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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Die Mystifizierung von Kriegen

Moritz Hieronymi, Berlin

 

Völkerrechtliche Anregungen zu künftigen friedenspolitischen Auseinandersetzungen

 

Darum gebt acht, wie Ihr Euch selbst verpfändet, Wie Ihr des Krieges schlummernd Schwert erweckt. 

William Shakespeare, Heinrich V., 1. Akt, 2. Szene

 

Jeder Krieg beginnt mit einem Mythos. Einst zogen Kriegsherren gegen Barbaren ins Feld. Soldaten ließen ihr Blut für eine edle, höhere Sache. Kriegseuphorie kam und wich. Fast jedem Krieg ging eine Rechtfertigung voraus, die eine allgemeine Ansicht begründete, dass der jeweilige Krieg zur rechten Zeit, am rechten Ort stattfinden musste. Dabei sind Kriegsrechtfertigungen keineswegs allein dem Bereich der politischen Opportunität zuzuordnen. Bereits die alten Römer, wie schon in Attika, suchten nach dem bellum iustum, dem gerechten Krieg. Diese Symbiose aus politischen Erwägungen, gestützt auf rechtliche Konstruktionen, schaffte und schafft den Anschein von Seriosität, denn schließlich ist alles, was rechtens ist, auch allen gleich zugänglich und überprüfbar.

Daran hat sich im 21. Jahrhundert nichts verändert. Weiterhin suchen Interventionisten gierig nach völkerrechtlichen Versatzteilen, um vermeintlich hehren Zielen Rechnung zu tragen. Dabei ist es nach den Erfahrungen des Ersten und Zweiten Weltkrieges und der Gründung der Vereinten Nationen (UNO) schwieriger geworden, einen legalen Kriegsgrund zu erfinden. Dennoch sollte im 75. Jahr der Gründung der UNO keine Illusion darüber herrschen, dass Krieg eine bittere Konjunktur erfährt. Geradezu frivol wird über die globale »Verantwortung« im politischen Mainstream der Bundesrepublik, der EU- und der NATO-Staaten diskutiert.

Auch innerhalb der Partei DIE LINKE – und zuvor in der PDS – wird über militärische Notwendigkeiten in Einzelfällen seit ihrer Gründung intensiv gestritten. Eine neue Möglichkeit, um die militärischen Interventionen en vogue zu machen, könnte in der Wahl der neuen SPD-Vorsitzenden gesehen werden. Da es nicht mehr unvorstellbar ist, dass ein rot-rot-grünes Bündnis auf Bundesebene zustande kommen könnte, muss ein Entgegenkommen in Richtung der SPD und der Grünen angedacht werden. Es ist nicht übertrieben festzuhalten, dass der tiefste Graben zwischen den beiden Parteien und der LINKEN in der Friedensfrage besteht.

Erste Anzeichen eines solchen Entgegenkommens könnten in den Einlassungen von Stefan Liebich, zur Schaffung einer Schutzzone in Syrien gegen die türkische Invasion, und von Sahra Wagenknecht, die bei UN-Blauhelmeinsätzen Gesprächsbereitschaft signalisierte, gesehen werden. Beide Ansichten beruhen auf dem gleichen Argumentationsmuster, dass unter legalen, keineswegs unter legitimen (denn dann müsste man offen über Kapitalinteressen sprechen), Gesichtspunkten eine Intervention denkbar wäre.

Mit Formulierungen wie »Kampfeinsätze, Militäreinsätze und Auslandseinsätze« wurde im LINKEN-Bundesparteiprogramm eine Hintertür-Sophistik installiert, die einen vermeintlichen Interpretationsraum für interventionistische Ideen eröffnet. So lehnt die LINKE Kampfeinsätze ab, während das Verhältnis zu Militäreinsätzen, die nicht auf Kap. VII UN-Charta begründet werden, offenbleibt. Weitere Schwächen des Parteiprogramms ergeben sich aus einem ungeklärten Verhältnis zu den UN-Blauhelmeinsätzen, der Schutzverantwortung, der Selbstverteidigung und der »Vereinigt für den Frieden«–Resolution. Ungeachtet dieser Schwächen müssen die im Parteiprogramm fixierten friedenspolitischen Prinzipien unbedingt verteidigt werden.

Zurück zu den Schwächen des Parteiprogramms: All diese Instrumente und einige mehr sind gern verwendete rhetorische Hülsen, hinter denen ein völkerrechtlicher Gehalt steht, der bei genauer Kenntnis nur zur Ablehnung führen kann. Folgend wird dieser Beitrag lediglich diesen Prätext des Herbariums völkerrechtlicher Versatzstücke untersuchen, die mehrheitlich von der Staatengemeinschaft abgelehnt wird. Marxisten wissen, die Trennung zwischen Form und Inhalt ist unmöglich.

Der Sinn und Zweck von Völkerrecht

Im Allgemeinen genießt das Völkerrecht keinen guten Ruf. Teilweise werden unberechtigte, teilweise berechtigte Argumente ins Feld gezogen. Die Mehrzahl dieser Argumente sind auf die Missbrauchsanfälligkeit zurückzuführen. Dabei wird des Öfteren übersehen, dass es sich beim Völkerrecht um eine Rechtsordnung handelt, die im besten Fall von 193 Staaten  [1] getragen wird. Völkerrecht ist Konsensrecht. Und trotz erheblicher Mängel ist das Völkerrecht ein Ordnungssystem, dass sich zum Ziel gesetzt hat, die Staatengemeinschaft aus dem Zustand des permanenten Krieges zu befreien. In dieser Bestimmtheit wurde in der Präambel der UN-Charta formuliert, dass die Völker der Vereinten Nationen sich verpflichten, »[…] künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren […]«. Dieser Grundsatz findet sich rechtsverbindlich in Art. 2 Nr. 3, 4 der UNO-Charta wieder. Zum einen müssen die Mitgliedstaaten der UNO internationale Streitigkeiten durch friedliche Mittel lösen; zum anderen ist ihnen die Androhung oder Anwendung von Gewalt verboten. Dass 1945, mit der Gründung der UNO, auf die Verwendung des Wortes Krieg in Art. 2 verzichtet wurde, ist im Nachhinein – entgegen landläufiger linker Kritiken – ein großes Verdienst. Dieses bewies schon die Geschichte:

Ein absolutes Kriegsverbot wurde erstmalig 1928 in dem Briand-Kellogg-Pakt festgeschrieben. Jedoch konnten kriegslüsterne Staaten dieses Verbot leicht umgehen, indem sie auf eine Kriegserklärung verzichteten oder sie ihre kriegerischen Maßnahmen umbenannten. Somit verlor dieser Pakt zusehends seinen Zweck und mit dem 2. Weltkrieges endgültig an Bedeutung.

Das allgemeine Gewaltverbot in der UNO-Charta stellt dagegen nicht auf eine formale Kriegserklärung oder einen Kriegswillen ab, sondern auf eine militärische, zwischenstaatliche Gewalt. Hierunter fallen keine innerstaatlichen Konflikte sowie keine nichtmilitärischen Übergriffe, wie Cyberattacken. Gleiches gilt für die Militarisierung des geostationären Orbits. Dagegen nimmt der Internationale Gerichtshof (IGH) bei Militärmanöver in Grenznähe unter bestimmten Bedingungen eine Verletzung des Gewaltverbotes an. [2] Diese mag im Hinblick auf das NATO-Manöver Defender 2020 in Polen und im Baltikum von einer traurigen Brisanz sein, wenn im 75. Jahr der Befreiung vom Hitlerfaschismus erneut an der Grenze zur Russischen Föderationen Provokationen stattfinden.

Die UN-Charta erkennt lediglich zwei Ausnahmen vom Gewaltverbot an, die für die folgenden Betrachtungen maßgeblich sind: Zwangsmaßnahmen nach Kapitel VII UN-Charta und das »Natur gegebene Recht« der Selbstverteidigung nach Art. 51 UN-Charta. Ferner wird im völkerrechtlichen Schrifttum über einen dritten Rechtfertigungsgrund diskutiert, der außerhalb des Regelungsgehalts der Charta liegt. Es ist von besonderer Wichtigkeit, diese drei Rechtfertigungen oder das ius ad bellum (Recht zum Krieg) zu kennen, um die Hintergedanken und Widersprüche der interventionistischen Ideen nachvollziehen zu können.

Maßnahmen nach Kapitel VII UN-Charta

Die Vereinten Nationen sind zuallererst ein universelles System kollektiver Sicherheit. Zur Wahrnehmung dieser Aufgaben, der Sicherung und Wiederherstellung des Weltfriedens, stehen der UNO zwei Handlungsinstrumente zur Verfügung: Maßnahmen nach Kap.VI (Art. 33 – 38) und nach Kap. VII (Art. 39 – 51) UN-Charta. In Kapitel VI werden friedliche, diplomatische bzw. juristische Maßnahmen wie die Verhandlung, Untersuchung, der Vergleich, Schiedsspruch etc. angeordnet. Hierzu wird der UN-Sicherheitsrat beauftragt, eine schlichtende Rolle einzunehmen, um durch Handlungsvorschläge und -anweisungen den Frieden zu sichern. Sollten auf diesem Wege keine Erfolge erreicht werden, kommt Kapitel VII zum Zuge. Diese Rechtsgrundlage sieht militärische und nichtmilitärische Zwangsmaßnahmen zur Unterbindung einer Friedensbedrohung oder zur Wiederherstellung des Friedens vor. [3]

Ursprünglich war angedacht, dass es sich im Verhältnis von Kap. VI zu Kap. VII um ein abgestuftes Verfahren handelt. [4] Heutzutage verzichtet der UN-Sicherheitsrat auf diese Abstufung und neigt dazu, seine Resolutionen auf Maßnahmen nach Kap. VII zu stützen. [5]

Damit eine militärische (Art. 42) oder nichtmilitärische (Art. 41) Zwangsmaßnahme beschlossen werden kann, muss der UN-Sicherheitsrat überprüfen, ob eine Friedensbedrohung oder ein Friedensbruch vorliegt. Problematisch ist, was unter einer Friedenbedrohung und einem Friedenbruch zu verstehen ist. Der UN-Sicherheitsrat hat für seine Arbeitsweise keine eigene Definition gefunden. [6] Innerhalb des völkerrechtlichen Schrifttums gibt es hierzu unterschiedliche Auffassungen [7], die sich an Handlungsbeispielen und Prinzipen aus anderen Teilrechtsgebieten orientieren.

Eine klare Definition kann auch nicht gefunden werden, da der UN-Sicherheitsrat über einen sehr weiten Ermessensspielraum verfügt. Um einen möglichen Missbrauch zu verhindern, versuchte im Jahr 1974 die UN-Generalversammlung mit der Aggressionsdefinition [8] die Tatbestände im Kap. VII festzuschreiben und faktisch den Handlungsspielraum des UN-Sicherheitsrats einzugrenzen. Der UN-Sicherheitsrat nahm auf die Aggressionsdefinition jedoch keinen Bezug. [9]

Ein strukturelles Argumentationsproblem für die Befürworter einer militärischen Intervention erwächst aus der Situation des Überschreitens von Kompetenzen durch den UN-Sicherheitsrat. Aus der UN-Charta ergibt sich, dass Resolutionen des UN-Sicherheitsrates bindend sind. Gleichzeitig fehlt es an einem Kontrollgremium, der die Beschlüsse des UN-Sicherheitsrates überprüft. [10] Somit obliegt es ihm selbst, die völkerrechtliche Konformität seiner eigenen Handlungen festzustellen. Selbst wenn es im völkerrechtlichen Schrifttum bestritten wird, basiert der UN-Sicherheitsrat innerhalb des UN-Systems auf ein relativiertes princeps legibus solutus [sinngemäß: Vom Recht entbundenem Prinzip].

Die Mottenkiste – Vereinigt für den Frieden

Eine militärische Intervention kann nur auf Grundlage einer Selbstverteidigung oder nach Maßgabe von Kap. VII erfolgen. Da eine Selbstverteidigung schwieriger zu begründen ist, legen interventionistische Staaten ihre Hoffnungen in den UN-Sicherheitsrat. Nun ist die Arbeitsweise des UN-Sicherheitsrat von dem Beschlusswillen der fünf ständigen Mitglieder (USA, Frankreich, Großbritannien, Russische Föderation, VR China), die jederzeit mit ihrem Veto Resolutionen stoppen können, abhängig. Eine Vetosituation führt zur Blockade der Arbeitsabläufe des UN-Sicherheitsrats. In Zeiten der Systemkonfrontation zwischen den USA und der UdSSR führte die Vetomöglichkeit zu ständigen Blockaden. Um diese zu umgehen, bedienten sich vor Beginn des Koreakrieges die USA der Resolution »Uniting for Peace« [11][Vereinigt für den Frieden], welche von der UN-Generalversammlung 1950 beschlossen wurde. Die UdSSR hatte, um eine US-Intervention in der Demokratische Volksrepublik Korea zu verhindern, den UN-Sicherheitsrat blockiert. Infolgedessen kämpften die USA, wahrscheinlich das erste und letzte Mal in ihrer Geschichte, für die Stärkung der UN-Generalversammlung, in der alle Mitgliedstaaten einen Sitz und die gleiche Stimme haben.

Der neuralgische Punkt der UN-Charta liegt in der schwachen Stellung der UN-Generalversammlung. So kann der UN-Sicherheitsrat die UN-Generalversammlung von Debatten über Grundsätze zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit entbinden, indem er sich mit der Debatte selbst befasst.

Die »Vereinigt für den Frieden«-Resolution versucht, diesen Schwachpunkt aufzuheben, indem in Fällen einer Blockade des UN-Sicherheitsrats die Generalversammlung selbst Maßnahmen zur Sicherung des Weltfriedens einleiten darf. Durch eine Zweidrittelmehrheit kann folglich eine Resolution gefasst werden, die die Handlungsunfähigkeit des UN-Sicherheitsrates überwinden könnte. Der IGH bestätigte, dass der UN-Generalversammlung eine Kompetenz zur Friedensicherung zukäme, wenngleich die primäre – nicht exklusive Kompetenz – beim UN-Sicherheitsrat liegt. [12]

Das Manko der »Vereinigt für den Frieden«–Resolution liegt darin, dass es selbst eine Resolution der UN-Generalversammlung ist. Diese Resolutionen haben nur einen Empfehlungscharakter und mithin keine Rechtsbindung. Dennoch sieht hierin ein nicht unerheblicher Teil der Völkerrechtslehre, insbesondere die US-amerikanische, eine Ausnahme von der Regel und argumentiert, dass diese Resolution völkergewohnheitsrechtlich bindend geworden ist.

Selbstverteidigung

Das Selbstverteidigungsrecht erlebt in der Diskussion um militärische Interventionen ein Schattendasein. Zu Unrecht! Denn hinter Art. 51 UN-Charta verbirgt sich ein Instrumentarium, dass bei genauer Betrachtung erheblich über das »sich selbst Verteidigen« hinausgeht. Einfallstor für eine teilweise missbräuchliche Interpretation ist die ungenaue Formulierung der Norm. Darin heißt es: »im Fall eines bewaffneten Angriffs« wird das naturgegebene Recht auf Selbstverteidigung nicht beeinträchtigt. Dem IGH misslang es, den Begriff »bewaffneter Angriff« eindeutig zu determinieren. Sie stellten lediglich fest, dass jeder bewaffneter Angriff unter das Gewaltverbot fällt, aber nicht jede Gewaltanwendung ein bewaffneter Angriff ist. [13] Intensität und Umfang einer Selbstverteidigungshandlung wurden damit offengelassen. Diese Rechtslücke erfuhr eine aufsehenerregende Relevanz, als im Jahr 2002 die USA ihre neue Sicherheitsstrategie bekannt gaben, welche als Bush-Doktrin in die Geschichte eingehen wird. Hierin wird argumentiert, dass aufgrund von Terrorismus und der Proliferation von Massenvernichtungswaffen das Recht auf Selbstverteidigung Anwendung finden muss. [14]

Seither wird über präemptive, antizipierte und interzeptive Selbstverteidigungsszenarien diskutiert. So wird die Annahme vertreten, dass es nicht zu einer Rechtsgutsverletzung auf dem Territorium oder der Flagge gekommen sein müsste, sondern bereits das »auf den Weg bringen« von Waffen eine Selbstverteidigungssituation konstituiert. [15] Ausschlaggebend sind dabei sogenannte ex ante Prognoseentscheidungen, die, selbst wenn sie sich in der Rückschau als falsch herausstellten, weiterhin durch das Selbstverteidigungsrecht gerechtfertigt werden.

Mit gleichem Elan wird über die vorbeugende Selbstverteidigung nachgedacht. Sogenannte Präventivmaßnahmen wurden exemplarisch im Iran durchgeführt. Im Jahr 2010 wurden durch die Installation der STUXNET-Schadsoftware auf einen Kontrollrechner einer iranischen Urananreicherungsanlage vermutlich über eintausend Zentrifugen zerstört. [16] Zu diesem Zeitpunkt legte der Iran der Weltöffentlichkeit seine Anreicherungsanlagen offen und akzeptierte eine internationale Beobachtung.

Dieser Angriff ist ein Paradebeispiel für eine präventive Maßnahme. So bestand vom Iran keine Gefahr, aber die Möglichkeit, dass das Land ab einem unbestimmten Zeitpunkt seine technologischen Fähigkeiten nutzen könnte, um Atomwaffen zu produzieren. Wer in dieser Logik weiterdenkt, läuft Gefahr, dass die gesamte Welt ein Kriegshort wird.

Selbst, wenn die vorbeugende Selbstverteidigung von der Mehrheit in der Staatengemeinschaft abgelehnt wird [17], sollte uns diese Diskussion bekannt sein. Selbstverteidigung im Völkerrecht ist keineswegs mit den strafrechtlichen Rechtfertigungsgründen, wie z.B. der Notwehr vergleichbar. Die Missbrauchsgefahr an dieser Stelle ist unvorstellbar groß. Insbesondere mit der Formulierung »naturgegebenes Recht« eröffnet die UN-Charta die Möglichkeit einer Modifizierung oder Konkretisierung der Selbstverteidigung durch völkergewohnheitsrechtliche Handlungen, die nicht unbedingt zum Besseren führen müssen. Es sei daran erinnert, dass die USA ihre Irakintervention im Jahr 2003 neben einer Resolution des UN-Sicherheitsrates auf das Selbstverteidigungsrecht stützten. [18]

Humanitäre »Hilfen« – keine Ausnahme von der Regel

Zur 54. Sitzung der UN-Generalversammlung im Jahr 1999 stellt der damalige Generalsekretär Kofi Annan fest, dass die Weltgemeinschaft es versäumt habe, die »Genozide« (Völkermorde) im Kosovo und Ruanda zu verhindern. [19] Erstmalig wurde von der UNO über humanitäre Interventionen diskutiert. Dabei herrscht ein großes begriffliches Durcheinander in der veröffentlichten Meinung. Humanitäre Interventionen und die Schutzverantwortung (Responsibility to Protect) weisen Gemeinsamkeiten auf, müssen aber strikt voneinander getrennt werden, da es sich bei ersterem um eine völkerrechtliche Überlegung handelt, während die Schutzverantwortung ein eigenständiges und weitestgehend politisches Konstrukt ist.

Die humanitäre Intervention ist die Anwendung von Waffengewalt zur Verhinderung von schlimmsten Menschenrechtsverletzungen. [20] Dafür gibt es kein Mandat der UNO und auch keine Selbstverteidigungssituation, da fremde Staatsbürger durch den intervenierenden Staat geschützt werden sollen. Ziel muss die Beendigung dieser Menschenrechtverletzung unter Wahrung der Verhältnismäßigkeit (Abwägung von Folgen von Militärschlag zu keinem Militärschlag) sein.

Der IGH hat diesen Überlegungen eine klare Absage erstattet. [21] Dennoch wird von den westlichen Staaten die humanitäre Intervention verteidigt. Das Europäische Parlament beschloss hierzu eine Erklärung, eine humanitäre Intervention zur Beendigung von genozidartigen Situationen sei statthaft. [22] Anhänger einer humanitären Intervention stützen ihre Argumentation auf die sogenannte Lotus-Entscheidung des Ständigen Gerichtshofes von 1927, in der festgelegt wurde, dass alles erlaubt sei, das nicht verboten ist. [23]

Dennoch erfährt die humanitäre Intervention einen bemerkenswerten Gegenwind von weiten Teilen der Staatengemeinschaft. Die Gruppe 77, eine Interesseninitiative bestehend aus 134 Staaten [24], erklärte, dass es für die humanitäre Intervention weder durch die UNO-Charta noch durch sonstige Bestimmungen des Völkerrechts eine Rechtsgrundlage gäbe. [25]

Aus dieser Legalitätsfalle wollte Kofi Annan die humanitäre Intervention befreien und beförderte die Schaffung einer rechtlich begründbaren humanitären Intervention. Im Jahr 2001 wurde auf Initiative der kanadischen Regierung mit dem ICISS-Bericht [International Commission on Intervention and State Sovereignty] der rechtliche Grundstock für u.a. die Schutzverantwortung gelegt.

In diesem Bericht wird zwischen zwei Ausformungen der Schutzverantwortung unterschieden. Wie oben bereits dargestellt, obliegt es dem UN-Sicherheitsrat nach Kap. VII UN-Charta den Weltfrieden zu schützen oder wiederherzustellen, dieses umfasst aber nicht den Schutz vor Menschenrechtsverletzung. Im ICISS wird gefordert, dass Kap. VII Maßnahmen um den Schutz von Menschenrechten erweitert werden solle. In der zweiten Ausformung werden Lösungsvorschläge für den Fall der Blockade des UN-Sicherheitsrats durchdacht. Demnach soll die Möglichkeit bestehen, dass der UN-Sicherheitsrat umschifft werden kann. Hierzu könnte ein Mandat auf die »Vereint für den Frieden«–Resolution begründet werden.

Das Konzept der Schutzverantwortung bleibt in seinen Anforderungen äußerst vage. Es wird von gravierenden Menschenrechtsverletzungen gesprochen, über den Willen der intervenierenden Staaten, diese abzustellen, über Verhältnismäßigkeit und gute Prognoseaussichten. Kein Wort lässt sich darüber finden, wie einem Missbrauch vorgebeugt werden soll. Insbesondere ist es höchst umstritten, welche Menschenrechte eine besondere Schutzbedürftigkeit erfahren sollten. Hierzu heißt es, dass besonders protektionswerte Rechtsgüter das Leben, die Gesundheit, die Erhaltung der Lebensgrundlage und die Menschenwürde seien. [26] An anderer Stelle werden die großen internationalen Menschenrechtspakte wie der Internationale Pakt für bürgerliche und politische Rechte und für soziale, wirtschaftliche und kulturelle Rechte sowie die UN-Völkermordkonvention genannt. [27]

2005 erarbeitete die UN-Generalversammlung ein eigenes Konzept und nahm es an, welches nicht mehr vorsieht, dass der Sicherheitsrat umschifft werden kann. Die Schutzverantwortung ist damit eine weitere Maßnahme nach Kap. VII. Sie ist als Mittel letzter Art im Falle von Genoziden, Kriegsverbrechen, ethnischen Säuberungen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit begrenzt.

Ein besonderes Augenmerk sollte dabei auf Genozide gelegt werden. Dieser Begriff wird so inflationär gebraucht, dass die Grenzen zwischen einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit, einem Massaker und einem Genozid verschwimmen. Mahnendes Beispiel ist hierfür der Vergleich von Ausschwitz mit den Ereignissen im Kosovo durch den früheren grünen Außenminister, Joschka Fischer. [28] Dabei fallen die alltäglichen Völkermord-Vorstellungen von der völker-(straf)rechtlichen Bedeutung drastisch auseinander.

Der Begriff des Genozids findet erstmalig in der UN-Völkermordkonvention [29] von 1948 Erwähnung. Gemäß Art. II wird Völkermord als Handlung definiert, die darauf abzielt, eine Gruppe aus ethnischen, nationalen, rassischen oder religiösen Gründen ganz oder teilweise zu zerstören. Der gleiche Wortlaut findet sich in dem rechtsverbindlichen Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofs wieder. Strafrechtlich relevant sind dabei nicht die Opferzahlen (de iure müsste kein Mensch sterben), [30] sondern die Absicht, eine Gruppe zu zerstören. [31] Völkermord ist ein Delikt, dass nicht auf die objektive Handlung, sondern auf den Willen der Täter abstellt. [32]

In diesem Zusammenhang mag es nicht erstaunen, dass der Internationale Strafgerichtshof und der IGH sich dieser Terminologie äußerst zurückhaltend bedienen. Die Befürworter militärischer Interventionen müssen konkretisieren, was sie unter genozidalen Situationen verstehen wollen. In Anbetracht der schwierigen Beweisbarkeit einer Genozidsituation ist es fraglich, ob genozidartige Verbrechen eine militärische Zwangsmaßnahme begründen können. Sollte diese Tür aufgestoßen werden, würde faktisch auf eine schwammige Eingriffsintensität abgestellt werden. Wann ist eine genozidartige Situation gegeben? Ab tausend, zehntausend oder hunderttausend Opfern, oder stellt man auf einen Prozentsatz von der Gesamtbevölkerung ab? Der Begriff Genozid stellt eine gefährliche Unklarheit dar, mit der Folge, dass eine militärische Intervention von dem Gutdünken des UN-Sicherheitsrates abhängig ist. Nicht zuletzt deswegen, da erst im Nachhinein überhaupt geprüft werden könnte (nicht muss), ob ein Genozid vorlag oder nicht.

Somit ist auch die UN-Resolution zur Schutzverantwortung unkonkret und weit offen. Wenngleich dieser Resolution zu Gute gehalten werden muss, dass den bellizistischen Träumereien von humanitären Intervention außerhalb des UN-Systems ein Riegel vorgeschoben wurde. [33] Dabei kann nicht vergessen werden, dass alle drei Einsätze mit Bezug auf die Schutzverantwortung in Libyen, Syrien und Zentralafrika weder die humanitäre Situation der Menschen vor Ort verbessert hätten, noch Kriegsverbrechen verhindert wurden. [34]

Das laute Schweigen zu Ruanda

Der Genozid in Ruanda dient als eindrucksvolles Beispiel, dass durch das Unterlassen der Staatengemeinschaften das Abschlachten der Tutsi durch Angehörige der Hutu möglich war. Ohne dezidiert auf den Ruanda-Konflikt von 1994 eingehen zu wollen, sei kurz die Unredlichkeit dieses Exempels skizziert: Im Jahr 2017 wurde bekannt, dass in Uganda die frühere Rebellentruppe Ruandische Patriotische Front (RPF)finanziert, militärisch ausgebildet und bewaffnet wurde. [35] Zeitgleich gewährten die USA dem ugandischen Staat unter Präsident Museveni militärische Hilfen, akzeptierten eine mittelbare Finanzierung der RPF und beteiligten sich an deren militärischen Schulungen. [36] Das wurde auch nicht eingestellt, als sich die Spannungen in Ruanda zuspitzten. [37] Eine vergleichbare Rolle spielte Frankreich in diesem Konflikt, wenngleich es zu den USA konträre Interessen verfolgte. [38]

Mithin waren die Großmächte keineswegs inaktiv, wie der frühere US-Präsident Bill Clinton bis heute beteuert [39], sondern proaktiv daran interessiert, diesen Konflikt nicht aufzulösen. Ob es um die ruandischen Coltan-Reserven, die für die weltweite Rüstungsindustrie überlebenswichtig sind, oder um den Zugang zu dem ressourcenreichen Kongo-Becken ging, ist an dieser Stelle nachrangig. Maßgeblich ist, dass der Konflikt im Vorfeld durch diplomatische Mittel hätte verhindert werden können. Dies alles verschweigend auf die Schrecken von Ruanda zu verweisen zeigt die gesamte Verlogenheit der Diskussionen um humanitäre Interventionen und die Schutzverantwortung.

Der Hermaphrodit unter den Kriegslegitimationen: Die UN-Blauhelmtruppen

Der Einsatz von UN-Blauhelmtruppen (oder UN-Friedenstruppen) gehört wahrscheinlich zu den komplexesten Instrumenten. UN-Blauhelmeinsätze hatten – der Gründungsvorstellung nach – einen polizeilichen Charakter. Unter der Flagge der UNO sollten präzise Stabilisierungseinsätze zeitlich und räumlich begrenzt durchgeführt werden. Diese Einsätze sollen grundsätzlich nur nach vorheriger Anhörung und Zustimmung des Empfangsstaates erfolgen. Die UN-Blauhelmtruppen werden aus Militärangehörigen unterschiedlicher Staaten zusammengesetzt. Dabei ist von Relevanz, dass in der UN-Charta die Schaffung einer eigenen, unabhängigen Armee vorgesehen ist, eine solche aber bis dato nicht aufgebaut wurde.

Das größte Manko der UN-Blauhelmeinsätze besteht in ihrer rechtlichen und tatsächlichen Verortung. Der hybridische Charakter zwischen peacekeeping [friedenserhaltenden]und peace enforcement [friedenserzwingenden] Maßnahmen macht eine klare Differenzierung zwischen Kap. VI und Kap. VII UN-Charta nahezu unmöglich. Aus diesem Grund hat sich der Vorschlag eines Kap. VI ½ herausgebildet. Hierunter könnten friedenserhaltende und friedenserzwingende Maßnahmen vereinigt werden, um sogenannte »robuste Einsätze« zu ermöglichen.

Bei den sich selbst links verortenden Befürwortern von Kapitel VI hat sich das Argument verbreitet, dass man UN-Blauhelmeinsätzen zustimmen könnte, wenn und soweit diese nur einen friedenserhaltenden Charakter aufweisen und ausschließlich auf dieses Kapitel gestützt werden. Hinter dieser Argumentation verbirgt sich eine gefährliche Augenwischerei, die sich jeder Realität entledigt hat. Bis dato gab es im Zeitraum von 1948 bis 2019 insgesamt 71 UN-Blauhelmmissionen. [40] Davon wurden 54 Missionen (76 Prozent) ab 1989 mandatiert. Gegenwärtig laufen 13 Einsätze, davon werden 8 Einsätze auf Kap. VII gestützt, während 5 keinen Verweis auf Kap. VI oder VII UN-Charta nehmen. [41] Diese 5 Ausnahmen ergeben sich daraus, dass diese Einsätze zu Zeiten der Systemauseinandersetzungen beschlossen wurden und deren Erheblichkeit bis heute fortdauert.

Am anschaulichsten sind die Zahlen der UN-Blauhelm-Resolutionen seit 2000: 18 Mandate, wobei 16 Einsätze auf der Rechtsgrundlage von Kap. VII UN-Charta ergingen. [42] Bei genauer Betrachtung waren es nur 17 Mandate, da der UNMIT-Einsatz für Osttimor eine Folgeresolution war, der eine Kap. VII Maßnahme vorausging. Die wirkliche Ausnahme stellte die UNSMIS für Syrien dar. Im Jahr 2012 sollte diese ursprünglich auf Grundlage von Kap. VII beschlossen werden. Russland und China legten hierauf ein Veto ein. [43]

Es ist zu schlussfolgern, dass UN-Blauhelmeinsätzen auf Grundlage von Kap. VI keine praktische Relevanz zukommt. Das sieht man an oben genannten, aber auch an dem 2019 beendeten Haiti-Justiz-Einsatz. Sinn und Zweck dieses Einsatzes war die Unterstützung Haitis beim Aufbau eines Justizwesens und der Polizei. Daraufhin wurde ein UN-Blauhelm-Einsatz auf Grundlage einer Zwangsmaßnahme nach Kapitel VII beschlossen. Eine nicht nachvollziehbare Entscheidung, die sinnbildhaft für die gegenwärtige Arbeitsweise des UN-Sicherheitsrates ist.

Eine weitere Widersprüchlichkeit besteht in der Einsatzpraxis der UN-Blauhelmeinsätze. Wenn UN-Blauhelmtruppen ein Gebiet besetzen, so üben sie über dieses Gebiet »effektive Kontrolle« aus und verdrängen die Hoheitsgewalt des Staates. Fraglich ist nun, was passiert, wenn durch UN-Blauhelmtruppen Menschenrechtsverletzungen begangen werden. Da nun der Staat keine effektive Kontrolle über sein Staatsgebiet ausübt, müsste die UNO als offizieller Entsender der UN-Blauhelme belangt werden.

Mit dieser Frage beschäftigte sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in den Fällen [44] Behrami und Sarami. Im Fall Behrami handelte es sich um einen Jungen, der beim Spielen mit einer nicht gezündeten Streubombe eine Explosion auslöste und verstarb. Die UN-Blauhelmmission UNMIK [United Nations Mission in Kosovo] hatte es versäumt, die Bomben zu räumen. Der Gerichtshof kam zu dem Schluss, dass das Unterlassen der UNO zwar zuzurechnen sei, da der UN-Sicherheitsrat die letzte Weisungsbefugnis und Kontrolle ausübe; aber, da die UNO kein Menschenrechtsabkommen [sic!] ratifiziert und unterschrieben habe, könne man diese auch nicht belangen. Ferner, wie oben bereits dargestellt, besteht auch nicht die Möglichkeit der Überprüfung, ob das Mandat des UN-Sicherheitsrates rechtmäßig beschlossen wurde.

Ein weiteres Problem ergibt sich aus der Begehung von völkerstrafrechtlichem Verbrechen durch UN-Blauhelmtruppen. In mehreren UN-Sicherheitsratsresolutionen wurde expliziert festgelegt [45], dass gegen Blauhelmsoldaten, die keine Staatsbürger aus Mitgliedstaaten des Internationalen Strafgerichtshofs sind, keine Ermittlungen eingeleitet werden dürfen. [46] Im Namen der UN-Blauhelmtruppen können und wurden ungestraft Verbrechen begangen.

Es ist zu schlussfolgern, dass UN-Blauhelmeinsätze nicht gleich UN-Blauhelmeinsätze sind. Mehrheitlich werden Einsätze auf Grundlange von Kap. VII UN-Charta mandatiert. Ferner finden diese in einem rechtsfreien Raum statt, da sie unter der Flagge der UNO verrichtet werden: Weder kann der IGH die Rechtmäßigkeit der Einsätze überprüfen, noch können sich Opfer bei Willkürhandlungen an Menschenrechtsgerichtshöfe wenden oder können Soldaten, die sich Verbrechen schuldig gemacht haben, belangt werden.

Konsequenzen

Alle vorgestellten Offenbarungen leiden unter dem gleichen Defekt: Sie gehen von einer Situation aus, deren Wahrheitsgehalt immer erst im Nachhinein als falsch oder richtig bewertet werden kann. Die Interventionisten, welche in der Regel westliche Staaten sind, werden somit zum Normengeber, Richter und Henker in einer Entität. Diese Form des Absoluten widersprecht fundamental den Grundprinzipien der bürgerlichen Rechtsstaatlichkeit und kann nur in imperialer Willkür enden. Der Erscheinung des Neoimperialismus wiedersetzte sich Kant hellsichtig im »Zum ewigen Frieden«: Dass keiner im Krieg »[…] von beiden Theilen für einen ungerechten Feind erklärt werden kann.« [47] Niemand besitzt das Vorrecht, Interventionen einseitig durchzuführen, weil darin immer ein inzidenter Richterspruch enthalten ist. [48]

Links sein, heißt für das Völkerrecht sein. Mitnichten vertritt dieser Beitrag die Position, dass die UNO obsolet oder unbrauchbar ist. Die UNO ist das größte Friedensprojekt auf dieser Welt. Gleichzeitig sollten wir keinen eskapistischen Vorstellungen anheimfallen. Die UNO basiert auf dem Prinzip mono- und oligopolistischer Staateninteressen. Die UN-Organe werden für innenpolitische Interessen von Großmächten missbraucht. Ausnahmslos trifft das für alle ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrats zu. Bloß die Missbrauchsintensität zwischen den Staaten ist höchst verschieden.

Der Beitrag hat aufgezeigt, dass sämtliche Vorstellungen von militärischen Interventionen maßgeblich auf Kap. VII UN-Charta fußen. Da die Entscheidungshoheit in diesem Fall lediglich den Großmächten zusteht, ist eine Missbrauchsgefahr hoch. Ferner wurde dargestellt, dass keine der Instrumente einer unabhängigen Kontrolle unterstehen. In der UN-Charta wird zwischen rechtsunverbindlichen Zielen und rechtsverbindlichen Grundsätzen unterschieden. Das Gewaltverbot ist ein Grundsatz, während Menschenrechte ein Ziel sind. Hieraus die Schlussfolgerung zu ziehen, dass das Gewaltverbot für Menschenrechte durchbrochen werde könnte, ist mit der Intention der UNO-Gründungsstaaten unvereinbar. In der Friendly Relation Declaration fasst es die UN-Generalversammlung wie folgt zusammen: »Kein Staat und keine Staatengruppe hat das Recht, unmittelbar oder mittelbar, gleichviel aus welchem Grund, in die inneren oder äußeren Angelegenheiten eines anderen Staates einzugreifen.« [49]

Seit 1990 wird eine fatalistische Diskussion geführt, die versucht Ausnahmen von der Regel zu finden, anstatt die UNO-Charta ernst zu nehmen. Und dieses Ernstnehmen bedeutet, die Suche nach friedlichen Mitteln, um den Frieden zu schützen. Friedensschutz basiert auf Prävention. Konfliktprävention bedeutet, Staaten in denen rivalisierende Interessen eine Gefahr darstellten könnten, durch Rationalisierungsmaßnahmen oder der Einräumung von Teilautonomien Selbstbestimmungsrechte anzubieten.

Anstatt uns unsäglichen Diskussionen über angeblich hehre Militäreinsätze hinzugeben, müssen wir Vorschläge sammeln, damit Konflikte im Vorfeld aufgelöst werden können. Hierbei werden wir nicht umhinkommen, über das Verhältnis von Kapitalismus und Krieg zu diskutieren. Lassen wir uns aber auch nicht auf die Augenwischerei vieler Protagonisten ein. Begegnen wir den bewaffneten Apologeten mit inhaltlichen Argumenten, um ihre Kriegsrhetorik zu entmystifizieren. Selbst wenn das Parteiprogramm auf eine haarspalterische Terminologie setzt, heben wir hervor, dass die LINKE sämtliche Maßnahmen nach Kap. VII UN-Charta ablehnt. Und dass zugleich fast alle ihre Kriegsbegründungen auf Kap. VII beruhen.

Für jeden Linken muss es heißen:

NEIN zur Schutzverantwortung!

NEIN zu UN-Blauhelmeinsätzen!

NEIN zur humanitären Intervention!

NEIN zur USA-Völkerrechtsverdrehung!

NEIN zur »Vereint für den Frieden«–Resolution!

Siehe auch den im Heft 1/2020 auf den Seiten 16-18 veröffentlichten Diskussionsbeitrag von Moritz Hieronymi auf der Bundeskonferenz der KPF am 1. Dezember 2019: »Friedenspolitischer Handlungszwang«.

 

Anmerkungen:

[1]  Mitgliedstaaten der UNO.

[2]  ICJ (International Court of Justice), Case concerning Military and Paramilitary Activities in and against Nicaragua [Nicaragua v. United States of America], Urt. v. 27.6.1986, ICJ Rep. 1986, 14, [227].

[3]  Kirsch, in Simma/Khan/Nolte/Paulus: The Charter of the United Nation, 3rd Ed., Vol II, General Framework, Rn. 20.

[4]  Ibidem.

[5]  Ibidem.

[6]  Ibidem, § 39, Rn. 12.

[7]  Ibidem, § 39, Rn. 40.

[8]  UN Doc. A/RES/3314 (1974).

[9]  Heintschel von Heinegg, in Ipsen: Völkerrecht, 7. Aufl., 2018, § 57, Rn. 9.

[10]  UN-Sicherheitsrat-Resolutionen dürfen lediglich inzident, aber nicht direkt durch den Internationalen Gerichtshof überprüft werden.

[11]  A/RES/377 (V) (1950).

[12]  ICJ, Certain Expenses of the United Nations, Advisory Opinion, 20.6.1962, ICJ Rep. 1962,151, [163].

[13]  ICJ, (Fn. 3), [110].

[14]  The White House Washington, The National Security Strategy of the United States of America, 9/2002, S. 6, abrufbar: 2009-2017.state.gov/documents/organization/63562.pdf [Stand 12.12.2019].

[15]  Heintschel von Heinegg, in Ipsen: Völkerrecht, 7. Aufl., 2018, § 56, Rn. 20.

[16]  Stöcker, Stuxnet-Virus könnte tausend Uran-Zentrifugen zerstört haben, Spiegel Online, 26.10.2010, abrufbar: www.spiegel.de/netzwelt/netzpolitik/angriff-auf-irans-atomprogramm-stuxnet-virus-koennte-tausend-uran-zentrifugen-zerstoert-haben-a-736604.html [Stand: 12.12.2019].

[17]  Randelzhofer/Nolte, in Simma/Khan/Nolte/Paulus: The Charter of the United Nations, 3rd Ed., 2012, § 51, Rn. 52.

[18]  Vgl. UN Doc S/2003/351.

[19]  Address by Kofi Annan to the 54th Session of the UN General Assembly, 20.9.1999.

[20]  Drohla, in Heintschel von Heinegg: Casebook Völkerrecht, 2005, Rn. 451.

[21]  IGH, (Fn.3) [268].

[22]  Abl. EU 1994, Nr. C 128, S. 225.

[23]  PCIJ (Permanent Court of International Justice), The Case of the S.S. »Lotus« [France v. Turkey], No. 10 (ser. A), 1927.

[24]  Mitgliedstaaten sind u.a. die VR China, Indien, Brasilien, alle südostasiatischen, afrikanischen, arabischen und südamerikanischen Staaten.

[25]  Group of 77, Ministerial Declaration XXXIII, 24.9.1999.

[26]  Report of the International Commission on Intervention and State Sovereignty (ICISS), The Responsibility to Protect, 12/2001, S. 15, para. 2.22: »[…] the security of people against threats to life, health, livelihood, personal safety and human dignity […]«.

[27]  Ibidem, S. 14, para. 2.16, S. 16, para. 2.26.

[28]  Geis, Der linke Krieg, Zeit.de, 19.3.2009; abrufbar: www.zeit.de/2009/13/10-Jahre-Kosovo [Stand: 4.12.2019].

[29]  Prevention and Punishment of the Crime of Genocide, UN Doc. A/RES/3/260 (1948).

[30]  Werle, Völkerstrafrecht, 3. Aufl., 2012, Rn. 781.

[31]  Ibid. Rn. 813, 814.

[32]  Vgl. JStGH, Urt. v. 14.12. 1999 (Jelisić, TC), para. 100.

[33]  Zifcak, in Evans: International Law, 5th Ed., 2018, S. 496.

[34]  Zifcak, in Evans: International Law, 5th Ed., 2018, S. 509.

[35]  Epstein, American’s secret role in the Rwandan genocide, The Guardian, 12.11.2017; abrufbar: www.theguardian.com/news/2017/sep/12/americas-secret-role-in-the-rwandan-genocide [Stand: 3.12.2019].

[36]  Ibid.

[37]  Heuch, Rwanda: Responsibilities for a Genocide, Anthropology Today, Vol. 11 (4), 8/1995, S. 3-7, S. 1.

[38]  Moore, Rwanda Accuses France of Complicity in 1994 Genocide, New York Times, 13.12.2017; abrufbar: www.nytimes.com/2017/12/13/world/africa/rwanda-france-genocide.html [Stand: 3.12.2019].

[39]  Vgl. Bill Clinton on Rwanda, CNBC Meets, CNBC International TV, abrufbar: www.youtube.com/watch [Stand: 3.12.2019].

[40]  List of Peacekeeping Operations 1948-2019, abrufbar: peacekeeping.un.org/sites/default/files/unpeacekeeping-operationlist_3_0.pdf [11.12.2019].

[41]  UN-SR. S/RES/2149 (2014) [Kap. VII]; S/RES/2164 (2014) [Kap. VII]; S/RES/1925 (2010) [Kap. VII]; S/RES/1990 (2011) [begrenzt Kap. VII]; S/RES/1244 (1999) [Kap. VII]; S/RES/2155 (2014) [Kap. VII]; S/RES/2363 (2017) [Kap. VII]; S/Res/350 (1970) [kein Verweis]; S/RES/186 (1964) [kein Verweis]; S/RES/425 (1978) [Kein Verweis]; S/RES/91 (1951) [kein Verweis]; S/RES/50 (1948) [Kein Verweis].

[42]  S/RES/1410 (2002) [Kap. VII]; S/RES/1509 (2003) [Kap. VII]; S/RES/1528 (2004) [Kap. VII]; S/RES/1542 (2004) [Kap. VII]; S/RES/1545 (2004) [Kap. VII]; S/RES/1996 (2011) [Kap. VII]; S/RES/ 1704 (2006) [keine Bezugnahme]; S/RES/1769 (2007) [Kap. VII]; S/RES/1913 (2010) [Kap. VII]; S/RES/1925 (2010) [Kap. VII]; S/RES/1990 (2011) [begrenzte Kap. VII]; UNSAF; S/RES/1996 (2011) [Kap. VII]; S/RES/2059 (2012) [Kein Kap. VII]; S/RES/2100 (2013) [Kap. VII]; S/RES/ 2149(2014) [Kap. VII]; RES/2350 (2017) [Kap. VII]; S/RES/1410(2002) [Kap. VII]; S/RES/1410 (2002) [Kap. VII].

[43]  News Wires, UN votes to extend »final« Syria mission by 30 days, france24, 20.7.2012, abrufbar unter: www.france24.com/en/20120720-un-votes-extend-final-syria-observer-mission-30-days-security-council-unsmis [Stand: 16.12.2019].

[44]  Behrami und Behrami ./. Frankreich (EGMR) (GK), Entscheidung vom 31.5.2007, Beschwerde Nr. 71412/01; Saramati ./. Frankreich, Deutschland und Norwegen (EGMR), Beschwerde Nr. 78166/01 = EuGRZ 34 (2007), 522 ff.

[45]  SR Res. 1422 (2002), 1487 (2003), 1497 (2003).

[46]  Jain, A Separate Law for Peacekeepers: The Clash between the Security Council and the International Criminal Court, The European Journal of International Law, Vol 16 (2), 2005, S. 239-254.

[47]  Kant, Zum ewigen Frieden, S. 200.

[48]  Vgl. ZHAO, Alles unter dem Himmel, S. 194.

[49]  Declaration on Principles of International Law Concerning Friendly Relations and Co-operation among States in accordance with the Charter of the United Nations, UN Doc A/Res/2625 (XXV), 24.10.1970; abrufbar: www.un.org/Depts/german/gv-early/ar2625.pdf [Stand: 8.12.2019].

 

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