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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Die innere Mobilmachung

Jan Korte, MdB für DIE LINKE

 

Der Kampf um die Rehabilitierung der Opfer der NS-Militärjustiz im Kontext von Militarisierung und »Zeitenwende«

 

Die Aufarbeitung des Unrechtscharakters der Wehrmachtjustiz bleibt eine wichtige Auf­gabe, auch um der »inneren Mobilmachung« und Militarisierung der Bundesrepublik etwas entgegenzusetzen.

Vor 15 Jahren hatte ich wahrscheinlich einen meiner größten politischen Erfolge, auf den ich heute noch stolz bin: Nach jahrelanger Arbeit stimmte die Mehrheit des Bun­destags der Rehabilitierung von »Kriegsverrätern« zu. Als »Kriegsverräter« wurden im zweiten Weltkrieg Wehrmachtssoldaten verurteilt, die kritische Tagebucheinträge ver­fasst hatten oder Kriegsgefangenen ein Stück Brot zugesteckt hatten.

»Trauerspiel« durch Verzögern

Im Oktober 2006 hatte die Linksfraktion die Initiative mit dem sperrigen Titel »Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Aufhebung nationalsozialisti­scher Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege (2. NS-AufhGÄndG)« eingebracht. 2006 waren CDU/CSU und SPD unter Kanzlerin Merkel in der Regierungskoalition. Und obwohl etliche Koalitionsabgeordnete wussten, dass eine Rehabilitierung richtig wäre, wurde diese ewig verzögert. Darüber berichteten damals unter anderem der SPIEGEL (»Rehabilitierung von NS-Opfern wird zum Trauerspiel«), der Tagesspiegel (»Das letzte Tabu«), die taz (»Im Namen des Führers«) oder auch der Deutschlandfunk (»Deserteure, ›Wehrkraftzersetzer‹ und ›Kriegsverräter‹«).

In der SPD dauerte es lange, bis das Anliegen dort so viel Unterstützung hatte, dass man den Mut fand, es gegenüber der Union zu thematisieren. Selbst als aus unserer Initiative ein gemeinsamer Gruppenantrag entstanden war, dem sich Abgeordnete aus Linksfraktion, Grünen, SPD, FDP und sogar Unionsabgeordnete angeschlossen hatten, gab es aus der SPD-Fraktion noch die Empfehlung, dem Antrag nicht zuzustimmen. Die traute sich erst nach dem OK aus der Unionsfraktion, in der sich die Vernunft gegen die letzten Vertreter des »Stahlhelmflügels« durchgesetzt hatte, aus der Deckung.

Am 8. September 2009, drei Jahre nach Einbringung unseres Gesetzentwurfs, stand dieser schließlich zur Abstimmung. Außerdem der überfraktionelle, wortgleiche Grup­penantrag sowie ein gleichlautender Antrag von allen Fraktionen außer der LINKEN – sonst wäre die CDU/CSU nicht mit draufgegangen. In meiner Rede zur Debatte im Ple­num stellte ich damals fest:

»Auch wenn ich dazu ein wenig Lust verspüre, will ich nicht darüber sprechen, was hier in den letzten drei Jahren gesagt und wie diskutiert wurde. Ich will auch nicht darüber reden – man kann hier eine andere Position haben –, was aus parteitaktischen Erwä­gungen in den letzten drei Jahren abgelaufen ist. Ich will auch nicht näher darauf einge­hen, dass es schon relativ absurd ist, dass ausgerechnet der Name derjenigen Frak­tion, die dieses Thema seit dreieinhalb Jahren vorangebracht hat, nicht auf diesem Antrag steht. Aber geschenkt! Wir stimmen auf jeden Fall zu; das haben wir immer gesagt. Uns geht es um die Sache. Deswegen werden wir heute natürlich allen Anträ­gen zustimmen, in denen eine pauschale Rehabilitierung vorgesehen ist.«

Es lohnt sich auch heute noch, das Protokoll der gesamten Debatte, inklusive der Bei­träge aus der CDU/CSU-Union, nachzulesen [1].

Am Ende war die Rehabilitierung der »Kriegsverräter« beschlossene Sache. Für mein Team, damals vor allem Dominic Heilig, mit dem ich später ein Buch darüber herausge­geben habe [2], war das ein großer Erfolg. Und auch für Ludwig Baumann, der sich als Vorsitzender der Bundesvereinigung der Opfer der NS-Militärjustiz viele Jahre lang für die Rehabilitierung eingesetzt hatte. Denn man darf eines nicht vergessen: Viele Jahr­zehnte waren Veröffentlichungen zur Wehrmachtjustiz mehr apologetisches Schrifttum ehemaliger NS-Juristen. Erst durch die Arbeiten des damaligen Leiters des Militärge­schichtlichen Forschungsamtes der Bundeswehr, Prof. Dr. Manfred Messerschmidt, wurde die wissenschaftliche Aufarbeitung der Wehrmachtjustiz angestoßen und zum Forschungsgegenstand. Angesichts des Ausmaßes der Verbrechen eigentlich unfass­bar: Die NS-Militärjustiz verurteilte etwa 1,5 Millionen der ca. 20 Millionen Wehr­machtssoldaten. Rund 30.000 Soldaten wurden von den ca. 1.300 Militärgerichten zum Tode verurteilt und etwa 23.000 Todesurteile anschließend vollstreckt.

Gesamte NS-Militärjustiz endlich als Unrechtsjustiz einstufen

Noch in einer Wanderausstellung des Bundesjustizministeriums zu den Verstrickungen der Justiz im Nationalsozialismus Anfang der 90er Jahre fehlte die Militärjustiz gänzlich. Mit der Ausstellung »Vernichtungskrieg: Verbrechen der Wehrmacht 1941-1944«, die seit 1995 in vielen Städten große öffentliche Aufmerksamkeit fand, wurde in den umfänglichen Rahmenprogrammen Aufmerksamkeit auch auf die Wehrmachtjustiz gelenkt, obwohl diese selbst kein Thema der Ausstellung war. Die einsetzende kritische Auseinandersetzung führte in der Folgezeit über die drei bekannten Einzelbeschlüsse des Bundestages (1998, 2002 und 2009) zu den überfälligen Rehabilitierungen und der Aufhebung dieser Urteile. Kürzlich fragte ich die Bundesregierung, ob sie die Auffas­sung der LINKEN teilt, dass die gesamte NS-Militärjustiz (ähnlich wie der Volksgerichts­hof) grundsätzlich als Unrechtsjustiz einzustufen ist. Die Antwort spricht Bände:

Nachdem sie die, mit viel Beharrlichkeit gegen starken Widerstand erkämpften, Aufhe­bungs- und Rehabilitierungsgesetze von 1998 und 2002 anführt, stellt sich die Bundes­regierung letztlich auf den Standpunkt, dass »eine Bewertung, ob die Militärjustiz der Wehrmacht grundsätzlich als Unrechtsjustiz einzustufen ist, [...] unabhängigen wissen­schaftlichen Untersuchungen vorbehalten bleiben [sollte].«

In Zeiten, in denen »Helden« gegenwärtiger und zukünftiger Kriege mit Veteranentagen geehrt werden und die Bundeswehr krampfhaft weiter an alten Militaristen wie Hinden­burg oder einem Nazi-General Rommel als Vorbildern festhält, bleibt die Achtung der Verweigerer von Hitlers Vernichtungskrieg offenbar schnell auf der Strecke.

Diese selbsternannte Fortschrittskoalition entpuppt sich leider auch in der Geschichts­politik als Rückschrittskoalition. Mit Verweis auf eine angeblich noch zu leistende wis­senschaftliche Forschung wehrt sich die Bundesregierung krampfhaft um eine klare Positionierung und Einstufung der NS-Militärjustiz als Unrechtsjustiz. Sie ignoriert damit nicht nur den Forschungsstand, sondern fällt inhaltlich hinter den letzten Bundes­tagsbeschluss zur Rehabilitierung der »Kriegsverräter« von 2009 zurück, den sie bezeichnenderweise gleich ganz in ihrer Antwort verschweigt. Offenbar erscheint es der Ampel aktuell nicht als opportun, endlich unmissverständlich und grundsätzlich die gesamte NS-Militärjustiz als Unrechtsjustiz einzustufen.

Eine entsprechende Erklärung/Feststellung fehlt jedenfalls. Über die vom Bundestag getroffenen Einzelbeschlüsse hinaus sollte deshalb ein abschließender Beschluss gefasst werden, der an dem grundsätzlichen Unrechtscharakter der NS-Militärjustiz keinen Zweifel lässt. Damit würden antimilitaristische Einstellungen gestärkt und nicht zuletzt Bestrebungen zur Schaffung einer neuen Militärjustiz erschwert. Denn auch daran wird wieder fleißig gearbeitet.

Seit Bundeskanzler Scholz (SPD) nach dem Beginn des Angriffskriegs Russlands gegen die Ukraine eine »Zeitenwende« ausgerufen hatte, vergeht kein Tag, an dem nicht irgendein Vertreter von SPD, FDP, Grünen oder Union mit einem neuen Rüstungs- oder Eskalationsvorschlag um die Ecke kommt: »Panzer-Toni« Hofreiter trommelte im Duett mit Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP) erst für Schützenpanzer, dann auch für Leopard-2-Lieferungen und Kampfjets. Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) plä­dierte sogar für die Wiedereinführung der Wehrpflicht und forderte, dass Deutschland »kriegstüchtig« gemacht werden müsste. Selbst die geplante Stationierung von nuklear bestückbaren US-Mittelstreckenraketen in Deutschland, die Ziele in Russland erreichen können und damit unser Land zur Zielscheibe machen, wird von den Kriegsbesoffenen bejubelt und als »Sicherheitsgewinn« gefeiert. Eine unüberlegte Forderung folgt der anderen und man fragt sich, wann eigentlich der erste Vorschlag für den Einsatz von deutschen Bodentruppen auf Seiten der Ukraine kommt.

Der Frieden muss gestärkt werden, nicht der Krieg!

Bei der Wiederinkraftsetzung der Wehrpflicht ist man schon weiter. Um es klar zu sagen: Die Wehrpflicht auszusetzen war kein Fehler, sondern ein zivilisatorischer Fort­schritt. Sie war und ist aus der Zeit gefallen. Die Aussetzung hat dazu geführt, dass jedes Jahr Zehntausende junge Menschen sich nicht in den Kasernen erniedrigen und aufs Töten vorbereiten lassen mussten. Die Ablehnung von Gewalt und Krieg ist gewachsen. Immer mehr Menschen lehnen es ab, Kriege als legitime »Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln« (Clausewitz) zu betrachten. Und das ist gut so! Und das Erinnern an die Deserteure und »Kriegsverräter«, die sich dem Wahnsinn des verbreche­rischen Weltkrieges von Hitlers Wehrmacht verweigerten, hat zu dieser Zivilisierung bei­getragen.

Bemerkenswert ist doch, dass es gerade einmal zwei Jahre her ist, als die Reaktionäre von der AfD einen Antrag zur Wiedereinführung der Wehrpflicht in den Bundestag ein­brachten. Damals stellten sich noch alle anderen Fraktionen gegen die »Analyse« der AfD-Militaristen, die Deutschen hätten »ein gestörtes Verhältnis zur militärischen Gewalt« und deshalb müsse »mit dem Wehrdienst auch der Wehrwille des deutschen Volkes gestärkt« werden. Heute wollen außer der LINKEN alle Parteien die Remilitarisie­rung der Gesellschaft und arbeiten mit Hochdruck daran, das Militär als normales Mit­tel der Politik zu etablieren. Kaum jemand, der noch vor einigen Jahren pazifistische Reden schwang, ist sich heute zu blöd dafür, da mitzumachen.

Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges hat es hierzulande keine solch rasante Militari­sierung der Sprache, des Denkens und Handelns vor allem in den Medien und der Poli­tik gegeben. Alle kriegführenden oder den Krieg unterstützenden Seiten nutzen die NS-Vergangenheit zur Legitimierung ihrer Handlungen. In Deutschland wird der Begriff des Vernichtungskrieges, der bisher für die verbrecherische Kriegsführung der Wehrmacht im Osten und die Massenverbrechen der Nazis stand, mittlerweile ungeniert, inflationär und historisch falsch im Dienste der inneren Mobilmachung auf den russischen Angriffskrieg angewandt.

Gleichzeitig werden Stimmen für eine diplomatische Lösung und gegen die Ausweitung und Entgrenzung des Krieges verächtlich gemacht oder ignoriert. Es wird höchste Zeit, diesem unverantwortlichen Irrsinn entschieden entgegenzutreten. Wir brauchen keine neuen »Helden«, die für Nation, Gott oder Kapital auf zukünftigen Schlachtfeldern ver­recken, sondern Humanisten und Diplomatinnen. Der Frieden muss gestärkt werden, nicht der Krieg! Die weitere Aufarbeitung des Unrechtscharakters der Wehrmachtjustiz kann vielleicht dabei helfen, der »inneren Mobilmachung« und Militarisierung der Bun­desrepublik etwas entgegenzusetzen. Studien zu Opfern, zur Spruchpraxis und vor allem auch biografische Studien zu den fast 3.000 Richtern wären denkbar und nötig. Nötig wäre aber auch die kritische Auseinandersetzung mit dem System dieser »Justiz« und dessen personeller Rekrutierung. Antworten auf Fragen, wie z.B. auf welchem Weg Juristen in solche Dienste genommen wurden, wie sie sich darin verhielten, welche Handlungsspielräume bestanden, sind gesellschaftlich relevant und können helfen, immer noch bestehende Legenden zu überprüfen und zu widerlegen. Auch Fragen nach der Wiederverwendung dieser Juristen und deren Einfluss auf die nachfolgende(n) Juris­tengeneration(en) in der Bundesrepublik könnten endlich erforscht werden. Es bleibt also jede Menge zu tun. Leider sieht es derzeit nicht danach aus, dass die Ampel-Koali­tion dazu Anstalten macht. Im Gegenteil.

Literatur:

Jan Korte und Dominic Heilig (Hrsg.): Kriegsverrat. Vergangenheitspolitik in Deutschland – Analysen, Kommentare und Dokumente einer Debatte, Berlin 2011.

    Jan Korte ist kulturpolitischer Sprecher für DIE LINKE im Bundestag.


    Anmerkungen:

    [1] Siehe https://dserver.bundestag.de/btp/16/16233.pdf, Tagesordnungspunkt 3, Seiten 26362C – 26368A.

    [2] Siehe »Literatur«.