"Die Hauptaufgaben unserer Tage", oder: Eine neue Qualität in den völkerrechtlichen Beziehungen
Dr. Wolfgang Biedermann, Berlin
Mit der Großen Sozialistischen Oktoberevolution 1917 setzte im welthistorischen Maßstab ein Prozeß ein, der die Aufhebung der auf Ausbeutung beruhenden sozialen Ungleichheit zum Inhalt hat. An Stelle der jahrhundertealten Herrschafts- und Knechtschaftsverhältnisse sollte in der Perspektive das humane Prinzip: "Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Leistungen" zum bestimmenden Moment zwischen den Beziehungen der Individuen in der Gesellschaft werden. In diesem Kontext praktizierte Sowjetrußland, die Sowjetunion, außenpolitisch einen adäquaten und zugleich qualitativ völlig neuen Grundsatz, das Prinzip der friedlichen Koexistenz. Ein erster Schritt auf diesem Wege war das Dekret über den Frieden vom 8. November 1917.
Der Erste Weltkrieg, am 4. August 1914 vom imperialistischen deutschen Kaiserreich im Kampf um einen "Platz an der Sonne" entfesselt, ging im Frühjahr 1918 seinem absehbaren Ende entgegen. Ein bis dahin unbekanntes Metzeln und Krepieren an den Fronten im Osten und im Westen sollte aufhören. Am 3. März wurde der (Raub)Friedensvertrag[1] von Brest-Litowsk zwischen Sowjetrußland auf der einen Seite und Deutschland, Österreich-Ungarn, Bulgarien sowie der Türkei ("Mittelmächte") auf der anderen Seite unterzeichnet.
Am 11. März 1918 publizierte W. I. Lenin unter dem obengenannten Titel eine programmatische Schrift, deren Grundgedanken zum integralen Bestandteil sowjetischer Außenpolitik werden sollten. Der Autor verglich den Vertrag von Brest-Litowsk mit dem "Tilsiter" Frieden[2] und bemerkte zur Dialektik historischer Prozesse: "Der Tilsiter Frieden war die größte Erniedrigung Deutschlands und gleichzeitig eine Wendung zu einem gewaltigen nationalen Aufschwung. […] Es ist so gekommen, daß jetzt gerade der Deutsche neben dem bestialischen Imperialismus das Prinzip der Disziplin, der Organisation, des harmonischen Zusammenwirkens auf dem Boden der modernsten Maschinenindustrie, der strengsten Rechnungsführung und Kontrolle verkörpert. Und gerade daran mangelt es uns."[3]
Deutschland galt hinsichtlich seiner hoch entwickelten Wissenschaft und Technik, Arbeitsproduktivität und Organisiertheit als vorbildlich und unter diesen Gesichtspunkten als nachahmenswert.[4] Im Gegensatz hierzu existierte in der Sowjetunion bis Mitte der 1920er Jahre eine überwiegend landwirtschaftliche Struktur nebst einem Analphabetentum von rund 80%. Nachdem der Bürgerkrieg und die ausländische Intervention in Sowjetrußland beendet waren (1922), ging die Sowjetmacht daran, das Land zu industrialisieren, die gesamte Volkswirtschaft zu modernisieren. Die Sowjetunion benötigte hierzu neben Ausrüstungen für die zu entwickelnde innovative Elektroindustrie beispielsweise Werkzeugmaschinen aller Art.[5]
Im Vertrag von Rapallo[6] (16. April 1922) wurde der Rahmen für eine wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen der (zunächst) RSFSR und Deutschland skizziert, der auf dem Prinzip der friedlichen Koexistenz basierte. Fixiert waren unter anderem der Verzicht auf Ersatz der Kriegskosten und Kriegsschäden. Deutschland anerkannte beispielsweise die nach der Oktoberrevolution erfolgten Nationalisierungen deutschen Eigentums. Dieser Vertrag bildete bis zum Beginn der Errichtung der faschistischen Diktatur 1933 die formelle Grundlage des Verhältnisses zwischen den beiden Staaten.
Die Machtübertragung an Hitler am 30. Januar 1933, erwünscht und befördert seitens der Großagrarier/Junker und des großen Kapitals, führte zur Abschaffung des bürgerlich-parlamentarischen Systems der Weimarer Republik und forcierte den Weg einer umfassenden Militarisierung. Unter dem Begriff der "Wehrhaftmachung" begann die Wiederaufrüstung und die Ausrichtung des öffentlichen Lebens auf den Krieg, auf den militärischen Expansionskurs. Unter den alten Eliten herrschte Konsens über Hitlers Verlautbarungen, den Marxismus/Bolschewismus mit Stumpf und Stiel auszurotten sowie über dessen Pläne zur Neuordnung Europas respektive der Welt.
Begünstigt durch die Haltung der Westmächte[7],wurde aus Deutschland in wenigen Jahren ein hochgerüstetes und bis an die Zähne bewaffnetes Land, bereit, ein weiteres Mal die Neuaufteilung der Welt zu erzwingen. Zugleich wurden die demokratischen Kräfte, in erster Linie die Kommunistische Partei, sowie jegliche Form des Widerstands offen mit der physischen Vernichtung bedroht. In Ergänzung erfolgte eine soziale sowie nationalchauvinistische Politik und Propaganda.
Es gelang der UdSSR zwar bilaterale Verträge (1935) mit Frankreich und der ČSR über gegenseitigen Beistand zu ratifizieren, die allerdings kurz darauf zu Makulatur werden sollten. Mit dem Münchner Abkommen (29. September 1938) über die Abtretung der so bezeichneten Sudeten (Teile Böhmens und Mährens) an das Nazireich wurde letztlich die ČSR seitens der Westmächte preisgegeben.[8] Die "Erledigung der Resttschechei" erfolgte im März 1939 – Einmarsch der Hitlerwehrmacht in Prag.
Vor diesem hier knapp skizzierten Hintergrund entschloß sich die UdSSR, das Angebot Deutschlands[9] anzunehmen, einen Nichtangriffsvertrag nebst einem geheimen Zusatzprotokoll[10] zu unterzeichnen (23. August 1939), und sicherte sich somit eine Frist von wenigstens zwei Jahren vor dem militärischen Überfall.[11]
Am 1. September 1939, früh morgens, begann mit dem Überfall Deutschlands auf Polen der Zweite Weltkrieg – am 3. September ergingen von England und Frankreich formelle Kriegserklärungen an den Aggressor.
Die Pläne seitens des faschistischen Deutschlands, die Sowjetunion zu kolonisieren, deren Bevölkerung zu versklaven und auszurotten, gingen bekanntlich nicht auf. Der Krieg kehrte, schier unaufhaltsam, zu seinem Ausgangspunkt zurück. Am 30. April 1945 erstürmten die Truppen der UdSSR, die die Hauptlast des Zweiten Weltkrieges unter sehr großen Opfern getragen hatte, das Zentrum von Berlin und hißten auf den Reichstag das rote Banner mit Hammer und Sichel. Die Weltherrschaftspläne des faschistischen Deutschlands lagen begraben inden rauchenden Trümmern der Reichskanzlei. Die Vertreter des OKW unterzeichneten am 8. Mai in Berlin-Karlshorst die allgemeine und bedingungslose Kapitulation Deutschlands. Der Zweite Weltkrieg in Europa war offiziell beendet.
Parallel, mit dem sich abzeichnenden militärischen Zusammenbruch Hitlerdeutschlands, berieten die Verbündeten der Antihitlerkoalition in Teheran (1943) und Jalta (1945) die zukünftigen Geschicke Deutschlands. Die sowjetische Deutschlandpolitik setzte sich dann auf der Potsdamer Konferenz der "Großen Drei" (Stalin, Churchill, später Attlee, und Truman) im Juli 1945 durch. Deutschland soll ein demokratisches, entmilitarisiertes und einheitliches Gebilde sein, in dem die Wurzeln des Militarismus und Nazismus zur Beförderung einer kriegerischen Expansion verdorrt sind. Eine gesamtdeutsche und demokratische Regierung hatte die Überreste des Faschismus zu beseitigen und die ihr auferlegten Verpflichtungen gegenüber den Alliierten zu erfüllen, so daß ein Friedensvertrag geschlossen werden könne.[12] In summa manifestierten sich hier auf lange Sicht grundlegende Interessen seitens der UdSSR. Es lag zugleich jedoch auf der Hand, daß ein solches Resultat auch den Bedürfnissen anderer Völker entgegenkam.
In der sowjetischen Besatzungszone vor allem vollzog sich konsequent die antifaschistisch-demokratische Umwälzung entsprechend den Beschlüssen der Potsdamer Konferenz. Treibende Kräfte waren hauptsächlich die Vertreter der KPD beziehungsweise der späteren Sozialistischen Einheitspartei (SED). Die Bodenreform, die Enteignung der Junkerwirtschaften ab 100 ha und die Verteilung des Reformlandes an Landarbeiter oder landarme Bauern war bereits im Herbst 1946 beendet. In Sachsen entschied am 30. Juni 1946 ein Volksbegehren über die Beschlagnahme der Betriebe von Kriegsverbrechern und aktiven Nazis. Die Maßnahmen der antifaschistisch-demokratischen Umwälzung in der sowjetischen Besatzungszone, erwähnt seien hier noch die Bildungs- und Justizreform, waren im Jahre 1948 abgeschlossen. Mit diesem tiefgehenden Reformwerk verband sich zum ersten Male in der deutschen Geschichte eine genuin soziale Alternative, die auf die Überwindung alt tradierter geistig-kultureller Verhaltensweisen und Normen des Gros der Bevölkerung zielte.
In den westlichen Besatzungszonen hatten sich indessen Tendenzen bemerkbar gemacht, die sich sukzessive vom Geist und Buchstaben des Potsdamer Abkommens entfernten.
Der Prozeß der Spaltung Deutschlands kulminierte mit der Annahme der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland im Mai 1949, und eine westdeutsche Regierung übernahm in Bonn im September die Amtsgeschäfte. Am 7. Oktober 1949 wurde die Deutsche Demokratische Republik gegründet. Das Prinzip der friedlichen Koexistenz war ihr außenpolitischer Eckpfeiler.
Anmerkungen:
[1] Bedeutete unter anderem die Abtrennung Litauens, Kurlands und großer Teile Polens von Sowjetrußland, den Verlust der wertvollsten Getreideanbaugebiete sowie die Anerkennung des Okkupationsregimes deutscher Truppen in den besetzten Gebieten. Daneben sollte Sowjetrußland 6 Mrd. Mark an den deutschen Fiskus zahlen.
[2] Tilsiter Frieden 1807. Preußen wurde durch Napoleon I. unterworfen. Große Teile Deutschlands gerieten unter französische Fremdherrschaft, die zugleich jedoch antifeudale Reformen ermöglichte, beispielsweise die Einführung des französischen "Code civil" (1808), des bürgerlichen Gesetzbuches.
[3] Lenin, W. I., Die Hauptaufgabe unserer Tage, in: Ausgewählte Werke in 2 Bde, Berlin: Dietz-Verlag 1953, Bd. 2, S. 356.
[4] Zudem verfügte Deutschland über eine gut organisierte und starke Arbeiterbewegung, deren Spaltung sich allerdings zum gegebenen Zeitpunkt als sehr verhängnisvoll erweisen soll.
[5] Im Jahre 1927 war das Vorkriegsniveau der Wirtschaftsentwicklung erreicht. Von dieser niedrigen Stufe ausgehend erfolgte der rasche Übergang zu einer modernen Wirtschaftsstruktur mit völlig neuen Industriezweigen.
[6] Von deutscher Seite durch W. Rathenau unterzeichnet. Wird wenig später von Mitgliedern der rechtsgerichteten Organisation Consul ermordet.
[7] Hierfür steht vor allem die Appeasementpolitik. Die langjährigen Bemühungen seitens der Sowjetunion, das Prinzip der friedlichen Koexistenz am Vorabend des Zweiten Weltkrieges durchzusetzen (System der kollektiven Sicherheit) scheiterten am Verhalten Frankreichs und Großbritannien (21. August 1939).
[8] Im März gleichen Jahres war der "Anschluß" Österreichs organisiert und dessen Potential in die beschleunigte Kriegsvorbereitung integriert worden.
[9] Den Zeitpunkt des Überfalls auf Polen (Fall "Weiß") zum 1. September 1939, hatte das Oberkommando der Wehrmacht (OKW) bereits am 3. April gleichen Jahres festgelegt.
[10] Siehe Semjonow, W. S., Von Stalin bis Gorbatschow. Ein halbes Jahrhundert in diplomatischer Mission 1939–1991. Berlin: Nicolaische Verlagsbuchhandlung 1995, S. 60 ff.
[11] Ebenda, S. 63.
[12] Ebenda, S. 251.