»Die Gefahr eines Weltkrieges ist sehr ernst«
Noam Chomsky im Interview mit »Il Manifesto« (Auszug)
Der Verteidigungshaushalt der USA für die Jahre 2016 und 2017 wurde ohne Debatte im Kongress verabschiedet. Vorgesehen ist, die Ausgaben zur Stärkung der NATO-Arsenale und zum Schutz der »Sicherheit« der osteuropäischen Verbündeten an Russlands Grenzen zu vervierfachen. Welche Botschaft wird damit gesendet?
Noam Chomsky: Sicherlich existieren Gefahren einer Verschärfung der strategischen Spannungen und Auseinandersetzungen zwischen den Staaten, die der russischen Einflusssphäre angehören, und denen der amerikanischen Einflusszonen. Aber könnten die Vereinigten Staaten an ihren eigenen Grenzen jemals das akzeptieren, was jetzt an den Grenzen Russlands geschieht? Wäre eine Aufstellung von NATO-Raketen an der Grenze zu Mexiko oder Kanada denkbar? Meines Erachtens steckt hinter diesem Machtausbau der NATO eine Strategie, eine sehr gefährliche geopolitische Provokation. Ich teile die Aussage, die George Kennan während des Kalten Krieges machte, dass die »atomare Abschreckung« die Grundlage für die Auslöschung der gesamten Menschheit geschaffen habe. Das ist keine Übertreibung. Es gab in jüngster Zeit starke Spannungen und Beispiele dafür, etwa den Abschuss des russischen Jagdbombers durch die Türkei. Das sind Signale, die zu einer atomaren Konfrontation führen könnten.
Soll das heißen, dass sich ausweitende Auseinandersetzungen die Gefahr eines dritten Weltkrieges bergen?
Noam Chomsky: Es wäre nicht das erste Mal, dass wir am Rande eines nuklearen Konfliktes stehen. Verstehen wir uns richtig: Egal woher ein atomarer Angriff kommt, er würde das Ende der menschlichen Spezies bedeuten. Eine Auseinandersetzung zwischen zwei Supermächten führt zu dem, was man einen nuklearen Winter nennt, einer Tragödie katastrophalen Ausmaßes. Mich lässt das heute an Einsteins Antwort denken, als er gefragt wurde, welche Waffe im nächsten Krieg nach der Atombombe eingesetzt würde. Er antwortete, die einzige Waffe, über die der Mensch dann noch verfügen würde, wäre eine steinerne Axt. Die Gefahr eines Weltkrieges ist sehr ernst.
Meinen Sie, dass die Führer der Globalisierung eine Strategie haben, oder ist ihnen die Situation aus den Händen geglitten?
Man müsste sich schon unter einem Stein verkriechen, um von den angerichteten Schäden nichts zu merken. Die »fossile« Industrie ist sich seit Jahrzehnten über die verheerenden Folgen der auf Erdöl basierenden Industriepolitik bewusst. Die Vorstandsmitglieder von Exxon Mobil sind nicht dumm, sondern einer spezifischen Ideologie der Gewinnmaximierung und der Steigerung der Aktienkurse ergeben. Verglichen damit ist alles andere unbedeutend. Das ist wie bei den Gläubigen der verschiedenen Fundamentalismen, seien es nun christliche Evangelikale oder islamistische Extremisten. Das sind religiöse Dogmen, bei denen weder Zweifel noch Argumente existieren. Wir wissen alle, dass es sehr einfach ist, nichts anderes in Betracht zu ziehen als das, was wir für die Wahrheit halten. Doch in diesem Fall hat die Weigerung, die historischen Fakten zur Kenntnis zu nehmen, tödliche Konsequenzen.
Welche Gefahren erwarten uns also ganz konkret in diesem Jahr, in dem auch die US-amerikanische Präsidentschaftswahl ansteht?
Sehr ernste Gefahren. Wenn die Kommentare der führenden Republikaner, die sich um die Präsidentschaft bewerben, der künftigen Politik des Weißen Hauses entsprechen, müssen wir uns auf ein wahres Desaster einstellen, denn deren Botschaft lautet: »Ignorieren wir die globale Erwärmung! Zerreißen wir das Atomabkommen mit dem Iran! Bauen wir unsere militärische Macht aus und intervenieren wir – trotz des Risikos dadurch einen Weltkrieg auszulösen – noch aggressiver und entschlossener im Rest der Welt!« Wenn ein Land mit der Macht der Vereinigten Staaten sich für diese politischen Strategien entscheidet, ist die Wahrscheinlichkeit eines Überlebens der menschlichen Spezies auf ein Minimum reduziert. Die heutige Republikanische Partei stellt eine der gefährlichsten Organisationen in der Geschichte der Menschheit dar.
Das Gespräch führte Patricia Lombroso. Noam Chomsky ist Philosoph und emeritierter Professor für Linguistik und Kommunikationstheorie am Massachusetts Institute of Technology (USA). Dies sind Auszüge aus einem längeren Interview in der linken italienischen Tageszeitung Il Manifesto. Übersetzung: Andreas Schuchardt. Aus: junge Welt, Ausgabe vom 7. März 2016, Seite 2.