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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Die Entschlossenen hat er entschlossener gemacht

Prof. Dr. Ekkehard Lieberam, Leipzig

 

                                            »Sie werden den Sieg über uns voll auskosten.

                                            Nur die vollständige Vernichtung ihres Gegners

                                            gestattet es ihnen, die Geschichte umzuschreiben

                                            und von allen braunen und schwarzen Flecken zu reinigen.«

            Abschiedsbrief von Gerhard Riege.

 

Vor 30 Jahren, am 15. Februar 1992, starb Gerhard Riege mit 61 Jahren. Er war Professor für Öffentliches Recht an der Friedrich-Schiller-Universität Jena (FSU), seit 1965 Abgeordneter des 12. Deutschen Bundestages, dort Parlamentarischer Geschäftsführer der Gruppe PDS/Linke Liste und Leiter des Arbeitskreises III (Demokratisierung und Recht). Er schied freiwillig aus dem Leben: als Protest gegen die erbarmungslose Form der Annexion der DDR, wie er sie selbst erlebte. Er konnte den Hass, der ihm von den Regierenden und aus dem Bundestag selbst entgegenschlug, nicht mehr ertragen. »Mir fehlt die Kraft zu kämpfen«, schrieb er im Abschiedsbrief.

Bei der Haushaltsdebatte im Bundestag am 13. März 1991 z. B. war er während seiner Rede von Abgeordneten der CDU/CSU und FDP mindestens 35mal unterbrochen worden: mit hasserfüllten Zwischenrufen wie »Stasi-Heini unglaublich«, »Sie sollten das Wort ›Recht‹ überhaupt nicht in den Mund nehmen«, »Stasi-Bruder« und »Stasi-Bonze«. Weil er seine Redezeit dadurch um eineinhalb Minuten überschritten hatte, rügte ihn Bundestagspräsident Hans Klein (CSU). Ordnungsrufe gegen die Krakeeler wegen Beleidigung gab es nicht. [1]

Als Anfang Februar 1992 der Bundestag der Gruppe PDS/LL mitteilte, dass über Gerhard Riege eine Akte des MfS existierte, drohte eine Eskalation der Hetzkampagne. Nun hatte man den »Beweis«. Es war eine schmale Akte. »Begangenes Unrecht« ergab sich daraus nicht. Aber darum ging es in den politisch hysterischen Zeiten der »Nachwende« gar nicht! Die behauptete Nähe zur »Stasi« an sich genügte, um dem Ziel näher zu kommen: politisch Missliebige aus dem Weg zu räumen.

Kämpfer für eine sozialistische Gesellschaft und deren Verbesserung

Gut 30 Jahre vorher (von 1954 bis 1960) hatte Gerhard Riege für das MfS vier Berichte über Westreisen verfasst und vorher eine Verpflichtungserklärung unterschrieben. Die Bundestagsgruppe PDS/LL sah keinerlei »Schuld« und stellte sich hinter ihn. Anders der PDS-Landesvorstand in Erfurt am Vorabend seines Freitodes. Eigene Genossinnen und Genossen beschuldigten ihn der »Unehrlichkeit«. Sie attackierten ihn auch verbal, statt ihm die Solidarität zu geben, die allen zusteht, wenn sie von der Rache des Klassengegners bedroht sind.

Das traf Gerhard Riege schmerzlich. Als sein Kollege kannte ich (seit 1978 Akademieprofessor für Staatstheorie und Verfassungsrecht in Berlin) ihn als problembewussten Rechtswissenschaftler und humanistische Persönlichkeit. Wir waren beide Autoren des Lehrbuchs »Staatsrecht bürgerlicher Staaten« von 1980. Nunmehr war ich sein Mitarbeiter im Arbeitskreis III. Erich Buchholz, Professor für Pönologie an der Humboldt-Universität zu Berlin, schrieb (ich schließe mich dem an), er zähle Gerhard Riege zu den »aufrichtigsten, saubersten, ehrlichsten, feinsinnigsten Menschen«, [2] die er kennengelernt hat.

Gerhard Riege war eine politisch-moralische Instanz unter den Rechtswissenschaftlern der DDR. Mit seinem Buch »Die Staatsbürgerschaft der DDR« von 1982 hatte er Position für die Eigenstaatlichkeit der DDR bezogen, aber auch für den Ausbau der Beziehungen zwischen Bundesrepublik und DDR im Geiste der friedlichen Koexistenz und Kooperation, wie dies im Grundlagenvertrag zwischen beiden deutschen Staaten von 1973 konzipiert worden war. Er war ein engagierter Kämpfer für eine sozialistische Gesellschaft und zugleich ein Rechtswissenschaftler, der beharrlich für die Verbesserung des politischen Systems der DDR eintrat. Er war sich der sozialen und politischen Errungenschaften ebenso wie der demokratischen/rechtsstaatlichen Defizite der DDR bewusst. Er sah nicht nur die Erfolge, sondern stets auch die Unzulänglichkeiten. Als Verfechter einer entschiedenen Demokratisierung des Staates stand er für die Stärkung der subjektiven Rechte und für mehr reale Mitwirkung der Menschen gegen die Übermacht der »Hauptverantwortlichen«.

Nachdenkliche Zustimmung gab es unter den Teilnehmern, als er im Frühjahr 1985 in Berlin bei einer Beratung des Forschungsprojekts »Staat und Recht in der politischen Organisation der entwickelten sozialistischen Gesellschaft der DDR« als Gutachter zur Vorlage anmerkte, er vermisse Antworten auf die Frage, wie wir neu entstehenden politischen Organisationsformen, so der »Jenaer Friedensbewegung«, einen Platz im politischen System bieten können. Mitte 1989 scheiterte er am Widerstand der SED, eine internationale Konferenz zur Verwaltungsgerichtsbarkeit gegen Machtmissbrauch nach Jena einzuberufen.

Einige Monate später hatten sich die politischen Fronten in der DDR verändert. An die Stelle der »sozialistischen Obrigkeit« traten nach und nach neue Macht- und Rechthaber aus der BRD. Der »halben Revolution« für mehr Demokratie und Rechtsstaatlichkeit war, um es mit Karl Marx zu sagen, [3] eine »ganze Konterrevolution« gefolgt. Diese bekämpfte ganz entschieden die Demokratisierung der DDR. Sie orientierte auf die schnelle und vollständige Beseitigung der DDR. Gerhard Riege hatte am 4. Oktober 1989 an der FSU in einer großen Rede eine Reform des politischen Systems der DDR verlangt. [4] Im Februar/März 1990 schon geriet dieses Konzept ins Fadenkreuz der in der Bundesrepublik Regierenden. An »seiner« Universität in Jena kam es zum großen Crash, in dem er unterlag.

Bei der Wahl des neuen Rektors der Uni gab Gerhard Riege am 6. Februar 1990 seine Kandidatur bekannt. Als integrer Wissenschaftler mit einer couragierten Haltung bekam er viel Unterstützung. Der Wissenschaftliche Rat wählte ihn am 23. Februar im 2. Wahlgang mit 53 zu 48 Stimmen (die auf den Dekan der Medizinischen Fakultät entfielen) zum neuen Rektor der Universität. Aber: Nicht sein kann, was nicht sein darf. Seine Wahl wurde annulliert.  

Gerichtstag über die DDR währt bis heute

Kurz danach verschwand auch die Büste von Karl Marx, der 1843 in Jena promoviert hatte, vom Universitätshauptgebäude in der Asservatenkammer. Dort ist sie heute noch »eingelagert«. Anfang 1992 waren 73 Prozent der Hochschullehrer der Uni aus DDR-Zeiten entlassen worden. Mit der Gründung eines neuen »Fachbereiches Rechtswissenschaft« am 1. Januar 1992 sollte auch Gerhard Riege »abgewickelt« werden. Dagegen hatte er im Juni 1991 beim Verwaltungsgericht Gera geklagt. Sein Anwalt Hans E. Schmitt-Lermann aus München erstritt beim Gründungsdekan des »Fachbereiches« Prof. Dr. Olaf Werner eine Weiterbeschäftigung Gerhard Rieges mit dem Lehrauftrag »Verfassungsgeschichte«. Zum Zeitpunkt seines Freitodes stand noch das Einverständnis des zuständigen Thüringer Wissenschaftsministeriums aus. 

Helmut Ridder, Professor für »Öffentliches Recht und die Wissenschaft von der Politik« aus Gießen, mit dem Gerhard Riege befreundet war, hielt am 5. März 1992 die Trauerrede für Gerhard Riege. Etwa 1200 Trauergäste waren zum Lutherhaus zu Jena gekommen. Helmut Ridder würdigte Gerhard Riege als einen »geschichtsbewussten Juristen«, der dazu beigetragen habe, dass mit dem Grundlagenvertrag nach 20 Jahren ein Zustand beendet wurde, da beide deutsche Staaten die »Giftküche«, die »ideologische Zentralheizung des permanenten Kalten Krieges für die ganze Welt«, bedient hatten. Ridder ging dann der Frage nach »was wir betrauern«. Seine Antwort war: Wir betrauern, dass der zivilisierte Umgang der beiden deutschen Staaten sein Ende gefunden hat: »Herausgekommen ist dabei eine Vereinigung, die so aussieht, als ob die BRD auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges die DDR erobert hätte, weswegen unter dem Stichwort ›Aufarbeitung‹ denn auch nur ein Gerichtstag des ›Rechtsstaates‹ über die DDR vorbereitet wird.« [5]

An diesem Unrecht zerbrach Gerhard Riege. Die Phase des zivilen Umgangs mit den Eliten der DDR war Anfang 1990 beendet worden. Die »Giftküche« des Kalten Krieges brodelte wie nie zuvor. Der nachfolgende Anschluss der DDR nach Artikel 23 GG ging einher mit der Dämonisierung der DDR und der »Abwicklung« auch ihrer wissenschaftlichen Elite. Die westdeutschen Konzerne und Banken setzten sich in den Besitz des Volkseigentums. Ein international geachteter Staat wurde kolonialisiert.

Der »Gerichtstag«, von dem Helmut Ridder in seiner Trauerrede sprach, währt bis heute fort. Zwei Monate vor dem 30. Jahrestag des Freitodes von Gerhard Riege verkündeten die beiden Vorsitzenden der Partei Die Linke: Die Existenz der DDR sei (es fehlt deren  Bezeichnung) »Geschichte links begründeter Unfreiheit, staatlicher Willkür und autoritärem Obrigkeitsdenken« gewesen. [6] Gerhard Riege vertraute in seinem Abschiedsbrief darauf, dass die PDS »die Tradition einer Alternative und die Erinnerung an die eigene Vergangenheit wach hält«. Es ist schlimm, wenn Repräsentanten der Partei, die sich in der Tradition der PDS sieht, sich heute mit denen zusammentun, die seit 30 Jahren den »Gerichtstag« über diese Alternative organisieren und die DDR kriminalisieren.         

 

Anmerkungen:

[1]  Vgl. Deutscher Bundestag, 12. Wahlperiode, 14. Sitzung, Bonn 13. März 1991, S. 840 bis 842.

[2]  Erich Buchholz, Wider eine juristische Intervention, GEDÄCHTNISSCHRIFT, Jena 1995, S. 10.

[3]  Vgl. Karl Marx, Die Konterrevolution in Berlin, MEW, Band 6, Berlin 1975, S. 9.

[4]  Vgl. Jens Gerlach, Tod eines Kämpfers, Berlin 1992, S. 20 ff.

[5]  Ansprache von Prof. Dr. Helmut Ridder (Gießen), in: In memoriam Gerhard Riege, Bonn 1993, S. 19.

[6]   Janine Wissler, Susanne Hennig-Wellsow, Den Kompass neu ausrichten, Aufgaben für DIE LINKE nach der Bundestagswahl, Berlin, 10. Dezember 2021.