sondern dass das Kommuniqué für Männer geschrieben wurde, weil männliche Wirtschafts-, Gewerkschafts- und Parteifunktionäre die Rolle der Frau im Sozialismus unterschätzen würden. Notwendig sei vor allem eine Umerziehung der Männer.

Der Kongress war als Ereignis geplant, das niemand übersehen sollte: 1.200 gewählte Delegierte, 350 Ehrengäste aus der DDR, 103 Ehrengäste aus der Bundesrepublik bzw. Westberlin und 63 ausländische Ehrengäste aus 32 Ländern.

Ungewöhnlich war bereits, dass im Dezember 1963 das Sekretariat des Zentralkomitees der SED die Durchführung eines solchen Kongresses beschloss. Bis dahin oblag es dem DFD und seinen Bundeskongressen, die Frauenprobleme auf DDR-Ebene publik zu machen. Nun also erstmalig ein zentraler Frauenkongress, auf dem die DFD-Mitglieder nur zu etwa 50 Prozent vertreten sein sollten (und vertreten waren). Die Beweggründe für diese Entscheidung sind ganz offensichtlich nicht archiviert und können nur vermutet werden. Offensichtlich gab es damals widersprüchliche Auffassungen zur Notwendigkeit einer Frauenorganisation im Sozialismus. Fakt ist, dass der DFD nicht aufgelöst und dass auch die Praxis der zentralen Frauenkongresse - sieht man von einem zweiten sehr viel "braveren" Kongress 1969 ab - nicht fortgesetzt wurde.

Aber im ersten Halbjahr 1964 stand das ganze Land im Banne der Vorbereitung einer großen Aussprache über Frauenthemen. Die Agitationskommission beim Politbüro des ZK der SED hatte schon im Januar ihre Empfehlungen und Hinweise für die Presse, für das Fernsehen, für den Rundfunk bekanntgegeben. Danach sollte zum Beispiel am Mittwoch vor dem Internationalen Frauentag ein Gespräch zwischen Karl-Eduard von Schnitzler und (möglichst) Lotte Ulbricht gesendet werden. "In den Sonnabend-Nachmittag-Sendungen des Fernsehens soll der Vorbereitung des Frauenkongresses ein ständiger Platz möglichst zu gleichbleibender Sendezeit eingeräumt werden … Es wird empfohlen, dass der Rundfunk eine analoge Sendung einrichtet ... Zum Kongress wird eine Sonderbriefmarke herausgegeben, da es sich um den ersten Frauenkongress der DDR handelt ... Es wird eine DIA-Serie von etwa 12 wichtigen Frauen aus Betrieben und Landwirtschaft, Kunst und Wissenschaft, aber auch von Frauen mit politischer Funktion ... herausgegeben, die in den Kinos laufen soll ... Zum gleichen Zweck wird eine Postkartenserie ... herausgegeben ... Die Frauenzeitschrift "Für Dich" und die "Wochenpost" bringen unter dem Titel (oder so ähnlich) "Männer schreiben über ihre Frauen" viele Briefe von Männern, die in den Briefen darlegen, wie sie mit ihren Frauen gemeinsam arbeiten, wie sie sich gegenseitig helfen, wie sie gemeinsam lernen, wie sie sich um die Kinder kümmern usw".

Ratschläge, Vorschläge und falsche Probleme

Gleichzeitig arbeitete seit Dezember 1963 die Antragskommission und berichtete regelmäßig über Umfang und Inhalt der Anträge, die die DDR-Frauen einreichten und vom Kongress behandelt haben wollten. Schließlich lagen mehr als 13.000 Anträge vor, die solche und ähnliche Themen betrafen:

  • Das Schulessen ist zu verbessern
  • Geeignete Publikationen für 11- bis 16-jährige Jugendliche fehlen
  • Für 12- bis 14-Jährige gibt es zu wenig Konfektion
  • Spezielle Sportgruppen für Frauen fehlen
  • Die Hortnerinnen müssen besser ausgebildet (und bezahlt) werden
  • Versorgungsprobleme vor allem auf dem Land sind zu beseitigen
  • Jugendliche im Pubertätsalter sind mehr zu beachten
  • Für Ernte-Kindergärten sind längere Öffnungszeiten notwendig
  • Betreuungsmöglichkeiten für leicht erkrankte Kinder sind zu schaffen
  • Krebs-Pflichtuntersuchungen sollten analog zur Tbc-Vorsorge organisiert werden
  • Halbwaisenrente ist neu zu regeln
  • Sprechzeiten in staatlichen Organen müssen länger sein
  • Rentenalter für Frauen muss herabgesetzt werden

Und immer wieder die Forderung nach "bewusster Mutterschaft", nach einer Lockerung der gesetzlichen Bestimmungen über Schwangerschaftsabbruch.

Parallel dazu waren die SED-Bezirksleitungen aufgefordert worden, über "Frauenfragen" in ihren Bezirken an das Zentralkomitee zu berichten. Auch hier ist ein umfangreiches Spektrum dokumentiert. Es gäbe Unzufriedenheit mit den Ladenöffnungszeiten, mit der Warenstreuung, mit der Versorgung mit Diätkost, mit dem Wahlessen und Schichtessen in den Betrieben, mit der Versorgung mit Kinderoberbekleidung und Kinderschlafanzügen, mit den Fleisch- und Gurkenpreisen, mit dem Angebot von Tierarzt-Vorträgen, mit den Unterbringungsmöglichkeiten für leicht erkrankte Kinder. Unzufrieden seien die Frauen auch, weil das Arbeiten in landwirtschaftlichen Berufen als Strafe betrachtet würde, weil zu wenig Frauen als LPG-Vorsitzende arbeiten, weil konfirmierte Kinder benachteiligt würden oder weil alte Menschen zwar nach Westdeutschland ziehen dürften, aber nicht reisen.

Nicht zuletzt sammelte in Vorbereitung des Kongresses auch der DFD auf seinen unterschiedlichen Ebenen Fragen, Sorgen und Wünsche der Frauen. So kam aus dem Bezirk Neubrandenburg die Botschaft, dass es nach Meinung der Frauen auf dem Dorf keine Perspektive für die Kinder gäbe, oder aus dem Bezirk Schwerin, dass eine Frau als Vorsitzende der LPG für die Männer beschämend sei.

Noch vor dem Kongress wurden die parteipolitischen Vorbehalte über diese Art Anträge und Frauensorgen deutlich. Es hätte "ideologische Ursachen, dass die Probleme der Erleichterung des Lebens so in den Vordergrund gestellt werden … Natürlich muss man auch die praktischen Fragen, die das Leben der Frauen betreffen, mit ihnen besprechen. Aber wir dürfen nicht dabei stehen bleiben, sondern müssen ihnen die politischen Zusammenhänge erklären … Wir müssen uns vorher Gedanken darüber machen, welche politischen Fragen wir an die Frauen heranbringen wollen, worüber sie Bescheid wissen müssen". Die Hauptfrage des Kongresses sei doch, "was die Republik für Frauen bedeutet, was ihnen die Republik gegeben hat und warum die DDR ihr Vaterland ist. Bis jetzt werden vorwiegend die Probleme der Erleichterungen für die Frauen diskutiert, wobei diese Diskussion ... dazu angetan ist, von den Hauptfragen des Kongresses abzulenken."

Hier lohnt es sich, einen Moment innezuhalten und die unterschiedlichen Aussagen zu ordnen. Da werden die Frauen von der führenden Partei ermuntert, ihre Probleme öffentlich zu machen, und später beklagt sich die gleiche Partei, dass die falschen Probleme auf dem Tisch liegen. Leider habe ich kein Dokument gefunden, das dafür spricht, dass die 13.000 Anträge der Frauen auch als bemerkenswerter Beleg der Verbundenheit der Frauen mit ihrem Staat gedeutet werden konnten. Wenn sich Menschen massenhaft auch mit ihren so genannten kleinen Sorgen an die Regierenden wenden, dann demonstrieren sie Vertrauen in die Veränderungsbereitschaft der "Oberen" und gleichzeitig in die Veränderungsmöglichkeiten der gesellschaftlichen Strukturen. Dass genau dieses Vertrauen damals viele Frauen an die DDR band, dass sie also die Republik, um auf das Motto des Kongresses zu verweisen, ganz unmittelbar brauchten, dieser Zusammenhang wurde wohl nicht erkannt, zumindest nicht dokumentiert.

Von den Beiträgen, die auf dem Kongress zur Debatte standen, möchte ich hier nur den von Hilde Benjamin hervorheben. Sie sprach zum Thema Familienbeziehungen und brachte die Fragen auf den Punkt, die diesbezüglich in der DDR herangereift waren. "Es bildeten sich neue gesellschaftliche Verhältnisse und Konflikte, deren Gesetzmäßigkeiten noch kaum wissenschaftlich erforscht sind. Es entstehen Problemkreise für unsere Soziologen, unsere Psychologen und auch die Juristen wie etwa folgende: Wie entwickeln sich Ehe und Familienleben, wenn die Mutter berufstätig ist, wenn sie studiert oder abends weiterlernt? Wie entwickeln sich die Kinder in solchen fortgeschrittenen Familien? Welche Probleme der Leitung der Menschen auf Hochschulen, in Betrieben ergeben sich gegenüber den verheirateten Frauen und auch gegenüber den Männern und Vätern solcher Familien? Wie verändert sich die Frau selbst in der Vielfalt der neuen Beziehungen, in die sie eingetreten ist? Wie ist die Rolle der nicht oder zeitweilig nicht berufstätigen Frauen in unserer Gesellschaft? Wie ist ihre Entwicklung und Förderung? Wenn wir unsere ganze Gesellschaft betrachten, müssen wir auch fragen: Wie verändert sich der Mann in diesem neuen Arbeits-, Familien- und Gesellschaftsverhältnis?"

Klassenkampf, Schlafanzüge und Gurkenpreise

Die reichlich 13.000 Anträge der Frauen beschäftigten die staatlichen Stellen der DDR noch lange. So musste die Staatliche Zentralverwaltung für Statistik ihre Kennziffern verändern, damit bessere Aussagen zum Qualifikationsniveau der Frauen möglich wurden. Dokumentiert ist auch, dass ab dem zweiten Halbjahr 1965 die Versorgung aller Bezirke der DDR mit löffelfertiger Kindernahrung gewährleistet wurde und dass noch 1965 die Produktion von tischfertigen Gefriergerichten verdreifacht werden kann. Gleichzeitig wurde mit Bezug auf Frauenkongress-Anträge festgelegt, dass die Hortarbeit in den Schulen zu analysieren ist, dass die Arbeit mit den Lehrerinnen zu verbessern ist, dass mit Studentinnen und dem wissenschaftlichen Nachwuchs Beratungen durchzuführen sind, dass für einige künstlerische Berufe (Tänzerinnen) eine Zweitausbildung anzubieten ist und vieles mehr.

Bereits vor dem Kongress wurde sowohl das Ministerium für Gesundheitswesen als auch die Frauenkommission des Politbüros über die Anträge auf "bewusste Mutterschaft" informiert. Eine entsprechende Änderung der gesetzlichen Vorschriften (Erweiterung der so genannten sozialen Indikation) erfolgte dann im Jahr 1965 durch eine Instruktion des Ministerrates.

Mit dem, was die SED-Führung "ideologisches Niveau der Frauen" nannte, blieb sie allerdings unzufrieden, so dass bereits am 9. Juli 1964 die "Ideologische Kommission beim Politbüro der SED" Schlussfolgerungen aus dem Frauenkongress "zur Verbesserung der ideologischen Arbeit mit den Frauen" ziehen musste. Dass die Frauen in erster Linie an hohe Gurkenpreise und fehlende Kinderschlafanzüge dachten und erst danach an den Klassenkampf, wurde ihnen offenbar als schwerwiegender Mangel in ihrem Denken angelastet, vielleicht auch als Undankbarkeit der Gesellschaft gegenüber. Ein Blick voraus auf die Dokumente des zweiten zentralen Frauenkongresses (11. bis 13. Juni 1969) könnte zu dem (Trug)Schluss führen, dass sich hier schon bald viel änderte, denn in einer Information an die SED-Führung vom 23. Juni 1969 über diesen zweiten Kongress heißt es: "Der Kongress machte eindrucksvoll sichtbar, dass die Frauen und Mädchen bereit sind, Verantwortung für das Ganze zu tragen. Sie beschäftigen sich nicht nur mit Problemen, die sich auf ihr unmittelbares Leben in der Familie, auf ihren Arbeitsplatz beziehen, sondern auch mit solchen, die das Vorwärtskommen unserer ganzen Gesellschaft betreffen ... Besonders beeindruckend war das klassenbewusste Auftreten der Arbeiterinnen … (und) das selbstbewusste und kluge Auftreten der Genossenschaftsbäuerinnen". Aber das war dann schon nicht mehr die hoffnungsvolle Zeit, in der am frauenpolitischen (auch am jugendpolitischen) Konzept des DDR-Sozialismus gerüttelt wurde. Juni 2014

 

Anmerkung:

[1] Die exakten Quellenangaben für die hier genannten Fakten und Zitate sind bei der Autorin erhältlich.