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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Die Dialektik von Niederlage und Großmachtstreben

Deutsche Außen- und Sicherheitspolitik 20 Jahre nach dem Fall der Mauer

Nachdem Deutschland nahezu ganz Europa und weitere Teile der Welt mit einem Krieg überzogen hatte, der Lebensraum für eine durch Selektion und Ausrottung zu schaffende Rasse von Ariern bieten sollte, hat eine Allianz der größten (verbliebenen) Militärmächte die Bestie im Herzen Europas niedergerungen. Wegen der renitenten Hingabe des Volkes an Führer und Faschismus auch über die offensichtliche militärische Niederlage hinaus mußten hierzu weite Teile Deutschlands in Schutt und Asche gelegt werden. Die Siegermächte und Frankreich besetzten daraufhin Deutschland und erörterten, wie ein "nie wieder" zu realisieren wäre. Der deutsche Faschismus hatte dermaßen schrecklich gewütet, daß nach dem Zweiten Weltkrieg ein einmaliger Konsens über die Notwendigkeit zur Bändigung nationalstaatlicher Macht herrschte. In diesem Kontext ist die Gründung der Vereinten Nationen mit ihrem weitgehenden Gewaltverbot in den internationalen Beziehungen 1945 und die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte 1948 zu verstehen. Die Staaten allgemein sollten weniger und Deutschland im ganz Besonderen sollte nie wieder fähig sein, einen Krieg zu führen. Dies galt als Voraussetzung für die Gründung eines neuen deutschen Staates und die Bedingungen, die von den Alliierten hierfür gestellt wurden, waren weise gewählt und ein zivilisatorischer Fortschritt: Deutschland sollte über keine Armee verfügen dürfen, seine für Rüstung brauchbare Industrie internationalisiert werden; eine möglichst föderale Ordnung und die im alliierten Polizeibrief festgelegte strikte Trennung von geheimdienstlichen und polizeilichen Machtmitteln einen neuen starken Staat in Deutschland verhindern.

Doch nach dem Sieg über Deutschland begannen die ideologischen Gräben zwischen den Westalliierten und Rußland schnell wieder aufzubrechen und versetzten die Westmächte unter Zeitdruck. Der eilige Aufbau eines westdeutschen Staates konnte auf die teilweise im Nationalsozialismus groß gewordene deutsche Elite nicht annähernd verzichten und diese setzte von Anfang an – wenn auch bedacht und vorsichtig – darauf, die Auseinandersetzung zwischen Kapitalismus und Sowjet-Kommunismus für sich zu instrumentalisieren, um Souveränität zu gewinnen. Hierfür wurde sogar die Teilung Deutschlands in Kauf genommen, durch das folglich die "Systemgrenze" verlief – ein willkommener Anlaß für die Gründung des Bundesgrenzschutzes 1951 als Aufbauorganisation der Bundeswehr, die 1955 offiziell ins Leben gerufen wurde. Ebenso wie das 1951 gegründete Bundeskriminalamt wurden diese Organisationen im Kontext des eskalierenden Konfliktes zwischen Ost und West unter Rückgriff auf ehemals nationalsozialistische Seilschaften aufgebaut.

Deutschland war zugleich zum Frontstaat im potentiellen Krieg zwischen NATO und Warschauer Pakt geworden als auch zum ideologischen Vorzeigeprojekt des Kapitalismus, der hier seine häßliche Fratze nicht zeigen durfte. Ausdruck dessen war eine von den USA und den anderen Westmächten bezuschußte soziale Marktwirtschaft, in der Demokratie und Menschenrechte – die längst zu ideologischen Waffen gegen den real existierenden Sozialismus mutiert waren – weit mehr als in anderen Ecken der Welt gewahrt waren. Die atomare Aufrüstung, die drohte, jedwede Kriegshandlung an der inner-deutschen Grenze zu einem Atomkrieg zu eskalieren, ging einher mit einer scharfen Trennung zwischen einem latenten Kriegszustand mit äußerst beschränkten Befugnissen deutscher Sicherheitskräfte und der zentralstaatlichen Bundesstrukturen und einem Verteidigungsfall, der durch die NATO definiert und ausgelöst worden wäre und die Sicherheitskräfte weitgehend deren Kommando untergeordnet hätte. […]

Voraussetzung für die deutsche Wiedervereinigung war der 2+4-Vertrag, der am 12. September 1990 in Moskau unterzeichnet wurde. Er beendete die Befugnisse der Siegermächte in den beiden deutschen Teilstaaten und stellte somit die volle Souveränität der Bundesrepublik Deutschland, der daraufhin die DDR angeschlossen wurde, her. Als Quasi-Friedensvertrag dokumentiert er eine historisch einzigartige Durchsetzungsfähigkeit der unterlegenen ehemaligen Kriegspartei – Deutschlands – und eine kaum nachzuvollziehende Kompromißbereitschaft der UdSSR, die ihre Vorstellung eines weitgehend entmilitarisierten und neutralen Deutschlands nicht durchsetzen konnte. Als einzige ehemalige Siegermacht mußte sich die UdSSR auf ein verbindliches und sehr nahe liegendes Datum für einen vollständigen Truppenabzug 1994 verpflichten. Einziges Zugeständnis an die UdSSR war hingegen, daß keine Atomwaffen und keine ausländischen Truppen auf dem Gebiet der DDR stationiert werden dürften – eine Vereinbarung, die nicht nur durch bei der Verlegung US-amerikanischer Truppen über den Flughafen Halle/Leipzig ignoriert wird, sondern durch die NATO- und EU-Osterweiterung weitgehend zur Makulatur wurde. Alle weiteren Zugeständnisse, auf die sich Deutschland als Bedingung für die "Einheit" verpflichten mußte, stellten Selbstverständlichkeiten dar – wie der Verzicht auf weitere Gebietsansprüche – oder zugleich Zugeständnisse an die anderen Siegermächte, die nach wie vor Angst vor einem starken Deutschland hegten: Ein Verzicht auf ABC-Waffen, eine Obergrenze für den Umfang der deutschen Armee auf 370.000 Soldaten und eine Vertiefung der Europäischen Integration. Bedingungen, die im neuen sicherheitspolitischen Umfeld, das mit dem anschließenden Kollaps der UdSSR und der Auflösung des Warschauer Paktes keine Beschränkung für ein neues deutsches Großmachtstreben darstellten. […] Auch mit den anderen Beschränkungen des 2+4-Vertrages – so sie überhaupt noch Beachtung finden – konnte Deutschland ähnlich produktiv umgehen, insbesondere mit der Vertiefung der europäischen Integration als auch mit der Anerkennung der bestehenden Grenzen. Warum sollten Grenzen noch in Frage gestellt werden, wenn doch die öffentliche Ordnung der Nachbarstaaten diktiert werden kann? Die Bedingungen für den EU-Beitritt der mittel- und osteuropäischen Staaten und für ihre Aufnahme in die Euro-Zone wurden weitgehend in Deutschland ersonnen und ihre Umsetzung von diesen Staaten (bzw. ihren neuen Eliten) nachgerade als Zeichen ihrer neu gewonnenen Unabhängigkeit von Rußland akzeptiert. […]

Die militärischen Strategien der Europäischen Union sind bereits auf begrenzte Interventionen zum Schutz kritischer Infrastrukturen gegen Rebellengruppen (EU-Battlegroups) oder Proteste und Sabotage (European Gendarmerie Force, EGF) ausgerichtet. Deutschland stellt dabei nur einen kleinen Teil der beteiligten Truppen, ist aber bei den Komponenten Aufklärung und Führung stets dominant beteiligt. Insbesondere aber strebt Deutschland gegenwärtig an, den Posten des Stellvertreters der Hohen Vertreterin für die Europäische Außen- und Sicherheitspolitik im neuen Europäischen Auswärtigen Dienst zu besetzen. Während diese vorwiegend mit repräsentativen Aufgaben betraut ist, wäre es somit ein Vertrauter der Bundesregierung, der im Hintergrund sämtliche außenpolitischen Instrumente der Europäischen Union, von der Entwicklungs- über die Visa- und Migrationspolitik bis hin zu geheimdienstlichen und militärischen Missionen koordiniert. Ein wahres Meisterstück der deutschen Dialektik von Niederlage aus Größenwahn und Großmachtstreben.

Christoph Marischka, Vorstandsmitglied Informationsstelle Militarisierung Tübingen
Aus: IMI-Analyse 2010/030, www.imi-online.de