"... die Gewalttätigkeit einiger westlicher Länder."
Dokumentation
Johannes B. Kerner: Ein sehr herzliches Willkommen an Jürgen Todenhöfer. Schön, daß Sie da sind, Herr Todenhöfer. Einer der wichtigsten deutschen Medienmanager, aber das soll uns gar nicht weiter beschäftigen. Denn hier geht es nicht um den Job, sondern um Ihr Engagement. Der Titel des Buches heißt "Warum tötest Du, Zaid?" Als Frage formuliert. Was haben Sie für eine Antwort bekommen?
Dr. Jürgen Todenhöfer: Ja, da muß man die Geschichte von Zaid erzählen. Zaid ist ein 22-jähriger Student, der mit diesem Krieg nichts zu tun haben möchte. Zaid hat zwölf Jahre lang schwerste Sanktionen erlebt. Das heißt, es gibt nichts richtiges zu essen, es gibt kaum noch Medikamente im Irak. Und er kann sich nicht vorstellen, daß es gegen dieses am Boden liegende Land einen Krieg gibt. Und dann schlagen dann doch irgendwann in seiner Heimatstadt Ramadi die Bomben ein. Und Zaid beschließt mit seinen beiden Brüdern, sich trotzdem nicht am Widerstand zu beteiligen. Er will studieren. Und er zieht das durch. Und drei Jahre später, im Sommer 2006, wird sein zweitjüngster Bruder auf offener Straße frühmorgens von amerikanischen Scharfschützen von hinten erschossen. Und Zaid hat jetzt noch einen Bruder, der heißt Karim. Und die beiden beschließen, sich immer noch nicht am Krieg zu beteiligen, ganz anders als ihre jungen Freunde, die im Widerstand sind gegen die Amerikaner. Und dann schlägt im Winter 2006 ganz naheliegend im Haus der Familie von Zaid eine Bombe ein. Die Familie läuft in Panik zu einem Haus eines Onkels, der ein paar Hundert Meter entfernt wohnt. Und als sie dort ankommen, stellen sie fest, sie haben vergessen, die Heizöfen auszustellen. Und diese Heizöfen werden mit Kerosin beheizt. Und Kerosin ist sehr teuer im Irak inzwischen, und da die Öfen alt sind, ist das auch gefährlich. Und der kleine Bruder beschließt, zurückzulaufen zum Haus und die Heizöfen auszustellen. Und er geht raus, er öffnet die Tür. Zaid ruft ihm noch zu, paß auf, paß auf dich auf, und in dem Augenblick wird Karim 30 Meter vor dem Haus von amerikanischen Schützen erschossen.
Und dieser Junge Zaid, über den ich schreibe, der versucht, nach draußen zu stürzen, er will seinen Bruder reinholen. Aber alle halten ihn fest, weil sie Angst haben, daß er jetzt auch erschossen wird. Denn die ganze Nacht wird geschossen, und die ganze Nacht steht die Familie an einem Fenster und sieht draußen, wie ihr 19jähriger Sohn und Bruder verblutet. Und erst im Morgengrauen kann die Familie Karim bergen. Er wird am Nachmittag beerdigt. Und in diesem Augenblick, bei der Beerdigung seines letzten Bruders, schließt sich Zaid dem Widerstand an, dem Widerstand gegen die amerikanische Besatzung.
Weil er das nicht mehr aushält, weil er sagt, jetzt kann ich nicht mehr, jetzt muß ich?
Weil er sagt, ich muß einen Beitrag leisten, daß junge Iraker und irakische Familien nicht mehr getötet werden.
Können Sie ihn verstehen?
Ich glaube, Zaid und ich, wir sind keine dicken Freunde geworden, weil ich eher ein Anhänger von Martin Luther King oder Gandhi bin, und trotzdem ist es sehr, sehr schwer, ihn nicht zu verstehen.
Wenn Sie an Ihre Reise denken, die Sie in den Irak gemacht haben, welche Bilder fallen Ihnen zuerst ein, wenn Sie daran denken? Welche Bilder haben sich so eingebrannt, daß sie die nie vergessen werden?
Mit fallen ein die Bilder zerstörter Häuser, mir fallen ein riesige Mauern, die überall an den Grenzen aufgebaut sind, mir fallen ein die ständigen Polizeikontrollen – wir sind immer wieder von Polizeiwagen angehalten worden, die ihre Maschinenpistolen auf unser Auto gerichtet haben –, mir fallen ein sehr unglückliche Familien, ein leidendes Land, und mir fällt vor allem ein eine Mutter, die Mutter eines Freundes, die ein Plädoyer hält für Zaid, und die sagt, wer denkt eigentlich im Westen an die Mütter im Irak, die ihre Kinder verlieren? Man geht davon aus, daß inzwischen 1,2 Millionen Iraker – irakische Zivilisten – getötet worden in diesem Krieg, ...
... nachdem die Amerikaner reingegangen sind.
Nachdem die Amerikaner reingegangen sind, daß heißt aber nicht ...
Ist es zynisch, das zu vergleichen mit den Opferzahlen unter Saddam Hussein?
Also, für mich war Saddam Hussein ein grausamer Diktator, ein Verbrecher, ...
Ich habe das nicht genau im Kopf, aber ungefähr 250.000 Tote ...
290.000.
290.000. Und das verglichen mit jetzt 1,2 Millionen. Nur die Frage: Ist es zynisch, das zu vergleichen?
Ich würde das nicht vergleichen. Ich habe mich auch immer geweigert bei meinen Besuchen vor dem Krieg, Saddam Hussein zu treffen oder ein anderes Mitglied der Regierung zu treffen. Aber ich finde zynisch die Diskussion im Westen, die wir haben, wir sprechen ja ständig über die Gewalttätigkeit der muslimischen Welt. Und wir hatten ja gerade die No Angels hier, und da ist auch eine junge Muslimin dabei. Und wir tun so, als sei das das Problem unserer Zeit – die Gewalttätigkeit der muslimischen Welt. Ich will Ihnen mal zwei Zahlen nennen, obwohl ich weiß, daß man Schicksale nicht mit Zahlen beschreiben kann: Die Terrorbande Al Kaida hat 5.000 westliche Zivilisten ermordet in 20 Jahren.
Die meisten davon auf einen Schlag ...
... fast 3.000 am 11. September. Und ich habe mit Angehörigen der Opfer des World Trade Centers gesprochen, mehrere Gespräche geführt, und war tief erschüttert, weil, hinter jedem dieser 5.000 Menschen, die Al Kaida ermordet hat, steckt eine Familie, ein Freundeskreis, steckt eine große Tragödie. Und deswegen sind die Al Kaida für mich auch keine Freiheitskämpfer, keine Widerstandskämpfer, keine Mudschaheddin, sondern, das sind Mörder. Aber der amerikanische Präsident hat im Irak nicht 5.000 Zivilisten getötet, er hat mehrere Hunderttausend Zivilisten getötet. Und es gehört schon eine unglaubliche Überheblichkeit dazu, zu sagen, das Problem unserer Zeit sei die Gewalt der muslimischen Welt. Das Problem unserer Zeit ist die Gewalttätigkeit einiger westlicher Länder.
Gibt es bei uns oder stellen Sie so etwas fest, daß es fast eine Art – man soll vorsichtig sein mit dem Wort, aber ... – fast eine Art von Rassismus gegenüber dem Islam gibt?
Es gibt Äußerungen von westlichen, nicht nur deutschen, sondern niederländischen, amerikanischen Politikern, die aus meiner Sicht ganz klar rassistische Züge tragen. Und wir haben ja neben der muslimischen Welt auch andere Welten behandelt im Grunde wie Untermenschen, Sartre, der berühmte französische Philosoph, sagte, wie Halbaffen. Und wenn Sie mal feststellen, auf welchen Seiten es inzwischen steht, wenn 20 oder 30 oder 40 Iraker zufällig bei einem Bombenangriff der Amerikaner getötet werden, stellen Sie fest, daß für viele Menschen das Leben eines Irakers nicht viel wert ist. Ich hatte ein wunderbares Gespräch mit einer großen jüdischen Schriftstellerin, kurz vor ihrem Tod, Susan Sonntag, sie ist Amerikanerin – und ich hab ihr mal gesagt: Ich habe den Eindruck, daß ein Amerikaner mindestens so viel wert ist wie 10 Iraker. Und da hat sie gesagt: So ein Quatsch! Ein Amerikaner ist so viel wert wie 1.000 Iraker. Und sie war genau so traurig darüber wie ich.
Woher kommt diese verschobene Wahrnehmung? Sind wir da einfach einer Kriegsmarketingmaschinerie erlegen? Wir alle wissen ja aus unserem normalen Leben, daß dieses Leben so viel wert ist wie jedes Leben. Warum wirkt das bei uns anders?
Ich glaube, daß wir uns in einer Lebenslüge sehr bequem eingerichtet haben. Und diese Lebenslüge heißt eben, wir sind die Guten, wir sind die Edlen, wir sind die Hilfreichen. Und die Wirklichkeit ist anders, und das ist natürlich schwierig nach so einer fröhlichen Sendung, so ernste Dinge zu sagen.
Aber das ist alles Teil des Lebens und insofern paßt das schon hierher.
Ich glaube, daß wir im Westen die Welt nicht erobert haben durch die Großartigkeit unserer Ideen, die Großartigkeit unserer Werte, die Großartigkeit unserer Religion, sondern dadurch, daß wir viel gnadenloser Gewalt angewendet haben als andere. Und, wenn ich jetzt noch ein Stückchen ernster werden darf – es waren ja keine Muslime, die auf Kreuzzügen 4 Millionen Menschen massakriert haben; es waren keine Muslime, die im Kolonialismus 50 Millionen Menschen umgebracht haben, und es waren auch keine Muslime, die den ersten und den zweiten Weltkrieg mit 70 Millionen Toten angefangen haben. Und es waren keine Muslime, die 6 Millionen Juden umgebracht haben. Sondern, es war die Gewalttätigkeit der westlichen Welt. Man muß das einfach mal festhalten, und ich glaube, man muß auf der einen Seite die Vergangenheit bewältigen, aber man muß auch die Gegenwart bewältigen, und wenn man über die Opfer von Al Kaida spricht – und ich wiederhole noch einmal: für mich sind Al Kaida Täter, Mörder –, dann muß man auch über die Opfer der westlichen Politik im Irak und in Afghanistan sprechen.
Ich will es nicht künstlich runterbrechen, ich will es weder verharmlosen noch künstlich vereinfachen, nur um eine einfache Frage zu stellen: Macht es uns Angst, weiles uns so fremd ist, und wäre eigentlich das Beste, wenn man sich mehr austauschen würde, mehr voneinander wüßte?
Ich glaube, das Hauptproblem besteht darin, daß die meisten Menschen, die über diese Länder sprechen, die über den Irak sprechen oder über Afghanistan sprechen, noch nie in diesen Ländern waren. Das zentrale Problem der Politik unserer Tage ist, daß kein einziger amerikanischer Politiker jemals eine Woche oder fünf Tage, wie ich mir das erlaubt habe, in einer irakischen Familie verbracht hat. Kein einziger französischer Politiker war einmal fünf Tage in einer irakischen oder auch afghanischen Familie und auch kein deutsche Politiker ...
Heißt das, sie werden eingeflogen, dann wird ein bißchen Zauber gemacht, so daß alles schön sauber aussieht, dann gibt es eine Pressekonferenz und dann fliegen die wieder nach Hause?
Ich hab das in Ramadi, wo ich war, selber erlebt, da gab es einen ganz streng militärisch abgesicherten Bereich, da wurden amerikanische Senatoren eingeflogen für zwei Stunden, und die sagten dann, die Elektrizitätsversorgung ist fabelhaft, den Menschen geht´s gut, gekämpft wird hier nicht mehr. Und ich habe dann nachts oben am Himmel gesehen, wie Hubschrauber geschossen haben und die Elektrizitätsversorgung war so, daß ich wie alle, wie fast alle Iraker, nachts im Freien übernachten mußte, das heißt, wir haben alle auf Wiesen übernachtet, weil es eben keine Elektrizitätsversorgung gab.
Weil es im Haus nicht auszuhalten ist wegen der Hitze?
Ja, weil wir 50°C Temperatur hatten.
Wenn sie selbst Informationen von dort bekommen, in der Hauptsache ja von Journalisten, wir alle leben ja von Informationen, die Journalisten uns bringen, glauben sie denen?
Es gibt unter Ihren Zuschauern heute Abend, keinen einzigen, der jemals den wahren Krieg im Irak gesehen hat. Und jetzt muß ich nochmals Zahlen zu Hilfe nehmen. Es gibt im Irak etwa 100.000 richtige Widerstandskämpfer, Freiheitskämpfer, die keine Zivilisten umbringen, sondern, die gegen die Besatzung der Amerikaner kämpfen, und es gibt 1.000, also ein Hundertstel, Al Kaida-Kämpfer und diese Al Kaida-Kämpfer, das sagte ich Ihnen vorhin schon, sind für mich Mörder, sie sind übrigens zu 80 bis 90 Prozent keine Iraker, sondern sie sind Ausländer. Das sagt selbst die amerikanische Militärführung. Es gibt – und jetzt führe ich Sie in die Details dieses Krieges ein –, es gibt jeden Tag durchschnittlich etwa 100 Aktionen der amerikanischen Besatzung, das sind Razzien, Schießereien, Bombardierungen, ich habe einige davon selber erlebt, und es gibt auch etwa 100 Aktionen des Widerstandes, dieses Widerstandes, der nur gegen die Amerikaner kämpft und der nie gegen Zivilpersonen kämpft und der Al Kaida verachtet, und der mit denen nichts zu tun haben will. Und jetzt frage ich Sie – was sehen Sie im Fernsehen? Sie sehen nicht die 100 Aktionen der Widerstandskämpfer, sie sehen nicht die 100 Aktionen der amerikanischen Truppen, sie sehen die ein oder zwei oder drei widerlichen Selbstmordattentate ausländischer Terroristen. Und warum sehen Sie die im Fernsehen? Sie sehen die im Fernsehen, weil die amerikanische Regierung diese Selbstmordanschläge der 1.000 Al Kaida-Terroristen im Irak braucht, um diesen Krieg in Amerika rechtfertigen zu können. Das heißt, Sie sehen nicht den wahren Krieg im Irak.
Ich will zum Schluß unseres Gesprächs noch einmal zu Zaid kommen. Sie haben gesagt, dicke Kumpels sind Sie nicht geworden, aber vermutlich wissen Sie doch, wovon der träumt, was der gerne möchte? Können Sie mir sagen, wovon er träumt und glauben Sie, zweiter Teil der Frage, daß diese Träume einmal in Erfüllung gehen?
J. Todenhöfer: Zaid träumt davon, daß es in seinem Land Frieden gibt. Zaid träumt davon, daß er einen richtig tollen Job bekommt. Da Zaid Fußballer ist, träumt er davon, daß er einmal bei einem ganz großen Fußballspiel im Westen dabei sein kann. Er hat ganz bescheidene Träume, und immer wenn ich ihm gesagt habe ... und er träumt von einer großen Familie. Er würde eine Sunnitin, würde eine Schiitin heiraten, er würde auch eine Christin heiraten, und als ich ihn zum Beispiel gefragt habe, würdest du eine Schiitin heiraten oder würdest du eine Christin heiraten, da hat er gesagt, ihr habt Fragen – ihr im Westen. Dieser Junge, der 22 Jahre alt ist, der diesen Krieg nie gewollt hat, der hat dieselben Träume wie Sie. Der möchte wie Sie bei einem spannenden Fußballspiel dabei sein und eine kleine, nein, eine große Familie haben mit einer lieben Frau.
J. B. Kerner: Herr Todenhöfer, ich danke Ihnen herzlich dafür, daß Sie erneut zu mir in die Sendung gekommen sind. Ich finde das ganz beieindruckend, wie Sie sich da engagieren, und ich weiß, daß das sehr beeindruckend zu lesen ist, was Sie da niedergeschrieben haben. Das Buch heißt "Warum tötest Du, Zaid?" Dr. Jürgen Todenhöfer, danke.
Dr. Jürgen Todenhöfer in der Sendung Johannes B. Kerner am 4. März 2008.