Die lange Nacht
Fritz Selbmann, 29. September 1899 – 26. Januar 1975
Erster authentischer Bericht von der Massenerschießung sowjetischer Kriegsgefangener in Sachsenhausen von Fritz Selbmann. Aus dem 1961 erschienenen Roman »Die lange Nacht«, Mitteldeutscher Verlag. Entnommen aus »antifa« 3/2002, S. 14/15. Siehe auch: Mitteilungen, Heft 6/2002.
An diesem Nachmittag kommt der erste Transport. Der Henker Lachowski ist mit dem Kommando Leichenträger und mehreren Rollwagen zum Bahnhof Oranienburg kommandiert. Die Häftlinge haben strengen Befehl, die Blocks nicht zu verlassen. …
Das Tor öffnet sich. Der Zug marschiert ein. Es ist ein Zug furchtbaren Elends. Die Gefangenen, offensichtlich in den ersten Tagen des Krieges in die Hände ihrer Feinde gefallen, sind völlig heruntergekommen. Sie sind seit Wochen unrasiert und ungewaschen, alle tragen nur noch Lumpen und verschmutzte Uniformfetzen, alle sind fast verhungert. Viele von ihnen schwanken nur noch ins Lager, werden gestützt und halb getragen von ihren Kameraden. Der Zug wird eskortiert von SS-Leuten mit Karabinern und mit Hunden.
An allen Fenstern stehen die Häftlinge. Kein Posten achtet jetzt noch auf die Baracken. Der Zug scheint endlos zu sein, und doch sind es an diesem Tage nur etwas mehr als sechshundert Gefangene. Tausend waren angemeldet, der Rest ist unterwegs gestorben, verhungert, erstickt in den vollgepreßten Güterwagen. Das Kommando Leichenwagen kommt mit den Rollwagen und fährt 164 Tote sofort ins Krematorium. Die noch Lebenden marschieren in das isolierte Lager der Strafkompanie (SK). In jede Baracke werden vierhundert Gefangene getrieben. In den Baracken ist kein Bett, kein Tisch, kein Stuhl, keine Decke, nur Gefangene liegen in den Barackenräumen, einer neben dem anderen, sowjetische Soldaten, Kommissare, Kommunisten, Komsomolzen.
Die Blocksperre ist nach dem Einmarsch aufgehoben. Sofort strömen alle politischen Häftlinge auf dem Appellplatz und den Lagerstraßen zusammen. Alle reden nur von dem neuen Ereignis, heftig erregt und hilflos erschrocken. Die stärkste Erregung herrscht unter den kommunistischen Gefangenen. Die achthundert dort in der SK sind für sie nicht Leidensgenossen schlechthin, sie sind ihre Genossen, ihre Brüder, mit denen sie durch alle Bande des gemeinsamen Strebens verbunden sind. Und nun liegen sie dort zusammengepfercht in den zwei Baracken, krank und zerlumpt. Was wird mit ihnen geschehen?
Nach allem was bekannt ist, gibt es keinen Zweifel: sie werden liquidiert, erschossen, verbrannt. Schon der Gedanke daran könnte wahnsinnig machen …
So kommt die Nacht. In dieser Nacht finden viele Kumpel keinen Schlaf. Sie liegen unruhig auf ihrem Strohsack und sind ganz ihren quälenden Gedanken und Vorstellungen überantwortet. Es gehört nicht viel Phantasie dazu, sich vorzustellen, was sich jetzt in den isolierten Baracken der SK abspielt. Die Gefangenen liegen aneinander gepreßt, ineinander gekeilt. Keiner kann sich bewegen. Sie sind halb wahnsinnig vor Hunger und Durst, viele sind krank. Sicher sterben noch in dieser Nacht viele, und sie bleiben liegen zwischen den Lebenden. Sicherlich sind alle voller Verzweifelung und Trostlosigkeit.
Plötzlich hören die Kumpel in den an die Isolierung grenzenden Baracken etwas, das ihnen das Herz stillstehen läßt. Aus den Blöcken 11 und 12, in denen die sowjetischen Kriegsgefangenen untergebracht sind, dringt Gesang, ein schwermütiges russisches Lied von der russischen Heimat, vom herrlichen Baikal und vom stillen Don. Und über dem vielstimmigen Chor schwebt wie eine Lerche die helle Stimme eines Vorsängers. Die Todgeweihten singen und grüßen ihre Heimat, grüßen ihr fernes, von den faschistischen Armeen überfallenes Land, grüßen es aus ihrem schrecklichen Kerkerblock, von der Schwelle der »Station Z«. Manchem der alten Kumpel, die mehr als einmal mit dem Tode in Tuchfühlung standen, schießt das Wasser in die heißen, übermüdeten Augen. Es kommt der Morgen. Viele Kumpel sind früh auf den Beinen. Lange vor dem Morgenappell regt es sich hinter dem Maschendraht der Isolierung. Aus den beiden Blocks der sowjetischen Kriegsgefangenen werden Leichen herausgetragen und völlig nackt vor dem Drahtgitter aufgestapelt. Es sind mehr als dreißig tote Körper, ausgemergelte Skelette, fast nur Haut und Knochen. Dann kommt der Rollwagen mit den Leichenträgern, und die Toten werden aufgeladen. Ein Leichenträger faßt an den Händen des Leichnams an, der andere an den Füßen und mit einem Schwung fliegt der Tote auf den Wagen.
Es ist unaussprechlich roh und widerwärtig. Es tut weh hinzusehen. Es tut doppelt weh bei dem Gedanken, daß diese Toten vor wenigen Wochen oder Tagen noch denkende, fühlende, strebende, liebende Menschen waren. So geht es an diesem Morgen und von nun an jeden Morgen, sechs Wochen lang.
An diesem Abend wird auf allen Blocks, auf denen Kommunisten liegen, Brot gesammelt. Nach Einbruch der Dunkelheit werden einige Säcke voll Brot über das rückwärtige Drahtgitter der Isolierung geworfen, drinnen von politischen SK-Häftlingen aufgenommen und in die Russenblocks gebracht und verteilt.
Es ist die einzige Hilfsaktion, die von den politischen Häftlingen durchgeführt werden kann. Am anderen Tag kommt wieder ein Transport sowjetischer Kriegsgefangener, diesmal 500, die in die dritte leere Baracke getrieben werden. Dann beginnen die Exekutionen. …
Es ist der Abend des 3. Septembers.
Es ist wieder Blocksperre verhängt. Nach 7 Uhr darf kein Häftling die Baracke verlassen. Vor der Isolierung fährt ein geschlossener Lastwagen vor, das Maschentor öffnet sich, und 29 Kriegsgefangene werden in den Wagen getrieben, der zum Industriehof fährt. Der Motor des Wagens heult beim Abfahren auf wie ein bösartiges Tier. Das wiederholt sich bei jeder Fahrt. Es ist ein häßliches, drohendes Geheul, die ganze Nacht hindurch: jede Nacht und jedes Mal, wenn dieser Ton in die Baracken dringt, zucken tausend Hände und Herzen. Wieder fünfundzwanzig Opfer, fünfundzwanzig Kommunisten, fünfundzwanzig Brüder, die ermordet werden …
Es ist eine lange, wache Nacht, und in dieser langen Nacht werden in allen Schlafsälen des Lagers viele leidvolle Gedanken gedacht. Ein Gedanke ist allen gemeinsam. Von allen Greueln, die sie in acht Jahren durchlebten, ist dies die grauenvollste. Jeder Häftling wälzt verzweifelt immer wieder den einen quälenden Gedanken. Wie war es nur möglich, daß Deutschland - sein Land und sein Volk in diesen Abgrund der Bestialität fallen, daß die Deutschen, die deutschen Arbeiter, zu denen doch jeder selbst gehört, unlösbar, unzertrennbar, sich dieser Herrschaft der Barbarei ergeben konnten. Waren sie nicht mitschuldig, sie alle? Hatten sie, jeder einzelne von ihnen, alles getan, um diese Schmach zu verhindern?
Sechs Wochen lang dauert die Mordaktion. Eine Nacht gleicht der anderen. Dann hört sie mit einem Schlage auf, so als ob die Bestie in der letzten Nacht krepiert wäre. Es waren mehr als 13.000 Kriegsgefangene, die in diesen sechs Wochen erschossen wurden. Weit über 1.000 sind verhungert und als nackte Skelette abgefahren worden. …
Im Lager wird bekannt, daß die russischen Kriegsgefangenen aus der Isolierung ins große Lager verlegt werden, da sie nun im Klinkerwerk zum Einsatz kommen sollen. Die SS- Lagerführung verspricht sich von der Überführung in das große Lager eine besondere propagandistische Wirkung. Sie ist sich dessen so gewiß, daß sie ihre Propagandaabsicht offen bekannt gibt. Die Gefangenen sind zerlumpt und verhungert. Das Lager soll sehen, wie elend russische Soldaten, Bolschewisten zudem, aussehen.
Das Lager ist zum Abendappell angetreten, es sind wohl nun schon 15.000 Häftlinge. Das Maschentor der Isolierung öffnet sich. Die Kriegsgefangenen sollen über die Lagerstraße quer über den ganzen Appellplatz in ihre Baracken marschieren. Zwei Scharführer führen den langen Zug aus dem Tor der Isolierung. Als die Spitze des Zuges die Lagerstraße erreicht, geschieht etwas, was die SS-Führung nicht erwartet hat. Die Reihen der ausgemergelten, unvorstellbar elend aussehenden Gefangenen formieren sich, die ausgehungerten Körper straffen sich hoch auf, die Glieder rücken zusammen zum gewohnten Pulk. So marschieren die Gefangenen mit hartem Schritt, nach dem Flügelmann ausgerichtet, in militärischer Formation über die Lagerstraße, eine Hundertschaft nach der anderen, durch die angetretenen Blocks und alle Häftlinge stehen, obwohl kein Kommando gegeben wurde, in Habachtstellung mit gezogenen Mützen. Der Lagerführer steht mit finsterem Gesicht dabei, hinter ihm seine Unterführer. Sie sind wütend, aber machtlos. Sie haben es plötzlich eilig, den Appell zu Ende zu bringen.
Auf den Blocks herrscht zum ersten Mal seit Wochen wieder gehobene Stimmung, Freude darüber, daß die Gefangenen jetzt im Lager sind und man ihnen helfen kann. Und die Kommunisten sind stolz auf ihre sowjetischen Kameraden. Sie sind trotz Hunger, Not, Elend und aller Bedrückung geblieben, was sie waren: sowjetische Soldaten, Kommissare, Kommunisten, Komsomolzen …