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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Die Geschwister Oppermann

Lion Feuchtwanger (1884 – 1958)

(Roman, Aufbau-Verlag, Berlin und Weimar 1960, Auszug)

Mit den Sorgen der Menschen erklärt die veröffentlichte Meinung gerne den Zulauf, dessen sich AfD, PEGIDA und andere Demagogen erfreuen. Das klingt nicht nur wie eine von Verständnis getragene Entschuldigung. Da werden - mit Vorliebe religiöse - Minderheiten zum Sündenbock für strukturelle Probleme gemacht. Probleme, deren Ursachen im Profitsystem liegen. Der ambivalente Umgang mit den Muslimen ist die Andockstelle, die die sogenannte Mitte der Gesellschaft denen von Rechtsaußen bietet - gewollt oder ungewollt. Natürlich gehöre der Islam zu Deutschland, heißt es. Aber die Frage, warum Terror im Namen des Islam ausgeübt wird, müsse erlaubt sein und gestellt werden. Also doch!

Auf diese Weise wird abgelenkt von den realen Ursachen für soziale Verwerfungen und Flüchtlingsströme, also von massiver kapitalistischer Ausbeutung und imperialistischen Kriegen - die Mütter allen Terrors. Jede Lüge kommt da zupass.

Geschichte wiederholt sich wohl doch. Vieles von dem, was Lion Feuchtwanger in seinem schon 1933 unter dem Titel »Die Geschwister Oppenheim« [1] erschienenen Roman beschreibt, ist wieder von beklemmender Aktualität. Einer der hier dokumentierten Romanauszüge spielt Ende 1932, der andere unmittelbar nach dem Reichstagsbrandprozess.

Man sprach über Politik, das ließ sich jetzt leider niemals vermeiden. Am ungeniertesten gab sich, wie immer, Jacques Lavendel. Breit und faul im bequemsten Sessel lehnend, die listigen, gutmütigen Augen halb geschlossen, hörte er mit spöttischer Nachsicht zu, wie Karl Theodor Hintze die völkische Bewegung in Bausch und Bogen verurteilte. Nach Prokurist Hintze waren ihre Anhänger allesamt Dummköpfe oder Schwindler. Herrn Jacques Lavendels breites Gesicht lächelte aufreizende Duldsamkeit. »Sie werden den Leuten nicht gerecht, lieber Herr Hintze«, sagte er mit seiner freundlichen, heiseren Stimme, den Kopf wiegend. »Das ist ja die Stärke dieser Partei, daß sie die Vernunft ablehnt und an den Instinkt appelliert. Es gehört Intelligenz dazu und Willensstärke, das so konsequent durchzuführen wie diese Burschen. Die Herren verstehen sich auf ihre Kundschaft wie jeder gute Geschäftsmann. Ihre Ware ist schlecht, aber gängig. Und ihre Propaganda, first-class, sage ich Ihnen. Unterschätzen Sie den Führer nicht, Herr Hintze. Das Möbelhaus Oppermann könnte froh sein um so einen Propagandachef.«

Herr Jacques Lavendel sprach nicht laut, dennoch, ohne viel Gewese, erzwang sich seine heisere Stimme Gehör. Aber man war nicht willens, ihm zuzustimmen. Hier, in, den kultivierten Räumen Gustav Oppermanns, war man nicht geneigt, einer so blödsinnigen Sache wie der völkischen Bewegung im Ernst Chancen zuzugestehen. Die Bücher Gustav Oppermanns standen an den Wänden, Bibliothek und Arbeitszimmer gingen schön ineinander, das Bildnis Immanuel Oppermanns schaute schlau, gutmütig, ungeheuer real auf die Versammlung. Man stand auf festem Grund, ausgerüstet mit dem Wissen der Zeit, gesättigt mit dem Geschmack von Jahrhunderten, ein stattliches Bankkonto hinter sich. Man lächelte darüber, daß jetzt das gezähmte Haustier, der Kleinbürger, androhte, zu seiner wölfischen Natur zurückzukehren. (S. 40/41)

»Du mußt verreisen«, sagte Mühlheim. »Du mußt über die Grenze. Sofort. Noch morgen.« Gustav fuhr hoch, Augen und Mund töricht aufgerissen; die Quaste seines unordentlich gegürteten Schlafrocks schleifte am Boden. »Was?« fragte er.

»Der Reichstag brennt«, wiederholte Mühlheim. »Sie haben ein Kommuniqué ausgegeben, die Kommunisten hätten ihn angezündet. Das ist natürlich Unsinn. Sie haben ihn selber angezündet. Sie wollen Material haben, um die Kommunisten zu verbieten, damit sie allein, auch ohne die Deutschnationalen, die absolute Majorität haben. Soviel ist gewiß: jetzt können sie nicht mehr zurück. Nach dieser Gewalttat kommen sie nur mehr mit immer wilderem Terror weiter. Es ist ganz klar, sie führen jetzt das Programm aus, das sie schon für die Nacht der Hindenburgwahl vorbereitet hatten. Du bist ihnen verhaßt. Sie haben in den letzten Tagen Scheinwerfer auf dich gerichtet. Sie werden ein Exempel an dir statuieren wollen. Du mußt fort, Oppermann, über die Grenze, sogleich.«

Gustav versuchte zu folgen. Es ging nicht. Die Worte prasselten wie Schläge auf seinen Kopf. Was war das für ein Quatsch, den Mühlheim ihm da vorsetzte? So bekämpften sich vielleicht Gangsterbanden, irgendwo in Zentralamerika. Aber politische Parteien? In Berlin? 1933? Mühlheim hat einen Nervenkollaps. [...]

Es ist klar, dachte Gustav, während Mühlheim den Kognak hinuntergoß, die Panik ringsum hat ihn verrückt gemacht. Den Reichstag anzünden. Sie müßten ja toll sein. Wie wollen sie mit einer so ungeheuerlichen, plumpen Lüge durchkommen? So kann man Neros brennendes Rom zusammenklittern, für Kolportagehefte. Aber heute kann man das nicht machen, im Zeitalter des Telefons und der Rotationsmaschine. [...]

Und vielleicht hat er doch recht. Vor vier Wochen hätte man manches für unmöglich gehalten, was inzwischen passiert ist. Er ist kein Phantast. Es geschehen jetzt Ungeheuerlichkeiten. Auf keinen Fall darf ich ihn reizen, ihm scharf widersprechen. Ich will ihn nicht gleich wieder verlieren. Sehr behutsam spricht er ihm von seinen Zweifeln.

Mühlheim winkte ab. »Natürlich ist dieser Brand ungeheuer plump und dumm gemacht«, sagte er. »Aber alles, was sie gemacht haben, ist plump und dumm, und trotzdem haben sie sich bis jetzt niemals verrechnet. Sie haben mit erschreckender Folgerichtigkeit auf die Dummheit der Massen spekuliert, der Führer selber hat diese Spekulation in den ersten Ausgaben seines Buches unumwunden als das Grundprinzip seiner politischen Praxis bezeichnet: warum sollen sie nicht so weitermachen? Sie haben mit grauenvoller Zielbewußtheit da weitergelogen, wo das Große Hauptquartier bei Kriegsende hat aufhören müssen. Und die Bauern und die Kleinbürger haben ihnen jede Lüge geglaubt. Warum sollen sie auf diese Lüge nicht hereinfallen? Das Prinzip der Jungens ist wirklich furchtbar einfach: dein Ja sei Nein und dein Nein sei Ja. Mit unnötigen Feinheiten halten sie sich nicht auf. Sie sind gigantische, schauerlich vergröberte, kleinbürgerliche Macchiavellis. Gerade dieser primitiven Bauernschlauheit verdanken sie ihre Erfolge. Weil nämlich die andern immer wieder annehmen, auf solche Plumpheit falle kein Mensch herein. Und dann; immer wieder, fallen alle herein. […] Dieses konsequente, prinzipielle Bekenntnis zur Lüge als oberstes politisches Prinzip ist sicherlich brennend interessant. Wenn wir nicht so in Eile wären, würde ich es dir gerne an zahllosen Beispielen demonstrieren. Aber so kann ich wirklich nur eines tun: ich bitte dich dringend, reise fort, über die Grenze, morgen, sogleich.« (S. 202-204)

Anmerkung

[1] Lion Feuchtwanger sah sich bis 1935 auf Grund von Drohungen zu dieser Änderung des Romantitels gezwungen.