Die Kinder in den Mittelpunkt! (Teil II [1])
Dr. Wolfram Adolphi, Potsdam
Und: Nicht System-, sondern Lebensrelevanz ist entscheidend
Zum Papier »Für eine solidarische Zukunft nach Corona. Vorschläge zur strategischen Positionierung der Linken« von Katja Kipping, Bernd Riexinger, Jörg Schindler und Harald Wolf vom 15. Mai 2020
Linke Opposition muss die Kraft und Fähigkeit haben, die Formeln und Argumentationsketten, die die Herrschenden zur Begründung ihrer als »alternativlos« dargestellten Schritte entwickeln, zu dekonstruieren. Auf die Formel von der »Systemrelevanz« bestimmter Berufsgruppen muss mit aller Entschiedenheit mit einer radikalen Neubestimmung des Platzes dieser Berufsgruppen in der Gesellschaft reagiert werden. Ein wohlmeinendes Beifallklatschen, durch die Mainstreammedien überhöht, dazu vielleicht auch noch eine Einmalzahlung, die weit geringer ausfällt als das Weihnachtsgeld ohnehin gut bezahlter Menschen in Wirtschaft, Verwaltungen und Parlamenten – das kann doch nicht als angemessen betrachtet werden! Und was heißt überhaupt »systemrelevant«? Für welches System denn? Von Lebensrelevanz muss die Rede sein, und dann wird klar, dass Krankenschwestern und Krankenpfleger selbstverständlich mehr verdienen müssen als Börsenmaklerinnen und Börsenmakler – oder etwa nicht? Und Müllfrauen und Müllmänner mehr als Immobilienhändlerinnen und -händler – oder etwa nicht? Und Lehrerinnen und Lehrer und Erzieherinnen und Erzieher in den Kitas so viel wie Abgeordnete – oder etwa nicht? Wer das Wort von der »Zeitenwende« in den Mund nimmt, der muss es auch so meinen. Muss es mit eingängigen Bildern unterfüttern. Was freilich sehr schwer ist in einer Gesellschaft, in der die Herrschenden nicht mal eine Vermögensteuer für erforderlich halten – und dies zur gleichen Zeit, da sie dreistellige Milliardenbeträge aus Steuermitteln mobilisieren, um jene zu retten, die viel Geld dafür ausgeben, sich ihrer Steuerpflicht zu entziehen.
Das Sprache des Strategiepapiers ist – ich wiederhole es noch einmal – eine Sprache der vorauseilenden Anpassung. Alle Vorschläge sind schon daraufhin abgeklopft, ob sie von möglichen Bündnispartnern auch akzeptiert werden können. Aber das ist nur in Parteistrukturen gedacht! Es speist sich das Papier nicht aus den tatsächlichen Bewegungen in der Gesellschaft!
Aber wie geht das zusammen? Wie kann von einer »Zeitenwende« die Rede sein – und doch nur in ganz engen Parteistrukturen gedacht werden?
Zu »Zeitenwende« gehört die Infragestellung des gesamten neoliberalen angebotsorientierten Wirtschaftssystems. Billigflieger, Kreuzfahrtschiffe, die bedenkenlose touristische »Eroberung« der ganzen Welt durch einen kleinen Teil der Menschheit, die Ressourcenverschwendung durch Wegwerfprodukte – die Krise rückt die Fragwürdigkeit all dessen gnadenlos ins Rampenlicht. Aber nun alles einfach abschaffen? Das geht nicht, denn es sind weltweit Hunderte Millionen Arbeitsplätze, Hunderte Millionen Einkommen, Hunderte Millionen Familien, die an diesen fragwürdigen Wirtschaftsfeldern und Verwertungsformen hängen.
Es geht um nichts Geringeres als die von Marx in den Grundrissen zur Kritik der politischen Ökonomie aufgeworfenen Fragen danach, was die Menschen mit der Zeit anfangen werden, die sie dadurch gewinnen, dass die Befriedigung der Elementarbedürfnisse Nahrung und Wohnen immer weniger Zeit in Anspruch nimmt. Der moderne Kapitalismus zwingt sie immer wieder neu dazu – wenn er sie nicht schon gänzlich aus seinem Interessenbereich ausgestoßen und völlig perspektivlos dem Hunger und Elend preisgegeben hat –, diese gewonnene Zeit eben nicht für sich selbst zu nutzen, sondern ihre Arbeitskraft auf den Markt zu tragen und als Ware feilzubieten – koste es, was es wolle. – In Deutschland bedeutet dieser Prozess für viele Menschen jene Freiberuflichkeit, die auf Selbstvermarktung basiert und zu hundert Prozent von einem sicher funktionierenden öffentlichen Leben, sicheren Einkünften der potenziellen Kundschaft und sicherer eigener Gesundheit abhängt. Wie brüchig das alles ist, haben wir seit März deutlich erlebt, und die Folgen sind noch nicht abzusehen.
So liegt es also fast auf der Hand, dass, wer von »Zeitenwende« redet, auch vom bedingungslosen Grundeinkommen (BGE) reden muss [2]. Das ist doch ganz logisch: Wenn – wie vor allem am Anfang der Pandemie in Deutschland immer wieder verkündet – die Gesundheit des Einzelnen das Allerwichtigste, die Solidarität mit den besonders Gefährdeten das über allem Stehende sein soll, dann kann es doch gar nicht anders sein, als dass allen Menschen zu allererst einmal bedingungslos das Leben gesichert werden muss! Bedingungslos – und nicht: mit der Bedingung willkürlicher Maßstabsetzung und Diskriminierung. »Aber was das alles dann bedeuten könnte«, wird den Befürwortern des BGE vage entgegengehalten, und besonders gern heißt es, dass dann zum einen ja auch die Reichen dieses BGE erhielten und zum anderen viele gar nicht erst arbeiten würden. Aha: Arbeit ist also immer nur entweder als erzwungene oder mit viel Geld erkaufte Arbeit denkbar. Interessanterweise schreiben viele Gegner des BGE ihre entsprechenden Artikel rein ehrenamtlich. Haben also ihrem Leben auch eine nicht finanziell belohnte Komponente gegeben. Aber »die anderen« – die brauchen aus ihrer Sicht selbstverständlich Zwang, Druck, Diskriminierung.
»Zeitenwende«. Noch nie wurde das BGE von so vielen positiv diskutiert wie gerade jetzt. Weil es eben eine gesellschaftliche Erfahrung ist, dass sehr, sehr viele Menschen auf allen möglichen – und für die Gesellschaft insgesamt sehr wichtigen! – Gebieten schöpferisch tätig sind, aber dieses Schöpfertum nicht »marktförmig« gestalten können. Weil dieser Markt – wie gerade alle erfahren – etwas höchst Fragiles, keineswegs »ewige« Sicherheiten Bietendes ist. Warum verspielt DIE LINKE die Chance, sich in dieser Frage zur entschiedensten Fürsprecherin zu machen? Und damit zur führenden Stimme in der Behandlung der sozialen Frage der Pandemie zu machen?
Die Pandemie »von unten« betrachten – das ist die entscheidende Frage. Sie ist nicht beantwortet mit der Erklärung, die Partei stehe fest an der Seite der am meisten Betroffenen. Es müssen klare, kühne Vorschläge her. Es ist falsch, so zu tun, als gäbe es jetzt – in der Pandemie – »erst einmal Wichtigeres«. Mit jedem Tag, der vergeht, wächst die Möglichkeit, dass alles in ein unverändertes »Weiter so« mündet.
Drittens: Soziologische und massenpsychologische Durchdringung
Das Papier lässt zu wenig erkennen, dass die vielfältigen Sorgen und Nöte, mit denen die Menschen durch die Pandemie und die zu ihrer Eindämmung getroffenen Maßnahmen konfrontiert sind, wirklich bekannt und aufgenommen wären.
Da ist zunächst die Angst vor dem Virus und der von ihm ausgelösten Krankheit Covid-19 selbst. Bilder und Berichte von Erkrankten wie auch die Darstellung durch behandelnde Ärztinnen und Ärzte, Schwestern und Pfleger lassen keinen Zweifel daran, dass Covid-19 eine schwere und entsprechend Furcht verbreitende Krankheit ist. Dass es bisher weder eine erprobte Therapie noch einen Impfstoff gibt, gibt Furcht und Angst weitere Nahrung. Es ist in jedem Falle ein großes gesellschaftliches Problem, mit dieser Angst umzugehen. Dazu braucht es vor allem anderen Transparenz und klare, übersichtliche, verständliche Informationen. An dieser Transparenz mangelt es allenthalben, sie ist bisher nicht hergestellt, und das liegt nicht an einzelnen Leuten, sondern ist selbstverständlich ein Problem der gesellschaftlichen Verhältnisse. […] Was an Widersprüchen nicht öffentlich erörtert wird, das bricht sich auf anderen Wegen Bahn, und wessen Sorgen und Ängste nicht ernst genommen werden, wird so lange lauter werden, bis Gehör gefunden ist.
Und dies gilt auch für die neben der Angst vor dem Virus zweite bedeutsame Angst: die vor den Folgen des Lockdowns. Sie wird in den nächsten Wochen zunehmen, denn erst dann wird das gesamte Ausmaß der Folgen von Kurzarbeit und Arbeitsplatzverlust, von Schäden durch die Schul- und Kitaschließung und den Verlust an Strukturen und Einrichtungen im Bereich von Kultur und Sport zu Tage treten.
Angesichts all dessen muss linke Herrschaftskritik genau im Auge haben, welche jahrzehntelang als unverrückbar geltenden Strukturen und Prinzipien binnen weniger Stunden fundamental ausgehebelt werden können, wenn nur die Begründung dafür stark genug ist. […]
Viertens: Realistische Bestimmung der eigenen Macht und Möglichkeiten
Was immer auch die Umfragen für die AfD in den nächsten Wochen und Monaten ergeben werden: In der Folge der »Flüchtlingskrise« ist die von ihr geforderte und geförderte flüchtlingsfeindliche Haltung und Politik in Deutschland hegemonial geworden. Kaum noch vorstellbar ist heute, dass Horst Seehofer einmal mit der Benennung einer Obergrenze von 200.000 Geflüchteten pro Jahr Aufsehen erregte. Längst kommen die jährlichen Zahlen auch nicht annähernd an diese Obergrenze heran. Monatelang verhandeln Bund und Länder darüber, ob das 80-Millionen-Bevölkerungs-Land Deutschland wohl in der Lage wäre, 1.000 Kinder aus Flüchtlingslagern aufzunehmen, in denen die Lebensumstände zum Himmel schreien. Und Corona ist in diesem Falle plötzlich kein außergewöhnlicher Handlungsgrund mehr. Obwohl die Verbreitung des Virus gerade dort besonders schnell und leicht möglich ist.
Dies sind die Verhältnisse, unter denen wir – DIE LINKE – unsere Politik entwickeln müssen. Und diese Verhältnisse sagen auch: Es ruft in der Corona-Krise niemand, der nicht schon vorher nach uns gerufen hätte, laut nach uns! Unsere Umfragewerte stagnieren auf niedrigem Niveau.
Wie sinnvoll ist da ein Ruf nach Rot-rot-grün? Wenn alle drei zusammen derzeit deutlich unter 40 Prozent liegen? Und ein Bündnis uns zwingen würde, auf all die Radikalität, zu der die Komplexität der Corona-Krise herausfordert, zu verzichten?
Der 26. Mai sollte in dieser Hinsicht durch das Folgende in Erinnerung bleiben: Der einzige von der LINKEN gestellte Ministerpräsident – Bodo Ramelow – wagt in Thüringen einen Lockerungskurs, bei dem er ausdrücklich die Eigenverantwortung der Menschen in den Mittelpunkt stellt und dies mit transparenter, pro Landkreis aufgeschlüsselter Darstellung der Infektionsentwicklung untermauert. Der stellvertretende SPD-Vorsitzende Kevin Kühnert attackiert ihn daraufhin mit dem Vorwurf, er gehe »den Verschwörungstheoretikern« auf den Leim. Was für eine großartige Basis für ein Zusammengehen! Wie tief ist da die Kluft in den Einsichten in die Tiefe der Krise und hinsichtlich der nun zu entwickelnden Politik.
Zusammenfassend dies:
Wenn Gemeinsamkeiten mit anderen Parteien oder einzelnen Strömungen in anderen Parteien und Gemeinsamkeiten mit Gewerkschaften, Bewegungen und zivilgesellschaftlichen Strömungen erreicht werden sollen, dann müssen die eigenen Positionen klar und deutlich dargestellt sein. Nur von da aus lässt sich erkennen, wo sich tatsächlich Bündnisse erzeugen lassen – und welcher Druck dann auf die politischen Entscheidungen ausgeübt werden kann.
Es gibt gegenwärtig keine Anzeichen dafür, dass die Krise eine Zeitenwende im Sinne von Frieden und wachsender sozialer Sicherheit werden könnte. Das Gegenteil deutet sich an: neue Kriegsgefahr und Zunahme der sozialen Spaltung und der daraus erwachsenden Konflikte. Dem muss DIE LINKE mit einer eigenen Zeitenwende begegnen: Mit neuer, an die Wurzeln gehender, selbstbewusster Offensivität in der demokratischen Auseinandersetzung um die künftige Gesellschaftsentwicklung.
28. Mai 2020
Anmerkungen:
[1] Der Teil I dieses gekürzten und zweigeteilten Beitrags ist veröffentlicht in Mitteilungen der KPF, Heft 7/2020, Seiten 1-6.
[2] Die Position der KPF zum BGE entspricht nach wie vor der Beschlusslage des Parteivorstandes vom 30.06.2018, die Haltung der Partei zu Forderungen nach einem bedingungslosen Grundeinkommen – wie im geltenden Parteiprogramm – auch künftig offenzuhalten. – Red.
Mehr von Wolfram Adolphi in den »Mitteilungen«:
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