»Die historische Zeit ist auf unserer Seite« (Teil I)
Boliviens Vizepräsident Álvaro García Linera
Redebeitrag bei der Veranstaltung »Konservative Restauration und neuer Widerstand in Lateinamerika« der Fakultät für Sozialwissenschaften an der Universität von Buenos Aires (UBA) am 27. Mai 2016
Ich möchte einige Überlegungen anstellen über das, was zurzeit auf unserem Kontinent abläuft, über das, was ich sehe, was auf unserem Kontinent geschieht. Das ist kein guter Moment für uns. Es ist aber auch kein schrecklicher Moment. Aber es ist der Moment eines historischen Wendepunktes.
Einige sprechen von einem Rückschritt, von einem Erstarken der restaurativen Kräfte. Sicher ist, dass im vergangenen Jahr, nach zehn Jahren eines intensiven Vormarsches, einer territorialen Ausstrahlung progressiver und revolutionärer Regierungen in unserem Kontinent, dieser Fortschritt aufgehalten worden ist. In einigen Fällen wurde er zurückgeworfen und in anderen Fällen ist seine Fortführung zweifelhaft. Mit kühlem Kopf, so wie es ein Revolutionär machen sollte, muss das Geschehen analysiert werden. In militärischer Terminologie gesprochen: die Kräfte und die realen Schauplätze, die es gibt, müssen analysiert werden, ohne etwas zu verbergen, denn von der Klarheit der Analyse hängt es ab, die realen praktischen Kräfte für einen zukünftigen Fortschritt herausfinden zu können.
Zweifellos ist ein Rückgang der progressiven Regierungen in der Region zu verzeichnen. Dort, wo die konservativen Kräfte gesiegt haben, vollzieht sich ein beschleunigter Prozess der Wiedereinsetzung der alten Eliten aus den 80er und 90er Jahren, die erneut die Kontrolle des staatlichen Handelns an sich reißen wollen, die Kontrolle über die Funktion des Staates. In Termini der Kultur heißt das, dass es eine große Anstrengung gibt, angefangen von den Massenmedien, über die Nichtregierungsorganisationen bis hin zu den mit der Rechten verwachsenen Intellektuellen, um die Idee und das Projekt eines Wandels und einer Revolution abzuwerten, sie in Zweifel zu ziehen, sie in Frage zu stellen.
Dieser ganze Angriff ist gerichtet auf das, was wir als das goldene Jahrzehnt, das großartige Jahrzehnt Lateinamerikas bezeichnen können. Das sind mehr als zehn Jahre, in denen unser lateinamerikanischer Kontinent in vielfältiger und vielseitiger Art und Weise – einige radikaler als andere, einige mehr städtisch, andere mehr ländlich geprägt, in verschiedenen sehr unterschiedlichen Sprachen, aber in einer sehr konvergenten Art – Jahre größter Autonomie und weitestgehender Souveränität erlebt hat, an die man sich seit der Staatengründung im 19. Jahrhundert erinnern kann.
Vier Dinge haben dieses großartige lateinamerikanische Jahrzehnt gekennzeichnet.
Erstens im Politischen: Ein Aufschwung auf sozialem Gebiet und bei den popularen Kräften, die die Kontrolle über die Staatsmacht übernahmen und dabei die jahrhundertealte Prinzipiendebatte überwanden, ob es möglich sei, die Welt zu verändern ohne die Macht zu übernehmen. Die popularen Sektoren, die Arbeiter, die Bauern, die Indigenen, die Frauen, die unteren Schichten überwinden diese theoretisch-abgehobene und beschauliche Debatte auf praktische Art und Weise. Sie übernehmen die Kontrollaufgaben des Staates. Sie werden zu Abgeordneten, Ratsmitgliedern, Senatoren, sie übernehmen öffentliche Ämter, sie engagieren sich, drängen neoliberale Politiken zurück, übernehmen die Staatsführung, verändern die öffentliche Politik, verändern Haushalte. Und in diesen zehn Jahren erleben wir etwas, was als eine Präsenz des Volksverbundenen, des Plebejischen in seinen verschiedenen gesellschaftlichen Klassen in der Führung des Staates bezeichnet werden könnte.
Wir erlebten in diesem Jahrzehnt eine Stärkung der Zivilgesellschaft: Gewerkschaften, Berufsvereinigungen, Siedler, Nachbarn, Studenten, Vereine fangen an sich zu diversifizieren und sich in verschiedenen Sphären auszubreiten. Die neoliberale Nacht der Apathie mit ihrer simulierten Demokratie wird unterbrochen, um wieder eine potente Zivilgesellschaft zu erschaffen, die in Verbindung mit den neuen lateinamerikanischen Staaten einen Komplex von Aufgaben übernimmt.
In Venezuela, Argentinien, Bolivien, Ecuador, Paraguay, Uruguay, Nicaragua und El Salvador erleben wir auf sozialem Gebiet eine starke Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums. Angesichts einer Politik der Ultrakonzentration des Reichtums, die den lateinamerikanischen Kontinent zu einem der ungerechtesten der Welt werden ließ, haben wir an der Spitze fortschrittlicher und revolutionärer Regierungen an einem mächtigen Umverteilungsprozess des Reichtums teilgenommen. Diese Umverteilung des Reichtums führt zu einer Ausdehnung der Mittelschichten, nicht im soziologischen Sinne des Terminus, sondern im Sinne ihrer Konsumkapazität. Die Konsumkapazität der Werktätigen, der Bauern, der Indigenen, der verschiedenen unteren sozialen Sektoren wurde erweitert.
Zugleich hat Lateinamerika in der Zeit die sozialen Ungleichheiten mehr verringert als in den vergangenen 100 Jahren. Die Unterschiede zwischen den reichsten zehn und den ärmsten zehn Prozent, die in den 90er Jahren das 100, 150 oder 200-fache betrugen, wurden im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts auf das 80-, 60- und 40-fache in einem solchen Maße verringert, dass die Teilhabe und Gleichheit der sozialen Sektoren erweitert wurden.
Auf wirtschaftlichem Gebiet probiert jede Regierung dieser Staaten mehr oder weniger intensiv post-neoliberale Ansätze bei der Wirtschaftsführung aus. Wir sprechen noch nicht von sozialistischen Ansätzen. Wir sprechen von post-neoliberalen Ansätzen, die es gestatten, dass der Staat wieder eine starke Führungsrolle übernimmt. Einige Länder treiben die Nationalisierung privater Unternehmen bzw. die Schaffung öffentlicher Unternehmen voran, die Erweiterung des Staatsapparats, die Erweiterung der Beteiligung des Staates an der Wirtschaft, um post-neoliberale Formen der Wirtschaftslenkung zu entwickeln. So sollte dem Binnenmarkt wieder mehr Bedeutung zukommen, dem Staat wieder eine größere Rolle bei der Umverteilung des Reichtums zugestanden und die Beteiligung des Staates auf strategischen Gebieten der Wirtschaft wieder gewährleistet werden.
Auf dem Gebiet der Außenpolitik wird etwas aufgebaut, was wir als eine fortschrittliche und revolutionäre Internationale auf kontinentaler Ebene bezeichnen könnten. Es wird keine Komintern geben wie damals in der Sowjetunion, aber die Präsidenten Lula, Kirchner, Correa, Evo und Chávez bilden, was wir als eine Art Zentralkomitee einer Lateinamerikanischen Internationale bezeichnen könnten, die es uns gestatten würde, riesige Schritte bei der Schaffung unserer Unabhängigkeit zu machen. In diesem Jahrzehnt entstanden neben der OAS, die früher unter Führung der USA – die das Geld gaben und damit alle Beschlüsse bestimmten – über das Schicksal unseres Kontinents entschied, die CELAC und die UNASUR, entstand eine eigene Integration der Lateinamerikaner, ohne die USA, ohne die Notwendigkeit von Vormundschaften, ohne die Notwendigkeit von Dienstherren.
Zugleich wird die Solidarität zwischen den Regierungen und zwischen den Ländern vorangebracht, um die Außenpolitik zu konsolidieren. Unser Freund Carlos Ghiroti erinnerte daran, dass er in Santa Cruz war, als es einen Staatsstreich in Bolivien gab. Damals befanden sich fünf der neun Departamentos in Bolivien unter der Kontrolle der Rechten. Wir, das heißt weder Präsident Evo noch der Vizepräsident, der hier vor euch steht, konnten in diesen Departamentos landen, wir konnten die Behörden dieser Departamentos nicht kontrollieren, wir konnten dort keine Regierungstätigkeit ausüben. Das Land war gespalten, die Rechte hatte die politische Kontrolle an sich gerissen, sie hatte eine Doppelherrschaft eingeführt, sie drohte mit einem Staatsstreich und trieb ihn voran, sie drohte mit einem Bürgerkrieg. Und in diesem Moment waren es die UNASUR, die Präsidenten Kirchner, Chávez, Correa und Lula, die uns halfen, die Ordnung wiederherzustellen.
Zusammengefasst brachte der Kontinent also in diesem glanzvollen Jahrzehnt politische Änderungen voran: die Beteiligung des Volkes beim Aufbau des Staates neuen Typs. Gesellschaftliche Veränderungen: Umverteilung des Reichtums und Verringerung der Ungleichheit. In der Wirtschaft: aktive Beteiligung des Staates in der Wirtschaft, Erweiterung des Binnenmarktes, die Schaffung neuer Mittelschichten. Auf internationalem Gebiet: politische Integration des Kontinents. Das ist keine Kleinigkeit in zehn Jahren, die vielleicht seit dem 19. Jahrhundert die wichtigsten Jahre für die Integration, für die Unabhängigkeit waren, die unser Kontinent erlebt hat.
Allerdings, und dieser Debatte muss man sich frontal stellen, ist dieser Prozess der Ausstrahlung und der territorialen Ausdehnung der fortschrittlichen und revolutionären Regierungen zum Stillstand gekommen. In einigen äußerst wichtigen und entscheidenden Ländern des Kontinents ist es zu einer Rückkehr von rechten Sektoren gekommen, und es besteht die Gefahr, dass die Rechte die Kontrolle in weiteren Ländern wieder übernimmt. Es ist wichtig, dass wir uns die Fragen nach dem Warum stellen. Was ist geschehen, dass wir in diese Situation geraten sind? Offensichtlich versucht die Rechte immer wieder, fortschrittliche Prozesse zu sabotieren, und nach Mitteln dafür zu suchen. Für sie ist es eine Frage des politischen Überlebens, eine Frage der Kontrolle und Verfügung über den wirtschaftlichen Profit. Die Rechte in der ganzen Welt und auf unserem Kontinent ist die Rechte, die durch die Aneignung der öffentlichen Ressourcen zum Unternehmertum und Millionärssektor wird. Es ist klar, dass sie immer wieder versucht, Komplotte zu schmieden, das ist eine reale Tatsache. Aber es ist wichtig, dass wir einschätzen, welche Dinge wir nicht gut gemacht haben, wo unsere Grenzen lagen, wo es Irrtümer gab, die es ermöglicht haben, dass die Rechte die Initiative wieder an sich reißt. Denn wenn wir uns darüber klar werden, wo unsere Schwächen liegen, werden wir diese Schwächen überwinden und die Rückkehr der Rechten verhindern bzw. erneut die Initiative übernehmen können, um diese Rechte wieder durch die demokratische Mobilisierung des Volkes zu ersetzen. [...]
Den längeren Teil II dieser Rede (siehe auch www.amerika21.de) dokumentieren wir im Heft 1/2017. Übersetzung: Gerhard Mertschenk.