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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Der Whistleblower und die Rache der Ertappten

Dr. Hartmut König, Panketal

 

Zum 40. Geburtstag von Edward Snowden

 

Seymour Hersh hatte gerade die Hintergründe des Bombardements auf die Nord-Stream-Leitungen enthüllt, da wurde er in einem Interview für die Berliner Zeitung (15. Februar 2023) auf das fadenscheinige Argument der politischen und medialen Vertuscher ange­sprochen, die Aussagen einer einzigen anonymen Quelle wären kein zuverlässiger Beweis­grund für seine Darlegungen. Der Pulitzer-Preisträger entkräftete das mit einem Verweis auf die Treffgenauigkeit früherer Recherchen. »Wie könnte ich über meine Quelle sprechen?«, sagte er. »Ich habe viele Geschichten geschrieben, die auf ungenannten Quel­len beruhen. Wenn ich jemanden nennen würde, würde er gefeuert oder noch schlimmer, eingesperrt werden. Ich habe noch nie jemanden enttarnt. (…) Im Laufe der Jahre sind die Geschichten, die ich geschrieben habe, immer akzeptiert worden.« Das mussten sie auch, weil sie unleugbar waren: Die Enthüllung der US-Kriegsverbrechen im vietnamesischen Dorf My Lai, der Watergate-Skandal, die sadistischen Gräueltaten amerikanischer Besatzer im irakischen Foltergefängnis Abu Ghraib. Hersh, in seiner Besonnenheit, wird auch die Schicksale zweier Menschen bedacht haben, die ebenfalls illegale Machenschaften, ekla­tante Menschenrechtsverletzungen von US-Militär- und Geheimdiensten offengelegt hat­ten. Dokumentarisch belegte Fakten, die die Welt erschütterten und die Phalanx der poli­tisch, moralisch und auch ganz persönlich Verantwortlichen derart bloßstellten, dass deren Rache bis heute kein Maß findet.

Dem Australier Julian Assange, dessen Auslieferung an die USA die servile britische Regie­rung trotz weltweiter Proteste zuneigt, drohen in God’s own country kumulativ bis zu 175 Jahre Gefängnis. Schon die inhumanen Bedingungen der Haft in Großbritannien, die sei­nem langjährigen Asyl in der ecuadorianischen Botschaft folgte, nahmen den Charakter lebensbedrohlicher Folter an. Als investigativer Journalist und Gründer der Enthüllungs­plattform WikiLeaks, die geheime Dokumente über menschenverachtende und völker­rechtswidrige Übergriffe von Regierungen und Institutionen verbreitet, hatte er amerikani­sche Kriegsverbrechen in Afghanistan und im Irak belegt. Die ertappte US-Staatsmaschine schlug zurück und will den Herold der belastenden Wahrheiten lebenslang zum Schweigen bringen. Der Amerikaner Edward Snowden ist solchem Schicksal bislang entkommen. Er hat sich nach seiner Selbst-Enttarnung ins Ausland retten können. In diesem Monat begeht er im russischen Exil seinen 40. Geburtstag.

Weltweite Massenüberwachung aufgedeckt

Im Jahre 2019 erzählte Edward Snowden in »Permanent Record« seine Geschichte. »Du hältst dieses Buch jetzt in Händen, weil ich etwas tat, was für einen Mann in meiner Posi­tion sehr gefährlich war: Ich beschloss, die Wahrheit zu sagen«, stimmt er den Leser ein. Und umreißt sogleich die Dimension seiner Entscheidung: »Tief in einem Tunnel unter einer Ananasplantage – einer unterirdischen ehemaligen Flugzeugfabrik aus Pearl-Harbour-Zei­ten – saß ich an einem Terminal mit nahezu unbegrenztem Zugang zur digitalen Kommuni­kation fast aller Männer, Frauen und Kinder weltweit, die jemals ein Telefongespräch ge­führt oder einen Computer berührt hatten. Darunter waren ungefähr 320 Millionen meiner amerikanischen Mitbürger, die überwacht wurden (…): ein grober Verstoß nicht nur gegen die Verfassung der Vereinigten Staaten, sondern auch gegen die elementaren Werte jeder freien Gesellschaft.« Das hieß im Klartext, der angemaßte Weltgendarm bediente sich bei seiner grenzenlosen Ausspähung Orwellscher Methoden. Snowdens Enthüllungen waren viel mehr als ein technischer Gau für die subversive Welt der amerikanischen Geheimdienste. Sie zeigten der Völkergemeinschaft, wie technischer Erfindungsgeist, der so viele Fortschrittshoffnungen begründete, von einem doktrinären Staatswesen im Trauma seines globalen Bedeutungsverlusts gekapert und enthumanisiert werden kann. Es ist der erneuerte Appell, Errungenschaften in Wissenschaft und Technik zum Wohl der Menschheit und nicht zur Deformation ihrer Lebensverhältnisse einzusetzen.

Als Edward Snowden die geheimen Pläne seiner Dienstherren öffentlich machte, war er 29 Jahre alt. Zurück lagen die Erinnerungen, wie seine Begeisterung für die Online-Welt be­gann. Der erste Desktop-Computer, Listenpreis 1399 Dollar, vom Vater mit Militärrabatt eingekauft und anfangs noch auf dem Esstisch deponiert, besiegelte eine Unzertrennlich­keit vom Digitalen, die bald andere Außenwelten ignorierte. Wo Gleichaltrige auf Bäume kletterten oder Fußball spielten, war der »Compaq« Snowdens ständiger Begleiter, gar die »erste Liebe«. Den Zugang zum Internet und die Entstehung des Web bezeichnete er als Urknall seiner Generation. Das World Wide Web, wie er es kennenlernte, beschrieb er fern­ab jenes Missbrauchs, den zu enthüllen er schließlich entschlossen war. Er nannte es ein »Neuland, das allen offenstand, besiedelt, aber nicht ausgebeutet von den unterschied­lichsten Gruppen, die einträchtig miteinander lebten«. Jene frühe Web-Kultur hätte mehr Wahrheit als Unwahrheit hervorgebracht, denn sie sei »kreativ und kooperativ statt kom­merziell und konkurrenzorientiert« gewesen. E-Commerce, die Entdeckung, dass sich via Netzwerk auf neue Weise alte Profitgier befriedigen ließ, sei die »Geburtsstunde des Über­wachungskapitalismus und der Tod des Internets« gewesen.

Snowden als »Gewissen des Internets«

Wie illusorisch Edward Snowdens Traum vom keuschen Web in einer Welt des Kapitals zu­nächst gewesen sein mag, er sah frustriert, wie es erst durch die personalisierten Ver­kaufsmanöver der Warenwelt, dann durch die Seismografen der US-Geheimdienstkrake, die illegal die politische und ideologische Verfasstheit von Staaten und Individuen durch­forstete, in Beschlag genommen wurde. Dem alten Traum trauerte er nach. Manche be­schrieben Snowden als Gewissen des Internets, wohl in Betracht ziehend, wie ethisch reif sein Entschluss war und wie absehbar lebensverändernd dessen Ausführung.

Medien, die später Snowdens Enthüllungen veröffentlichten, fragten eher nach den Inhal­ten der geheimdienstlichen Ausspähungen, während den Whistleblower vor allem die Art und Weise interessierte, mit der diese erlangt wurden. Aus den in »Permanent Record« be­schriebenen Entdeckungen sei hier pars pro toto nur der Weg genannt, den eine Compu­ter-Anfrage auslösen kann (S. 285 ff.). Auf dem Weg zum Server »muss sie eine TURBU­LENCE durchlaufen, eine der mächtigsten Waffen der NSA«. Auf diesem Lauf begegnet sie zwei entscheidenden Werkzeugen. TURMOIL prüft die Anfrage »auf Kriterien, die sie als besonders überprüfenswert kennzeichnen«, z.B. auf bestimmte Schlüsselwörter. Stuft es den Internetverkehr als verdächtig ein, übernimmt TURBINE, »das die Anfrage auf die Ser­ver der NSA umleitet. Dort entscheiden Algorithmen, welche Exploits – Schadprogramme – die Behörde gegen den Nutzer einsetzt.« Der angefragte Inhalt erreicht den Computer des Nutzers samt unerwünschten Exploits dann in weniger als 686 Millisekunden, schreibt Snowden und resümiert: »Jetzt gehört dem Geheimdienst Dein gesamtes digitales Leben«.

Snowden hatte sich entschlossen, seine Erkenntnisse nicht selbst zu veröffentlichen, son­dern sie einflussreichen Medien zu übergeben. Als dann die Enthüllungen auf den Nach­richtenseiten und Sendekanälen liefen, registrierten er und seine Helfer noch in Hongkong, wie intensiv die US-Regierung nach der Quelle suchte. Und die Quelle wusste genau, dass die Regierung sie zur Zielscheibe machen würde, um selber nicht zur Rechenschaft gezo­gen zu werden. »Statt auf die Enthüllungen einzugehen«, schreibt Snowden, »würden sie die Glaubwürdigkeit und die Motive des ›Durchstechers‹ in Zweifel ziehen.« Deshalb be­schloss er, seine Absichten und seine Identität preiszugeben. Am 9. Juni 2013 erschien im Guardian das alles erklärende Video.

Die Ertappten schlagen zurück

Der Vorhang war nun gelüftet, aber Snowden bekannte: Er hatte keinen Plan. Hätte er ir­gendwo in der Welt Asyl beantragt, wäre er zum ausländischen Agenten gestempelt wor­den. Zu Hause aber drohte ihm ein Schauprozess, in dem Aussagen über seine Erkenntnis­se sowie die Motive und Wirkungen ihrer Veröffentlichung nicht zugelassen worden wären. Im Moment war er ein Flüchtling unter vielen in Hongkong, versteckt von anderen Flücht­lingen in einer baufälligen Behausung. Am 14. Juni 2013, es war sein 30. Geburtstag, er­hob die US-Regierung gegen Edward Snowden Anklage nach dem »Espionage Act« und beantragte seine Auslieferung. Es war nun höchste Zeit, Hongkong zu verlassen. Die Fest­platten der Laptops gelöscht, der geheime Schlüssel unwiederbringlich zerstört, hoffte Snowden in Ecuador eine sichere Existenz zu finden. Die US-Praxis »außerordentlicher Überstellungen« vor Augen, riet man ihm, in keinem Staat zu landen, das ein Auslieferungs­abkommen mit den Vereinigten Staaten unterhielt, und Routen durch den Luftraum von Ländern zu meiden, die sich als Erfüllungsgehilfen der USA erbötig zeigten. Als sicherster Flugweg galt die Passage via Moskau, Havanna und Caracas nach Quito. Man vermied so den Luftraum der USA, musste aber NATO-Länder überqueren. Snowden erinnert sich an seine Beklemmung, Polen zu überfliegen, das »Zeit meines Lebens alles tat, um der US-Re­gierung zu gefallen: so wurden dort Geheimgefängnisse der CIA eingerichtet, sogenannte Black Sites, in denen meine früheren Kollegen von der Intelligence Community Häftlinge der ›erweiterten Verhörpraxis‹ unterzogen, was in der Bush-Ära eine freundliche Umschrei­bung für ›Folter‹ war.« Am 23. Juni 2013 landete Snowden auf dem Moskauer Flughafen Scheremetjewo. Der Transitaufenthalt sollte 20 Stunden dauern. Aber die US-Regierung hatte Snowdens Pass inzwischen ungültig gemacht und alle Fluggesellschaften aufgefor­dert, ihren Staatsfeind nicht weiter zu transportieren. Sie blamierte sich vor aller Welt, als sie die Regierungen Italiens, Frankreichs, Spaniens und Portugals unter Druck setzte, der in Moskau gestarteten Regierungsmaschine des damaligen Präsidenten Boliviens, Evo Mo­rales, den Überflug ihres jeweiligen Territoriums zu verweigern. Die Maschine musste nach Wien umgeleitet werden, wo bei der peinlichen Untersuchung an Bord kein Snowden aufzu­finden war. Die Umstände erzwangen später, dass aus Snowdens 20-stündigem Transitauf­enthalt nun fast ein Jahrzehnt Lebenszeit in der Russischen Föderation geworden ist. Seine Lebensgefährtin Lindsay ist nach Russland gezogen, und die beiden haben geheiratet.

Schreibt uns Edward Snowden etwas ins germanische Stammbuch? Aber gewiss! »Die deutschen Bürger und Abgeordneten waren empört über die Entdeckung, dass die NSA die deutsche Telekommunikation überwachte und selbst das Smartphone von Bundeskanzlerin Angela Merkel angezapft hatte. Zugleich hatte der Bundesnachrichtendienst (…) bei zahl­reichen Operationen mit der NSA zusammengearbeitet und sogar in Vertretung bestimmte Überwachungsaktionen ausgeführt, die die NSA nicht selber übernehmen konnte oder wollte.« Um Himmels willen! Bürger, haltet Augen und Ohren verschlossen! Das ist zu star­ker Tobak hierzulande. In der verordneten »Zeitenwende« glaubt man besser den wohlfei­len Schnurren deutsch-amerikanischer Schlapphutflüsterer. Zum Beispiel, wenn es heißt: Da war mal so ein Schiffchen, das von Deutschland aus in See stach, um die im Volk so verhasste Nord-Stream-Pipeline am Ostseegrund zu bombardieren …

 

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