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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Die Nürnberger Gesetze – Schnee von Gestern?

Dr. Friedrich Wolff, Stolzenhagen

 

Vor 75 Jahren erließ Hitler seine Rassengesetze. Verkündet wurden sie auf einem "Reichsparteitag" in Nürnberg und wurden deshalb Nürnberger Gesetze genannt. Wer weiß das noch? Von den Wissenden dürften viele sie für Schnee von gestern halten. Geschichte. Bedeutungslos für die Gegenwart. Das darf nicht sein. Hitlers Rassengesetze sind ein furchterregendes bleibendes Beispiel für die Verführbarkeit eines Volkes. Das deutsche Volk, das sich gern das Volk der Dichter und Denker nennen ließ, folgte nach 1933 in seiner übergroßen Mehrheit den Wahnideen von einer "jüdisch-bolschewistischen Weltverschwörung". Die Nazis verkündeten und viele glaubten, die Juden seien an allem schuld. Die Nürnberger Gesetze bauten darauf auf. Das bedeutete:

  • Juden verloren die deutsche Staatsbürgerschaft,
  • Juden durften keine "Arier" heiraten,
  • Juden durften mit "Ariern" keinen "außerehelichen Verkehr" haben,
  • Juden konnten keine öffentlichen Ämter bekleiden,
  • Juden durften in Berlin Straßen und Plätze, über die der Judenbann verhängt worden war, nicht betreten,
  • Juden durften nicht auf Parkbänken sitzen, keine öffentlichen Verkehrsmittel nutzen usw.

Die Ver- und Gebote, die Juden diskriminierten und entrechteten, waren nahezu zahllos. So erließ der Bürgermeister der Gemeinde Königsdorf (Bayern) am 3. Oktober 1935 folgende Bekanntmachung:

"Betr. 'Regelung der gemeinschaftlichen Bullenhaltung' und 'Abwendung der Seuchengefahr'. 1. Kühe und Rinder, welche vom Juden direkt oder indirekt angekauft werden, sind zum Zutrieb zum gemeinschaftlichen Bullen nicht zugelassen. 2. Kühe und Rinder aus Stallungen, in welchen von Juden gekauftes Vieh steht, unterliege einer Beobachtung auf die Dauer von einem Jahr. Sie sind während dieser Zeit vom Zutrieb zum gemeinschaftlichen Bullen ausgeschlossen." [Kurt Pätzold (Hg), Verfolgung, Vertreibung; Vernichtung, Leipzig 1983, S. 115]

Die Nazis schienen die Deutschen um ihren gesunden Menschenverstand gebracht zu haben. Albert Einstein schrieb am 5. April 1933 einen Brief an die Preußische Akademie der Wissenschaften. Er bezog sich auf eine von ihm zuvor abgegebene Presseerklärung: "Ich erklärte ... den Zustand im jetzigen Deutschland als einen Zustand psychischer Erkrankung der Massen ..." [Ebenda, S. 52] Am 30. 3. 1934 wurde Einstein die deutsche Staatsangehörigkeit aberkannt und sein Vermögen eingezogen. [Ebenda, S. 78]

Ja, eine Massenpsychose war eingetreten. Wie konnte das deutsche Volk, das Volk der Dichter und Denker, in diesen Zustand geraten?

Eine Bedingung war offenbar: In Deutschland herrschte 1929 große Not, es litt unter der Weltwirtschaftskrise, der Versailler Vertrag hatte ihm zusätzlich schwere Lasten aufgebürdet. 1932 waren 6,2 Millionen arbeitslos – das entsprach einer Arbeitslosenquote von 44%. Die Arbeitslosenunterstützung schützte damals nicht vor Hunger. Kuczynski zitiert den Brief eines Arbeitslosen an die "Rote Fahne": "Zwei Jahre und sieben Monate bin ich arbeitslos. Zwei Jahre und sieben Monate führt man nun schon ein Hundeleben. Nein, ein Hund lebt in Deutschland besser. Für einen Polizeihund des Herrn Severing zahlt der Staat 53 Mark Unterhaltungskosten. Ich, ein lediger Erwerbsloser, dem dieser Staat keine Arbeit geben kann, erhalte 36,40 Mark monatliche Unterstützung. Der Hund schläft in der warmen Polizeistube. Ich in einem kalten, feuchten Kellerloch, das vier Meter lang und 1,90 Meter breit ist, außerdem weder Sonne noch Himmel zu sehen ist. Dafür muß ich denn noch 20 Mark monatliche Miete bezahlen!" [Zitiert nach Jürgen Kuczynski, Geschichte des Alltags des Deutschen Volkes. Studien 5. Berlin 1983, S. 145] Kuczynski zitiert noch mehr derartige Briefe. Das Elend war also groß. Die Menschen suchten nach einem Ausweg, sie suchten ihn im Sozialismus. Bei den Reichstagswahlen erhielten die Parteien folgende Stimmen:

 19281932
NSDAP0,810 Millionen13,700 Millionen
DNVP4,400 Millionen2,100 Millionen
DVP2,700 Millionen0,436 Millionen
DDP (Deutsche Staatspartei)1,500 Millionen0,371 Millionen
Wirtschaftspartei1,300 Millionen0,146 Millionen
SPD9,100 Millionen7,900 Millionen
KPD3,200 Millionen5,200 Millionen

Es stimmten 1928 also 13,11 Millionen Wähler für Parteien, die sie für sozialistische Parteien hielten. Alle anderen Parteien erhielten 9,9 Millionen Stimmen. Im Jahr 1933 erhielten die Parteien, die vorgaben, für den Sozialismus einzutreten, 26,8 Millionen Stimmen. Alle anderen Parteien kamen nur noch auf 2,682 Millionen Stimmen. Die Deutschen wollten den Sozialismus. Eine Partei, die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei, betrog sie. Sie war weder sozialistisch noch eine Arbeiterpartei.

Die zweite Bedingung für Hitlers Wahlerfolg war folglich die Täuschung der Wähler. Er versprach Sozialismus, nicht nur im Parteinamen. Er wetterte gegen die Kapitalisten, die er Plutokraten nannte und ließ sich insgeheim von ihnen bezahlen. Und er knüpfte an alte Vorurteile an: Die Juden und die Bolschewisten sind an allem schuld, wiederholte er immer wieder. Er zeichnete das Bild einer Verschwörung, die er jüdisch-bolschewistische Weltverschwörung nannte. Sein Sozialismus sollte eine deutscher sein. Er mißbrauchte so die patriotischen Gefühle der Deutschen und verbreitete die Dolchstoßlegende, nach der Deutschland den Ersten Weltkrieg nur wegen der Sozialdemokratie verloren habe. Seine Lügen knüpften also geschickt an verbreitete Vorurteile an: Sozialismus war gut, Antisemitismus war verbreitet, zur arischen Herrenrasse zu gehören war gut, Patriotismus sowieso. Das wurde geglaubt, so irrational, ja idiotisch die Argumente auch waren, großen Teilen des Volkes erschienen sie als der gesuchte Ausweg aus der Krise.

Die faschistische Ideologie hätte jedoch die Massen nicht so verführt, wenn sie nicht geschickt verbreitet worden wäre. Erfolgreiche Propaganda war die dritte Bedingung für Hitlers Wahlerfolg. In "Mein Kampf" hatte er schon 1924 den Wert der Propaganda und ihre Zielrichtung verkündet: "Gerade darin liegt die Kunst der Propaganda, daß sie, die gefühlsmäßige Vorstellungswelt der großen Masse begreifend, in psychologisch richtiger Form den Weg zur Aufmerksamkeit und weiter zum Herzen der breiten Masse findet." [Zitiert nach de.wikipdia.org/wiki/NS-Propaganda] Die Bedeutung der Propaganda für den Erfolg Hitlers wurde nach meiner Ansicht vielfach unterschätzt. Sie ist für die aktuelle Politik von nicht geringerer Bedeutung. Wolfgang Ruge schrieb 1982:

"Von 1929 an ließ Hugenberg, der als eine Art Generalschatzmeister der Ruhrmagnaten fungierte, 20% der ihm von Unternehmensverbänden und Privatpersonen zugehenden Mittel, d.h. etwa 2 Millionen Mark jährlich, an die NSDAP abführen." [Wolfgang Ruge, Deutschland 1917-1933, 4. Auflage Berlin 1982, S. 347] Ruge teilte weiter mit: "Mit Hilfe ihrer bis Ende 1929 neugegründeten 50 Tageszeitungen, über ihre verstärkt ausgebauten Berufsorganisationen, ihre kulturellen Institutionen ('NS-Volksbühne' usw.) trugen die Faschisten ihre soziale und Demagogie in die Massen." [Ebenda, S. 349]

Hitler gelangte also nicht durch einen Putsch an die Macht. Seine Partei wurde demokratisch gewählt, war die wählerstärkste Partei. Hindenburg übertrug das Amt des Reichskanzlers dem "Führer" in Übereinstimmung mit der Weimarer Verfassung. Hitler gelangte durch Verführung an sein Ziel. Freie Presse, Demokratie, Gewaltenteilung hinderten ihn nicht. Sein Sieg bewies nicht zum ersten und nicht zum letzten Mal: Das Volk ist verführbar. Die Erkenntnisse der Psychologie können im Dienst verbrecherischer Politik zu einer furchtbaren Waffe werden. Vor ihr schützt kein Rechtsstaat.

Schnee von gestern sind die Nürnberger Gesetze keineswegs. Sie sind vielmehr ein aktuelles, mahnendes Monument für die Gefahr politischer Manipulation, besonders in Notzeiten. Die Lügen haben gewechselt, aber seit 1945 wurden nie so viel Lügen in der Politik verbreitet wie heute. Das betrifft nicht nur die Wahlversprechen der Parteien, nicht nur einzelne Aussagen wie die von den blühenden Landschaften, das betrifft alles, was mit dem "Systementscheid" zusammenhängt. Anders ausgedrückt, die Parole heißt: Nie wieder Sozialismus! Sie wird aber so nicht ausgesprochen. Dazu muß das Bild der vor 20 Jahren untergegangenen DDR so verfälscht werden, daß die DDR und mit ihr der Sozialismus gleich Nazidiktatur wahrgenommen wird. Wer das leugnet, wird in anderen ehemals sozialistischen Ländern bereits bestraft wie ein Holocaust-Leugner.

Im Land der Pressefreiheit wird ein Trugbild zur unumstößlichen Wahrheit. Man denkt an des Kaisers neue Kleider oder eben an die Nürnberger Gesetze. Einige Beispiele mögen belegen, wie selbst honorige Menschen den Unsinn verbreiten: Klaus Kinkel, damals Bundesminister der Justiz, verkündete 1991 auf dem ersten Forum seines Hauses "40 Jahre SED-Unrecht. Eine Herausforderung für den Rechtsstaat":

"Wir müssen also, ob wir wollen oder nicht – den Weg des Rechtsstaats gehen. Der Versuch aber, staatliches Unrecht mit den Mitteln des Rechts zu bewältigen, ist nahezu singulär. Der Nürnberger Prozeß, die Verfolgung des Massakers in My Lai und die NS-Prozesse gehören hierher. Mit diesen Prozessen sind wir noch nicht zu Ende, das Verfahren gegen Herrn Schwammberger hat gerade erst begonnen, und schon müssen wir 45 Jahre später bereits SED-Unrecht aufarbeiten. Auschwitz und Bautzen." [A.a.O., S. 4]

Enno von Loewenstern, Chefredakteur der Zeitung "Die Welt", sagte auf derselben Tagung:

"Was aber die sogenannte DDR und deren Regierung betrifft, so handelt es sich dort nicht einmal um einen eigenständigen Staat; diese sogenannte DDR ist niemals von uns staatsrechtlich anerkannt worden. Es gab ein einheitliches Deutschland, von dem ein gewisser Teil von einer Verbrecherbande besetzt war. Es war aus bestimmten Gründen nicht möglich, gegen diese Verbrecherbande vorzugehen, aber das ändert nichts daran, daß es ein einheitliches Deutschland war, daß selbstverständlich ein einheitliches deutsches Recht dort galt und auf die Verbrecher wartete und daß Salzgitter sozusagen das Symbol dieses Sachverhalts war." [A.a.O., S. 41]

Eckhard Jesse, damals noch Privat-Dozent in Trier, schrieb 1992 einen Artikel mit der bezeichnenden Überschrift "'Entnazifizierung' und 'Entstasifizierung' als politisches Problem." In ihm hieß es: "Die Parallelen zwischen beiden deutschen Diktaturen liegen auf der Hand. ... Die Verbrechen im Dritten Reich richteten sich in erster Linie gegen andere Völker, die in der DDR gegen die eigene Bevölkerung, deren Freiheit die politische Führung in den unterschiedlichsten Varianten beschnitt." [Eckhard Jesse, "Entnazifizierung" und "Entstasifizierung" als politisches Problem. Die doppelte Vergangenheitsbewältigung, in Josef Isensee, Hrg., Vergangenheitsbewältigung durch Recht, S. 10]

"Wer an die Unrechtshandlungen des DDR-Regimes andere Maßstäbe als bei den NS-Verbrechen anlegt, entzieht der Strafverfolgung der NS-Täter die Legitimität. Die Signale, die er setzt, weisen in die falsche Richtung." [A.a.O., S. 26]

Martin Kriele erklärte 1991 auf einer Tagung deutscher Staatsrechtslehrer: "Ein Wort zu dem Grundsatz 'nulla poena sine lege' im Zusammenhang mit der Strafbarkeit von Mauerschützen, Willkürrichtern oder Folterern in den Stasi-Kellern. ... Jedenfalls gibt es keinen Grund, die DDR-Verbrecher nach anderen Prinzipien zu behandeln als die Nazi-Verbrecher. Es gibt zwar allerlei trübe – und zum Teil auch respektable – Motive, mit Mördern und Folterern aus der DDR anders zu verfahren als mit solchen aus der Nazizeit, aber es gibt keinen sachlich rechtfertigenden Grund dafür." [Martin Kriele, in Starck, Berg, Pieroth (Hg), "Der Rechtsstaat und die Aufarbeitung der vor-rechtsstaatlichen Vergangenheit", Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer 51, S. 131]

Horst Möller, Direktor des Instituts für Zeitgeschichte München, schrieb 1994 einen Artikel mit der vielsagenden Überschrift "Die Geschichte des Nationalsozialismus und der DDR: ein (un)möglicher Vergleich?". In ihm hieß es: "Die NS-Diktatur hat etwas mehr als eine halbe Million Menschen ins Exil getrieben – zweifellos eine Menschenrechtsverletzung extremen Ausmaßes. Aus vergleichbaren Motiven der Verfolgung haben in den Jahren von 1949 bis 1961 fast 2,7 Millionen Menschen die DDR verlassen und sind geflüchtet." [Horst Möller, Die Geschichte des Nationalsozialismus und der DDR: ein (un)möglicher Vergleich? in "Vergangenheitsbewältigung 1945 und 1989. Ein unmöglicher Vergleich?", Klaus Sühl (Hg), Berlin 1994, S. 134]

So wurde bald nach dem Anschluß unwidersprochen ein Bild von der DDR gezeichnet, das seither die öffentliche Meinung beherrscht. Das abweichende Ergebnis der über 100.000 strafrechtlichen Ermittlungsverfahren und der wenigen Verurteilungen von DDR-Funktionären wurde nicht zu Kenntnis genommen. Amtlich wurde dieses Ergebnis nicht publiziert. Obgleich nur 20 MfS-Angehörige zu niedrigen Strafen verurteilt wurden und kein Beweis von Folter, Einweisung in die Psychiatrie und Zwangsadoption vorlag, gelten solche Untaten als feststehende Tatsachen und werden in Fernsehspielen und anderen Massenmedien bis auf den heutigen Tag verbreitet. Wer dagegen argumentiert, verhöhnt die Opfer. In der Gedenkstätte Hohenschönhausen wird den Besuchern, darunter vielen Schülern, gezveigt, welche Untaten die "Stasi" beging. Alles entgegen den Erkenntnissen der Staatsanwaltschaft aus über 100.000 Ermittlungsverfahren sowie der anschließenden Gerichtsurteile. Kapitalismus soll alternativlos sein.

So gesehen sind die Nürnberger Gesetze kein Schnee von gestern. Ein Volk wird desinformiert. Es soll sich in die Ordnung fügen, in der die Reichen reicher und die Armen ärmer werden. Es soll – wie schon einmal – Kriege für Rohstoffe gut heißen. Heute geht es zwar nicht mehr gegen die Juden, doch die Lüge wird wieder zum bevorzugten Mittel der Politik. Es gilt weiter, was Robert Musil zwischen 1925 und 1942 in "Der Mann ohne Eigenschaften" schrieb: "Wenn Sie mir die Zeitungen, den Rundfunk, die Lichtspielindustrie und vielleicht noch ein paar andere Kulturmittel überantworten, so verpflichte ich mich, in ein paar Jahren ... aus den Menschen Menschenfresser zu machen." [Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Berlin 1975, II S. 455] Das ist die Gefahr.

 

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2010-02: Rechts und Links im Rechtsstaat

2009-11: Kommunist

2009-08: Daniela Dahn: Bilanz nach 20 Jahren