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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Der Widerstand gegen Stuttgart 21 ist auch eine soziale Frage

Hans-Gerd Öfinger, Wiesbaden

In Stuttgart begann der "heiße Herbst" schon im Sommer. Seit Monaten gehen Woche für Woche zigtausend Menschen gegen das Großprojekt Stuttgart 21 (S21) auf die Straße. Der Konflikt eskalierte, als Polizisten am 30. September mit Wasserwerfern, Tränengas und Gummiknüppeln gegen Demonstranten vorgingen. Einen Tag später protestierten dagegen über 100.000 Menschen.

Was ist S21? S21 ist ein städtebauliches Großprojekt. Auf heutigen Bahnflächen soll ein neues Nobel-Stadtviertel entstehen. Weil 100 Hektar Grund und Boden in bester City-Lage privatisiert und an Investoren und Spekulanten verkauft werden sollen, wird die Eisenbahn auf Steuerzahlerkosten unter die Erde verbannt. Ein unterirdischer Durchgangsbahnhof und 33 km Tunnelstrecke sollen den bisherigen Kopfbahnhof ersetzen. Im Anschluß ist eine ICE-Neubaustrecke über den Stuttgarter Flughafen bis Ulm geplant.

Viele Argumente sprechen gegen S21

Teures und sinnloses Milliardengrab. Wegen der schwierigen geologischen Verhältnisse explodieren die offiziellen Baukosten. Derzeit ist von 4,9 Mrd. Euro die Rede, das Ingenieurbüro Vieregg & Rössler erwartet bis zu 8,7 Milliarden. Dazu kommen bis zu 5,3 Milliarden Euro für die Trasse nach Ulm. Dieses Geld fehlt bei Bildung, ÖPNV in der Fläche, Gesundheitswesen und sozialer Infrastruktur. Denn die Kosten werden auch auf die Umlandgemeinden umgelegt. S21 gefährdet Mineralquellen und Grundwasser. Der Aushub soll über die Straße nach Sachsen-Anhalt gekarrt werden.

Weniger Bahn. Der geplante Tiefbahnhof wäre ein riesiges Nadelöhr und hätte eine geringere Kapazität als der jetzige Kopfbahnhof. Dabei steigen 90 Prozent der Fahrgäste in Stuttgart ein, aus oder um. Für den Schienengüterverkehr taugt das gesamte Neubauprojekt überhaupt nicht.

Wenige Profiteure – viele Verlierer. Profiteure wären neben Großbanken vor allem Baukonzerne samt Zulieferindustrie und Immobilienfirmen. Sie sind personell eng mit führenden CDU-Politikern in Stadt und "Ländle" verflochten.

Arbeitsplätze? Den Kostendruck werden die Baukonzerne über Lohn- und Sozialdumping, Subunternehmen und Leiharbeitsfirmen weitergeben. Die Bahn erwartet 3.900 osteuropäische Billigarbeiter. Ein Ausbau der Flächenbahn durch Sanierung, Elektrifizierung und Wiederinbetriebnahme von Strecken sowie die Renovierung von Bahnhöfen käme allen Menschen im Lande zu Gute und könnte bessere Arbeitsplätze schaffen als S21. Auch für Berufspendler, die sich wegen der Bauarbeiten auf jahrelange Verspätungen und Unannehmlichkeiten einstellen müssen, wäre dies ein Segen.

Demokratie bleibt auf der Strecke. S21-Kritiker meldeten sich schon 1995 zu Wort. 2007 unterzeichneten 67.000 BürgerInnen Stuttgarts ein Bürgerbegehren zum Ausstieg aus S21. Ein Bürgerentscheid wurde mit rechtlichen Tricks verhindert. Durch neue kritische Gutachten und die Kostenexplosion ist die Geschäftsgrundlage für frühere Parlamentsbeschlüsse entfallen. Weil Argumente versagten, setzten die "Basta"-Politiker am 30. September Gewalt ein. Daher: Schluß mit der Geheimdiplomatie! Offenlegung aller Verträge, Abhängigkeitsverhältnisse und Parteispenden im Zusammenhang mit S21!

Es gibt Alternativen

Daß moderne Kopfbahnhöfe optimal funktionieren, zeigen Frankfurt (M.), München, Zürich und Leipzig. Stuttgart ist derzeit hinter Leipzig der pünktlichste deutsche Großstadtbahnhof. In Frankfurt wurden Pläne für einen Durchgangsbahnhof vor Jahren begraben. Kostengünstigere Vorschläge für einen optimierten Kopfbahnhof und den Ausbau der Strecke Stuttgart-Ulm mit deutlichem Fahrzeitgewinn liegen unbeachtet auf dem Tisch.

Flächenbahn statt Flughafenzubringer und Rennstrecken! Die einseitige Orientierung der Deutschen Bahn auf Hochgeschwindigkeitsstrecken und schnelle Zubringerdienste für Flughäfen dient nur einer Minderheit. Die meisten Menschen brauchen die Bahn als Pendler und in der Freizeit. Der regionale Güterverkehr gehört wieder auf die Schiene.

Demokratisierung statt Privatisierung der Bahn! Der Auftrag der Politik zum Börsengang der Bahn besteht weiter. In Bahnvorstand und Aufsichtsrat gibt die Lobby der Banken und Großkonzerne den Ton an. An ihre Stelle gehören erfahrene Eisenbahner, ausgewiesene Bahnfachleute, Vertreter der Umwelt- und Fahrgastverbände und konsequente Gewerkschafter. Statt einer Börsenbahn brauchen wir eine transparente und demokratisch kontrollierte Eisenbahn als Rückgrat eines sozialen und ökologischen öffentlichen Verkehrssystems!

Die Zeit der Basta-Entscheidungen ist vorüber. S21 ist überall! Kapitalhörige Politiker, sinnlose Großprojekte und Verkehrsplanungen zum Nachteil der Menschen gibt es bundesweit. Aus den Stuttgarter Montagsdemos mit ursprünglich vier Teilnehmern im November 2009 ist eine Massenbewegung geworden. Es zeigt sich: Massenproteste sind nötig und möglich, um die Kapital-Lobby in Politik und Bahnvorstand zu stoppen und die Interessen der Mehrheit gegen die Arroganz der Macht durchzusetzen.

Hans-Gerd Öfinger, Initiative Bahn von unten, Mitglied Kreisvorstand DIE LINKE. Wiesbaden