Deutsch-deutsches Nichtverstehen
Heidrun Hegewald
Deutsch-deutsches Nichtverstehen
Von Heidrun Hegewald
Liebe Nochanwesende! Ich bin Ihnen sicherlich willkommen, weil ich die Letzte bin, die zu Ihnen spricht. Das heute hier ist eine großartige zeitbezeugende Veranstaltung, am 4. Oktober, der für den 7. steht. Aber wir sind uns so einig! Wunderbar ist, wie wir unter uns sind. Schade ist dennoch, daß wir so nur unter uns sind. Ich stelle mir die Öffentlichkeit vor, die uns so nötig brauchen würde und weiß, daß sie für uns nur wenig oder gar keinen Beifall gehabt hätte. Dann war es wohl viel schöner so, wie wir es heute hatten.
Kunst formen und Schreiben sind eine Form persönlicher Freiheit – gestaltgebende persönliche Freiheit. Dazu gehört für mich eine anekdotische Erinnerung, die zu vielen gehört, die ich als deutsch-deutsches Nichtverstehen erfahren habe. 1993 war es. Es endete mit Sprachlosigkeit. Eine Dame und ein Herr führten mit mir ein Gespräch. Ein Eignungsgespräch. In einer Westberliner Bibliothek sollte ich vor Publikum lesen dürfen. Texte aus „Frau K. Die zwei Arten zu erbleichen.“ Ein abermaliges Erbleichen war mir ein Leichtes. Beide in orthodoxer Haltung starr. Durch ihr Erleben westdeutscher Geschichte geprägt. Den Zweifel gegen ihre Rechthaberei nicht einmal als dialektische Runzel auf der Stirn. Sie fühlten sich ermächtigt zu haltloser Unterstellung wider das Wissen aus authentischer Erfahrung. Wir führten eine Grundsatzdebatte, die auf meiner Beschränkung fußte, welche mir das Gültige nahm. Die mir vorenthaltene Freiheit hatte mich zu einer ehemaligen Unfreien gemacht. Ich, die mit der Gesamtheit der DDR-Bevölkerung unter schwerer Heimsuchung für Körper und Geist „Die Gedanken sind frei“ nicht denken und das Liedgut nicht mal textlos summen durfte. Wußten sie. Freilich, ich kam doch aus total verordneten Werk- und Feiertagen, die sich zu vierzig Jahren in meinen Jahren ausgebreitet hatten. Dame und Herr wollten mir meine erlittene Unfreiheit erklären, an der ich nicht gelitten hatte. Sie wollten vom Unrechtsstaat die Unkunst ableiten. Und gaben mir einen gründlichen Zweifel ins Gewissen. Darauf hofften sie. Um mit betonter Sachkenntnis darauf zu verweisen: Kunst ist nicht Kunst, wenn sie nicht in Freiheit entsteht. Von Freiheit als Einsicht in Notwendigkeit wollten sie noch nichts gehört haben. Ich hätte gern eine Einigung erwirkt, Freiheit selektieren zu dürfen. Ins Gängigste: Reisefreiheit – Marktfreiheit, und danach wird’s schon eng. Aber nein, es handelte sich um eine Glocke mit dem Klang aller Seelen – in Freiheit vereint. Unter die hätte ich, ohne viel zu fragen, endlich zu schlüpfen. Und Freiheit hätte ich einfach zu fühlen. Jetzt. Ob gewährt oder nicht. Was zählt das bei der verordneten Festlegung fürs Ganze? Es gehe nicht darum, eine Aufzählung zu bemühen von Gewünschtem und Tatsächlichem. Freiheit ist! In diesem demokratischen Deutschland. Rechtsstaat – den „Unrechtsstaat“ nicht bereit zu begnadigen. Freiheit für alle? Für alle! Ich hatte das Bedürfnis, das Deutsche ins Deutsche zu übertragen. Herr und Dame konnten nur deutsch. Dennoch, ich konnte nicht ablassen, rotköpfiges Schütteln zu erzeugen. Ich ahnte, daß für den Begriff Freiheit noch ein überwältigender Schock des Unsagbaren zu erwarten war. Ich tastete mich heran, erzählte von meiner Lebenserfahrung als Kulturarbeiterin in einem Land, das nicht aus seinem Inneren seine Grenzen auflöste, sondern das seine Grenzen auflöste, um das Innere zu demokratischer Entfaltung zu bringen: Wir sind das Volk! Aber mit: „Wir sind ein Volk.“ wurde dieser Prozeß gestoppt. Es gab in dem begrenzten Land eine Staatsgrenze, Welt-Mächte-Grenze, die Grenze zwischen den Bündnissen NATO und Warschauer Vertrag. Eine Grenze – strukturiert mit sichernden Regularien, die aus politischen Verhandlungs- und Bündniszwängen entstanden – eben die Kalt-Krieg-Grenze.
Ich will an Jonathan Franzens Sorge um seine Romane – um Romane! – erinnern. Er bezweifelt deren Fortleben im modernen Kultur-Konsum. Schwenk: DDR. Dort, in diesem Land, gab es keine Angst um den Roman. Nicht um seine Existenz in geistiger, gesellschaftlich-brauchbarer Wirkung. „Druckkapazitäten“ ließen zu, von heißen oder unbequemen Büchern weniger zu drucken oder gar nicht. Das Jagdfieber ging um. Wir waren Beschaffungsexperten. Grenzgängig schleusten wir auch ein. Vereinzelt wurde weniger gedruckt als gelesen. An der Schnittstelle des Weiterreichens entstand geistiger Austausch. Die DDR war wirklich ein Leseland.
Es ist nur vermeintlich unverfänglicher ein Manuskript abzulehnen, weil es sich nicht verkauft, im Vergleich zur Ablehnung, weil es politisch stört. Es gibt verschiedene Gesichter für ein und denselben Kopf. Wir Ostdeutschen sprachen weniger übers Geld. Wir pflegten kulturwertenden Kontakt. Wir waren politisch. Und das ist eine sehr normale menschliche Eigenschaft. Ein hinterköpfiges Publikum praktizierte die theoretische Vorstellung vom dialogischen Prinzip bei der Verwertung marktfreier Künste. Über die Kultur demokratisierte sich Wirklichkeitsumgang. Gewünscht und gefürchtet. Sehnsüchtig rückblickend: Künstler hatten eine unglaublich einmalige Würde, weil sie gefürchtet waren. Wegen ihrer Fähigkeit zu moralischer Instanzbildung. Dieses Verhältnis zwischen Kulturpolitik und dem freiwilligen Kunstschaffen, verbunden mit erlittenen Beschädigungen, war avantgardistisch. Die Kultur in der DDR war ein Gesamtkunstwerk, an dem die gesamte Gesellschaft teilhatte. Nicht über den Erwerb von Ware, sondern in der Teilhabe an geistigen Kulturprozessen. Die Freiheit für die Künste lag nicht im Innovationszwang für Erfindungen unter der Peitsche des Kommerz, sondern sie lag darin, in aller Freiheit das Verständlichmachen dieser geistigen Bedürfnisse zu suchen. Der Anspruch war hoch. Geprägt durch die feinen Nuancen der Zwischenzeile! Das beherrschte Handwerk war Grundkonsens. Der Inhalt mußte verantwortet werden. Das war nicht selten politischer Nahkampf. Ungebildete als Vor- oder Vorvorsitzende sind ängstlich. Realismus war eine Mission – das Kritische inhärent als beizende Essenz. So war es Vergnügen. Man stand in Verlockung.
Können Sie sich jetzt die Brechtsche Weite und Vielfalt vorstellen? Deren Kerngedanke ist – wie so vieles – kulturpolitisch der schönsten Gewalt zum Opfer gefallen. Aber eben nur deshalb, weil sie abwesend war: die Sprachgewalt. Weichend der Redegewalt, die dem Denken keine so hohe Entsprechung bieten muß.
Direkte Ansprache an die beiden entsetzten stummen Protestler: Wollen Sie jetzt Kunst neu denken? Als Systemart. Hier wie damals? Nein. Warum nein? Nun kam’s: Kunst ist Freiheit. (Originalton)
Meine dialektische Reizbarkeit nahm Ausdruck an: Ich war der Angst ausgesetzt, daß mein Denken zum Stillstand kommt. Ich konnte diesen Satz nicht denken. Kann es bis heute nicht. Mein Flehentliches: Was heißt das? machte aus der Behauptung eine Wiederholung. Es schaukelte ein blasses innovationsgeiles Phänomen in den Weiten raumloser, bindungsfreier, zweckfreier Absichtslosigkeit. Wertfreiheit in Preisbindung.
Ein kleiner Seufzer zeigte meinen Abschied an. Er artikulierte sich so: Ich habe, wir haben, wer es so wollte, in unseren Arbeiten, Freiheit thematisiert! Herr und Dame konnten mir nicht folgen. Ich verließ den Raum allein.
Ich nehme einen Gedanken auf: Kunst formen oder Schreiben sind eine Form persönlicher Freiheit – sind gestaltgebende persönliche Freiheit. Freiheit, die ich mir nehme!