Die dritte Krise des Kapitalismus
Frei Betto, Brasilien
Das System ist eine Katze mit neun Leben. Im vergangenen Jahrhundert machte es zwei große Krisen durch: die erste zu Beginn des 20. Jahrhunderts, in der Frühphase des Imperialismus, als vom Laissez-faire (Wirtschaftsliberalismus) zur Konzentration des Kapitals durch die Monopole übergegangen wurde. Der Wirtschaftskrieg um die Eroberung der Märkte führte zum bewaffneten Konflikt: dem Ersten Weltkrieg. Und er mündete in einen "Ausweg" nach links: der Russischen Revolution von 1917.
1929 kam es zu einer neuen Krise, der great depression. Im Handumdrehen verloren tausende Menschen ihre Arbeit, brach die Börse von New York zusammen, weitete sich die Rezession anhaltend aus und zog alle in Mitleidenschaft. Aber diesmal führte der "Ausweg" nach rechts: zum Nazismus. Und als Konsequenz kam es zum Zweiten Weltkrieg.
Und heute?
Diese dritte Krise unterscheidet sich von den vorhergehenden, und sie ist aus mehreren Gründen erstaunlich: Den Ländern, die früher die Peripherie des Systems bildeten (Brasilien, China, Indien, Indonesien) geht es besser als den Metropolenstaaten. Es wird erwartet, dass in diesem Jahr das Wachstum der lateinamerikanischen Länder jenes der Vereinigten Staaten und Europas übersteigt. In diesem Teil der Welt sind die Bedingungen für ein Wirtschaftswachstum besser: steigende Löhne, rückläufige Arbeitslosigkeit, reichlich Kredite und sinkende Zinssätze.
In den reichen Ländern akzentuieren sich das Haushaltsdefizit, die Arbeitslosigkeit (in der Europäischen Union gibt es 24,3 Millionen Arbeitslose), die Staatsverschuldung. Und in Europa scheint sich die Geschichte – für den, der diesen Film bereits in Lateinamerika gesehen hat – zu wiederholen: Der IWF übernimmt die Finanzpolitik der Staaten, interveniert in Griechenland und in Italien, und bald vielleicht auch in Portugal, und Deutschland erreicht als Kreditgeber das, was Hitler vergeblich mit Waffengewalt angestrebt hatte: den Ländern der Euro-Zone die Spielregeln zu diktieren.
Bisher ist für diese dritte Krise kein Ausweg in Sicht. Alle Maßnahmen, die die USA getroffen haben, sind kosmetischer Natur, und Europa sieht noch kein Licht am Ende des Tunnels. Mit der bereits angekündigten Abschwächung des Wachstums in China und der daraus folgenden Reduzierung seiner Importe könnte sich die Lage noch verschlimmern. Für die brasilianische Wirtschaft würde das einen drastischen Einschnitt bedeuten.
Der Welthandel ist bereits um 20% eingebrochen. Und es kommt zu einer fortschreitenden Deindustrialisierung der Wirtschaft, die Brasilien zusetzt. Was auf der anderen Seite die Gewinne der Unternehmen aufrecht hält, ist, dass sie einstweilen sowohl in der Produktion als auch in der Spekulation tätig sind. Und über die Banken fördern sie die Finanzierung des Konsums. Es lebe das süße Leben! Bis die Blase platzt und die Insolvenz sich ausbreitet wie die Pest.
Wird der "Ausweg" aus dieser dritten Krise nach links oder nach rechts erfolgen? Ich befürchte, dass die Menschheit zwei schweren Risiken ausgesetzt ist. Das erste ist bereits offensichtlich: der Klimawandel. Er wird unter anderem durch den Rückgang des Wertes der Nahrungsmittel hervorgerufen, welche heute an den vom Finanzmarkt diktierten Einkaufspreis gebunden sind.
Es kommt zu einer wachsenden Reprimarisierung (Verrohstoffung) der Wirtschaften der so genannten Schwellenländer. Länder wie Brasilien reisen in der Zeit zurück und hängen wieder von den Rohstoffexporten ab (von landwirtschaftlichen Produkten, Erdöl und Eisenerz, deren Preise durch die transnationalen Konzerne und durch den Finanzmarkt bestimmt werden).
In diesem globalen Schema, angesichts der Macht der gigantischen transnationalen Konzerne, die von den genmanipulierten Zellen bis zu den Agrargiften alles kontrollieren, wird der brasilianische Großgrundbesitz zum schwächsten Glied.
Die zweite Gefahr ist der Atomkrieg. Die beiden vorangegangenen Krisen fanden in den großen Weltkriegen ihr Ventil. Angesichts der Arbeitslosigkeit gibt es nichts Besseres als die Kriegsindustrie, um die unbeschäftigten Arbeiter anzustellen. Heutzutage lagern auf der ganzen Welt tausende atomarer Sprengkörper, und es gibt sogar Miniatombomben, die zielgenaue Zerstörungen mit der Stärke der Explosionen von Hiroshima und Nagasaki anrichten können.
Noch haben wir Zeit, um die sich ankündigende Apokalypse aufzuhalten und zu reagieren. Und einen Ausweg aus dem kapitalistischen System zu finden, welches durch und durch pervers ist, bis zu dem Punkt, dass es Milliarden dafür aufwendet, den Finanzmarkt zu retten und gleichzeitig Millionen von Menschen, die Not und Elend erleiden, den Rücken kehrt.
Uns bleibt, die Hoffnung zu organisieren und ausgehend von einer breiten Mobilisierung durchführbare Alternativen zu schaffen, die die Menschheit dahin gelangen lässt, wie es in der Eucharistiefeier heißt, "die Schätze der Erde und die Früchte der menschlichen Arbeit zu verteilen". (Entnommen aus Adital)
Quelle: www.granma.cu/aleman/internationales/23mai-Kapitalismus.html – Der Brasilianer Frei Betto ist Dominikaner und einer der wichtigsten Befreiungstheologen Lateinamerikas.