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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Die Kraft der Schwachen - Für Anna Seghers

Werner Wüste, Berlin

 

Metaphysisch gesehen taugt dieser Titel nichts. Metaphysisch gesehen kann der Schwache nicht zugleich stark wie umgekehrt der Starke nicht schwach sein. Das Leben aber lehrt uns, daß eine solche Betrachtung nicht hilfreich ist.

Der schwache Sklave Spartakus, nach damalig herrschender Ideologie nicht einmal ein Mensch, sondern ein "sprechendes Werkzeug", hat es mit seinem Sklavenheer vermocht, das starke Rom an den Rand seiner Existenz zu bringen: in vorweg genommener Übereinstimmung mit einem gewissen Joshua, der alsbald die Menschen für gleich erklären würde vor Gott. Und über diesen wiederum vermutet mancher Religions- und Philosophiehistoriker, daß er der frühchristlich-kommunistischen Sekte der Essener angehört hatte.

Wer will bestreiten, daß es manchmal gut tut, im Alltag inne zu halten und für Momente solchen Gedanken nachzuhängen.

Die "Kraft der Schwachen". Das ist nicht nur der Titel eines Bändchens mit Erzählungen von Anna Seghers, es ist Leitmotiv für ihr Gesamtwerk.

Anna Seghers ist so recht Kind und Repräsentantin des vergangenen Jahrhunderts, nicht zuerst, weil sie exakt 1900 geboren und folglich immer gerade so alt war wie ihr Jahrhundert; eher, weil ihr Leben und ihr Schreiben konzentrierter Ausdruck der Hauptbewegungen des Jahrhunderts sind. Vorausgesetzt, der Leser stimmt mit mir überein: daß Spartakus und Jesus von Nazareth den Geist am Beginn der Zeitrechnung dominierten. Eben wenn man akzeptiert, daß der Geist einer Epoche nicht einfach die Summe aller Ideen ist, sondern vorzüglich jene beinhaltet, die in die Zukunft weisen.

Zugegeben: der Schein spricht gegen diese These. Aber eben nur der Schein; und diesen vom Wesen zu trennen, nicht zuletzt das können wir bei Anna Seghers erfahren. Sie zeigt uns, daß die dem Scheine nach Schwachen in Wahrheit die Starken sein können.

Anna Seghers war 1933 mit ihren Kindern und ihrem Ehemann nach Frankreich emigriert. So lange es möglich war, versuchte sie, fehlende eigene, unmittelbare Eindrücke und Informationen wettzumachen durch regen Gedankenaustausch in Briefen.

Gemeinschaft, die ihr nach eigenem Bekunden lebenswichtig war, manchmal "wichtiger als Essen und Trinken", fand sie unter den Emigranten. Ihre Arbeit wie auch ihr ästhetisches Verständnis stellte sie selbst immer wieder auf den Prüfstand, festigte eigene Überlegungen, erprobte sie.

Wenn man schreibt, muß man so schreiben, daß man hinter der Verzweiflung die Möglichkeit und hinter dem Untergang den Ausgang spürt.

Denn wir schreiben ja nicht, um zu beschreiben, sondern um beschreibend zu verändern.

Aber wir müssen lernen, unsere Wahrheit mächtiger und verlockender zu zeigen als die andern ihre Lügen.

Im Realismus sieht sie für sich "die Tendenz zur Bewußtmachung der Wirklichkeit"; besonders in Krisenzeiten sei es schwer, "der Realität habhaft" zu werden; auch die "Furcht vor der Abweichung" könne "entrealisierend" wirken. [Vgl. Christiane Zehl Romero, Anna Seghers, Eine Biografie, Aufbau Berlin, Bd. 1, S. 243 ff.] Mir scheinen solche Überlegungen bis heute aktuell. Nicht nur für Schriftsteller.

Für die meisten meiner Generation ist der Name Anna Seghers verbunden mit ihrem Roman "Das siebte Kreuz". Tatsächlich wurde sie mit diesem Buch weltbekannt und weltberühmt. Es war auch ihre erste große Arbeit, die 1947 in der nachmaligen DDR verlegt wurde, nachdem es 1939 bereits Fortsetzungsabdrucke in Moskau gegeben hatte, und das Buch 1942 mit Hilfe und Vermittlung von Wieland Herzfelde und F.C. Weiskopf in den USA erschienen war.

Die Arbeit am Siebten Kreuz hatte Anna Seghers im Frühjahr 1938 begonnen. Anfangs ist in ihren sehr spärlichen Aufzeichnungen lediglich von einer Novelle die Rede, dann spielte ein italienischer Roman eine Rolle, in dem es um sieben Kreuze ging. Der

brachte mich darauf, daß eine solche Begebenheit zum Anlaß werden kann, um die ganze Struktur der Gesellschaft eines Landes durch das Verhalten aller Menschen zu dieser Angelegenheit zu erzählen. [Ebenda S. 338/39.]

Aus dem Konzentrationslager Westhofen waren sieben Häftlinge ausgebrochen, sieben Bäume wurden wie Kreuze für deren Hinrichtung vorgesehen.

Wie dieser Wallau jetzt eingefangen war und zurückgebracht wurde, da weinten manche wie Kinder ... Man würde den Wallau jetzt auch ermorden, wie man alle ermordet hatte. Gleich im ersten Monat der Hitlerherrschaft hatte man Hunderte unserer Führer ermordet, in allen Teilen des Landes, jeden Monat wurden welche ermordet ... Die ganze Generation hatte man ausgerottet. Das dachten wir an diesem furchtbaren Morgen, und wir sprachen es auch aus, wir sprachen es aus zum erstenmal, daß wir, in solchem Maß ausgerottet, in solchem Maß abrasiert, ohne Nachwuchs vergehen müßten ... das Furchtbarste, was einem Volke überhaupt geschehen kann, das sollte jetzt uns geschehen: ein Niemandsland sollte gelegt werden zwischen die Generationen, durch das die alten Erfahrungen nicht mehr dringen konnten. Wenn man kämpft und fällt und ein anderer nimmt die Fahne und kämpft und fällt auch, und der nächste nimmt sie und muß dann auch fallen, das ist ein natürlicher Ablauf, denn geschenkt wird uns gar nichts. Wenn aber niemand die Fahne mehr abnehmen will, weil er ihre Bedeutung gar nicht kennt?" [Das siebte Kreuz, Aufbau Berlin 1962, S. 164/65.]

Wie oft in den Jahrzehnten nach der Niederwerfung des Faschismus hat eben dieses Problem vielen schlaflose Nächte bereitet: Wie kann an die folgenden Generationen, wie kann auch nur an die in den eigenen Familien Nachkommenden, weitergegeben werden, was die Väter bewegte, wie kann deren großes, opferbereites Fühlen vermittelt, wie kann es von den Enkeln, (die es ja "besser ausfechten" sollen) "erworben" werden, "um es zu besitzen"? Zigtausende waren in die Schulen, in die Versammlungen der Jungen gegangen und hatten geschildert, was sie erlebt hatten, ließen ihr Innerstes nicht zur Ruhe kommen. Hat es genützt?

"Da riß man das Beste aus, was im Lande wuchs, weil man die Kinder gelehrt hatte, das sei Unkraut. All die Burschen und Mädel da draußen, wenn die einmal die Hitlerjugend durchlaufen hatten und den Arbeitsdienst und das Heer, glichen den Kindern der Sage, die von Tieren aufgezogen werden, bis sie ihre eigene Mutter zerreißen." [Ebenda S. 165.]

Bei Aufbau erschien im Jahr ihres 100. Geburtstags "Anna Seghers, Hier im Volk der kalten Herzen. Briefwechsel 1947", herausgegeben von Christel Berger. Darin ein Brief an Nico Rost [Nico Rost, niederländischer Journalist und Schriftsteller.], der Anna Seghers um ein Vorwort für das von ihm übersetzte "Siebte Kreuz" gebeten hatte.

Anna Seghers wußte bis dahin noch nicht einmal, daß Nico Rost Dachau überlebt hat.

Wir sehen ja hier auf Schritt und Tritt, daß zwar die erste Phase gewonnen ist: der Sturz Hitlers. Der Hitlerismus ist noch längst nicht gestürzt. Wir haben die erste Phase gewonnen: den Krieg. Aber noch längst nicht die zweite: den Frieden. Die Kriegsverbrecher sind durch die Gerichte von Nürnberg noch längst nicht erledigt ... Sie regen noch ungeschoren, wo sie können, die Träume von neuen Kriegen an. [Hier im Volk der kalten Herzen, AtV 2000, S. 147.]

Es braucht Zeit, um nicht nur mit dem Verstand zu begreifen, sondern durch und durch zu fühlen, daß es auch für uns Schriftsteller nicht auf das Statische ankommt, sondern auf das Dynamische. Nicht auf die Situation, die immer beschränkt und zufällig bleibt, sondern auf die Richtung des Geschehens. [Ebenda.]

In dem Paß lagen ein paar Geldscheine. Reinhardt strich den Umschlag mit der Schmalseite seiner Hand so flach wie möglich; eine Bewegung, die ebenso zärtlich wie nützlich war. In dem Umschlag steckte gefährliche, mühselige Kleinarbeit, steckten unzählige Wege, Erkundungen, Listen, die Arbeit vergangener Jahre, alte Freundschaften und Verbindungen, der Verband der Seeleute und Hafenarbeiter, dieses Netz über Meere und Flüsse. Aber das Leben dessen, der jetzt seine Finger an dem Netz hatte, war eng und schwer, und die paar Scheine stellten in diesen Zeiten ein Heidengeld dar, den Notbestand der Kasse der Bezirksleitung für besondere Fälle.

Fiedler steckte den Umschlag ein. "Wirst du ihn selbst hinbringen?" – "Nein, meine Frau." – "Ist sie denn gut?" – "Vielleicht besser als ich." [Das siebte Kreuz, S. 380.]

Die sieben Bäume im Lager Westhofen wurden abgeschlagen.

Doch an dem Abend, als man zum erstenmal die Häftlingsbaracke einheizte und das Kleinholz verbrannt war, das, wie wir glaubten, von den sieben Bäumen kam, fühlten wir uns dem Leben näher als jemals später ... [Ebenda S. 411.]

Anna Seghers schrieb noch einige große Romane. "Transit" etwa, "Die Toten bleiben jung", "Die Entscheidung", "Das Vertrauen". Ich habe sie gelesen, damals oder jetzt neu. Aber ich gestehe, daß mir ihre Erzählungen und Novellen näher sind. Von "Der Ausflug der toten Mädchen" (1946) bis "Der gerechte Richter" (1957/58); erwähnen möchte ich besonders jene, die zeitlich wie geografisch ein Gemeinsames, ein Ganzes bilden.

Als sehr bald nach der Französischen Revolution 1789 die Nationalversammlung die "Erklärung der Rechte des Menschen und des Bürgers" beschlossen hatte, – "Die Menschen sind von Geburt in ihren Rechten frei und gleich." und zwei Jahre später: "Die Nationalversammlung schafft unwiderruflich die Einrichtungen ab, die die Freiheit und die Gleichheit der Rechte beeinträchtigen." [Vgl. Kropotkin, Die französische Revolution, S. 139/40.]– vernahm man diese Signale auch auf den französisch kolonialisierten Antilleninseln. 1802 rüstete Napoleon, Konsul, bevor er sich Kaiser nannte, eine ganze Flotte und eine Armee von 10.000 Mann zur Niederwerfung des Aufstands. Toussaint l´Ouverture, der Führer der Aufständischen, wurde durch Verrat in einen Hinterhalt gelockt, gefangen genommen und nach Frankreich gebracht, wo er wenige Monate danach in einem feuchten Verlies starb.

Toussaint sah mit seinen Freunden aus den Bergen zu, wie sich ein Schiff nach dem andern vom Horizont ablöste. Je mehr solche Schiffe sich ablösten, desto sicherer war sein Untergang. Er wußte plötzlich, daß die besten Gedanken keinen Bestand haben konnten, wenn sie die Macht nicht hinter sich hatten. [Hochzeit von Haiti.]

Der Konsul hatte gefragt, wie viel der Staat aus den Antillen seit der Negerbefreiung gewinne ... Was konnte man Gutes von einem Manne erwarten, der an dem Gold, das die Schiffsladungen Kaffee und Zucker wert waren, den Wert der Freiheit abmaß? [Wiedereinführung der Sklaverei in Guadeloupe.]

Er wußte, es gab vor der Sklaverei keine Rettung mehr. Er hätte genau so gut vor der Luft selbst flüchten können. Er wußte, solche Männer wie sein Vetter taten sich da und dort zusammen und wehrten sich bis zum letzten Augenblick ... Er hoffte, daß sie wenigstens da und dort noch Gruppen von seinesgleichen fänden, die Zeit hatten, sich gemeinsam zu wehren. Das könnte zwar auch nicht verhindern, daß sie zugrunde gingen. Es war aber ohne Zweifel die richtige Art, zugrunde zu gehen. Es war ein Aufschub immerhin, aber ein Aufschub solcher Art, daß sie sich sagen konnten, sie waren – einmal frei – nie wieder Sklaven geworden. [Ebenda.]

Der Aufbau-Verlag hat 2000 und 2003 eine umfangreiche, zweibändige Biografie herausgegeben. Autorin ist Christiane Zehl Romero. Ich habe den rund 1000 Seiten manche Anregung entnommen und manche Information zu danken.

Stark verkürzt, folgt CZR (sie nennt sich selbst so) dem bekannten Verdikt von Walter Janka, der Anna Seghers der Feigheit zieh. Sie hätte in bestimmten politischen Situationen mit dem Gewicht ihrer Stimme eingreifen müssen, meint Romero; sie habe aber resigniert geschwiegen.

Das wäre nicht der Erwähnung wert, würde sich darin nicht eine Tendenz ausdrücken: der Versuch nämlich, gestandene Kommunisten in nicht auflösbaren Widerspruch zu deren eigener Idee zu bringen. Also Wasser auf die Mühlen jener zu geben, denen solche Kontroversen diebische Freude bereiten. Jüngste Ereignisse haben uns gemahnt.

Daß Anna Seghers unerschütterlich den Sozialismus bejahte, unermüdlich für seinen Erhalt, seine Entwicklung wirkte und gleichzeitig und eben darum auch vieles kritisch sah, ist für manche Zeitgenossen offenbar schwer zu verstehen.

Anna Seghers meinte, wie mir scheint, mit Recht, ihre Anschauungen und ihre Haltung seien deutlich in ihren Arbeiten zu erkennen. Ich möchte ihre Novelle "Der gerechte Richter", Aufbau 1990, und darin auch unbedingt das Nachwort von Günter Rücker sehr empfehlen.

Einer ihrer vielen Freunde war Georg Lukács.

Paris, 28. Juni 1938:

Lieber Georg Lukács! Der Tisch, an dem wir unseren letzten Diskussionsabend hatten – ich glaube, es war in einem Lokal in der Friedrichstrasse – ist inzwischen ein sehr großer Tisch geworden. Du sitzt sehr weit von mir weg ...

Sie beide tauschten ihre Meinung aus über den Realismus; den Faschismus bezeichnet Seghers als "unseren Hauptfeind".

Du gehst davon aus, und mit Recht, daß der Kampf gegen den Faschismus in der Literatur nur mit ganz entgifteten, ganz ausgeräucherten Köpfen wirksam geführt wird ... Da fürchte ich, daß eine Verengung eintritt, wo von Dir selbst eben Raum gewonnen wurde, nach der anderen Seite: an Fülle und Farbigkeit in unserer Literatur. Ich fürchte, daß man vor eine Alternative gestellt wird, wo es gar nicht um Entweder-Oder geht, sondern in diesem Fall um die Zusammenfassung, um eine starke, vielfältige antifaschistische Kunst, an der alle teilhaben, die als Antifaschisten und Schriftsteller dazu qualifiziert sind. Wenn man Menschen helfen will, Richtung auf die Realität zu nehmen, dann muß man die Hilfe danach einstellen ...

Noch etwas Lustiges. Viele unserer Kollegen und Freunde lesen und hören solche Diskussionen, wie ich merke, mit den merkwürdigsten Gefühlen. Sie erwarten mit Spannung und Neugierde, wer den andern erledigt. Einer, meinen sie, müßte unbedingt auf der Strecke bleiben, sonst gelte das Spiel nichts. Aber bei einer Diskussion auf gleicher Ebene, wo Ausgangspunkt und Ziel gemeinsam sind, bleibt nur eins auf der Strecke, das Unklare ... Viele Grüße, lieber Lukács, von Deiner Anna Seghers.

Lukács in seiner Antwort: "... und das Falsche." [Georg Lukács, Essays über Realismus, Aufbau 1948, S. 201/203.]

Für eine Pointe sind Seghers und Lukács eben immer noch gut.

Und sollten solche Überlegungen wirklich nur für Schriftsteller und wirklich nur für die damalige Situation gelten können?