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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Der Weg ins Leben. Ein pädagogisches Poem

Anton Makarenko

Vor 75 Jahren, am 1. April 1939, verstarb mit 51 Jahren Anton Semjonowitsch Makarenko. Als junger Lehrer erhielt er im September 1920 vom Vorsitzenden des Gouvernements-Volksbildungsamts einen Auftrag: »Diese Vagabunden nehmen einfach überhand, diese Jungens; man kann nicht mehr unbehelligt über die Straßen gehen, in die Wohnungen brechen sie ein ... Solls schief gehen, aber es muss was getan werden! ... Die Hauptsache: Nicht so eine Besserungsanstalt für jugendliche Verbrecher, sondern – verstehst Du – soziale Erziehung.« Makarenko stellte sich der Aufgabe und schuf die Arbeitskolonie für jugendliche Rechtsverletzer im Gebiet Poltawa/Ukraine; ihre Geschichte ist im Buch »Der Weg ins Leben. Ein pädagogisches Poem« erzählt. Nachfolgend zwei kurze Auszüge. (Aufbau-Verlag Berlin, 1952)

So vermied ich es, zum Volksbildungsamt zu fahren, denn man sprach dort mit mir allzu unfreundlich, ja sogar geringschätzig. Ein Inspekteur setzte mir besonders zu: Scharin. [...]

Wer weiß, was er bis 1917 trieb, aber jetzt galt er ausgerechnet auf dem Gebiet der Sozialerziehung als bedeutende Kapazität. Er hatte sich einige hundert moderne Fachausdrücke gut eingeprägt, verstand es, endlos leere Phrasen aneinanderzureihen und war überzeugt, daß sie wertvolle pädagogische und revolutionäre Gedanken in sich bargen.
Mich behandelte er feindselig und von oben herab seit dem Tage, an dem ich ein Lachen nicht unterdrücken konnte, das wirklich nicht zu unterdrücken war.
Eines schönen Tages erschien er in der Kolonie. In meinem Zimmer sah er auf dem Tisch ein Aneroidbarometer.
»Was ist das für ein Ding?« fragte er.
»Ein Barometer.«
»Was für ein Barometer?«
»Ein Barometer«, sagte ich verwundert. »Es zeigt das Wetter im voraus an.«
»Wieso, das Wetter im voraus? Wie kann es denn das Wetter voraussagen, wenn es bei Ihnen auf dem Tisch steht? Das Wetter ist doch nicht hier drin, sondern draußen.«
Im gleichen Augenblick fing ich an zu lachen, unbändig und unanständig. Wenn Scharin nur nicht so eine »gelehrte« Miene zur Schau getragen hätte, diese Privatdozenten-Frisur, diesen Aplomb des Gelehrten! . . . Er wurde sehr böse.
»Warum lachen Sie? Sie wollen Pädagoge sein? Wie können Sie Ihre Zöglinge erziehen? Wenn Sie sehen, daß ich etwas nicht weiß, müssen Sie es mir erklären, aber nicht lachen.« [...]

Kapitel 23: Saatgut

»Wir sollten es aufgeben«, sagte Kalina Iwanowitsch. »Nehmen Sie Karabanow, wir waren sogar stolz auf ihn und mußten ihn fortjagen. Auf Wolochow, Werschnew‚ Ossadtschij, Taranez und viele andere kann man auch keine großen Hoffnungen setzen. Lohnt es sich denn, nur wegen Beluchin die Kolonie zu halten?« [...]

»Wissen Sie was? Wir machen vielleicht einen furchtbaren Denkfehler: es gibt gar kein Kollektiv, verstehen Sie, es gibt kein Kollektiv, und wir reden immerzu davon, wir haben uns einfach selbst hypnotisiert mit unserem Traum vom Kollektiv.«
»Warten Sie«, unterbrach ich sie. »Kein Kollektiv? Und die sechzig Zöglinge, ihre Arbeit, ihr Leben, ihre Freundschaft?«
»Wissen Sie, was das ist«? Ein Spiel, ein interessantes und vielleicht auch kunstvolles Spiel. Wir haben uns von ihm hinreißen lassen und haben die Kinder dafür begeistert, aber auf die Dauer ist das nichts. Es scheint, wir sind dieses Spiels schon überdrüssig, es ist allen langweilig geworden; bald wird es ganz aufgegeben werden, und alles verwandelt sich in ein ganz gewöhnliches, mißratenes Kinderheim.«
»Wenn man ein Spiel über hat, fängt man ein neues an«, versuchte Lidja Petrowna die schlechte Stimmung zu heben.
Wir lachten matt, aber ich dachte nicht daran, mich zu ergeben.
»Das ist bei Ihnen die übliche Schlappheit des Intellektuellen, Jekaterina Grigorjewna, gewöhnliches Gejammer. Aus Ihren Stimmungen kann man keine Schlüsse ziehen, diese Stimmungen sind Zufallssache. Sie hätten es furchtbar gern gesehen, wenn wir sowohl mit Mitjagin als auch mit Karabanow fertig geworden wären.
Es ist immer so: auf durch nichts gerechtfertigte maximale Forderungen, auf Launen und Alles-haben-Wollen folgen Gestöhn und Mutlosigkeit. Entweder alles oder nichts – die übliche Stimmungsphilosophie.« [...]

Sagen Sie mir offen, vertrauen Sie mir?«
»Ja, ich vertraue dir«, sagte ich ernst.
»Nein, sagen Sie die Wahrheit, vertrauen Sie mir wirklich?«
»Geh zum Teufel«, sagte ich lachend. »Ich hoffe doch, daß die alten Geschichten nicht wieder vorkommen?«
»Sehen Sie, Sie trauen mir doch nicht ganz. ...«
»Es hat keinen Sinn, sich aufzuregen, Semjon. Ich vertraue jedem Menschen, nur dem einen mehr, dem anderen weniger; dem einen für einen Fünfer, dem anderen für einen Zehner.«
»Und für wieviel vertrauen Sie mir?«
»Dir, für hundert Rubel!«
»Und ich . . . ich glaube Ihnen überhaupt nichts«, fuhr Semjon hoch.
»Nun hör mal einer an!«
»Na, das macht nichts, ich werde es Ihnen noch beweisen.« Damit ging er in den Schlafsaal. [...]

Nach etwa zwei Wochen rief ich Semjon zu mir und sagte ihm einfach:
»Hier ist eine Vollmacht. Du holst vom Finanzamt fünfhundert Rubel.«
Semjon sperrte Mund und Nase auf, wurde bleich und grau, dann sagte er unbeholfen:
»Fünfhundert Rubel? Und? ...«
»Und weiter nichts«, sagte ich und sah dabei in den Tischkasten. »Das Geld bringst du mir.«
»Soll ich reiten?«
»Natürlich. Hier, für jeden Fall einen Revolver.«
Ich gab Semjon denselben Revolver, den ich im Herbst Mitjagin aus dem Hosenbund gezogen hatte, mit denselben drei Patronen. Mechanisch nahm Karabanow den Revolver in die Hand, sah ihn scheu an, schob ihn mit einer schnellen Bewegung in die Tasche und verließ, ohne noch ein Wort zu sagen, das Zimmer. Zehn Minuten später hörte ich das Klappern der Hufe auf dem Pflaster; an meinem Fenster flog in vollem Galopp ein Reitervorbei.
Gegen Abend kam Semjon in mein Zimmer, straff gegürtet, in dem kurzen Schafspelz des Schmieds, schlank, gut aussehend, aber finster. Schweigend legte er ein Päckchen Banknoten und den Revolver auf den Tisch.
Ich nahm das Päckchen und fragte im gleichgültigsten Ton, dessen ich fähig war:
»Hast du gezählt?«
»Ja.«
Nachlässig warf ich das Päckchen in den Tischkasten.
»Danke für deine Mühe. Geh jetzt essen.«
Karabanow schob den Gürtel seines Pelzes von links nach rechts, ging im Zimmer einige Male hin und her und sagte schließlich leise: »Gut.«
Und ging hinaus.
Es vergingen zwei Wochen. Wennn wir uns begegneten, grüßte Semjon etwas düster, als habe er eine Scheu vor mir.
Ebenso düster nahm er meinen neuen Befehl entgegen:
»Reit in die Stadt und hol zweitausend Rubel.«
Als er den Browning in die Tasche steckte, sah er mich lange vorwurfsvoll an. Dann sagte er, jedes Wort unterstreichend:
»Zweitausend? Und wenn ich das Geld nicht bringe?«
Ich sprang auf und brüllte ihn an:
»Bitte keine idiotischen Reden! Wenn du einen Auftrag erhältst, geh und führ ihn aus! Hier gibt es keine psychopathischen Auftritte!«
Karabanow zuckte die Achseln und flüsterte unbestimmt:
»Na, schön ...«
Als er das Geld brachte, sagte er:
»Zählen Sie nach!«
»Wozu?«
»Zählen Sie nach, ich bitte Sie darum.«
»Aber du hast doch schon gezählt.«
»Ich sage Ihnen, zählen Sie nach!«
»Laß mich in Ruhe!«
Er griff sich an den Hals, als ob ihn etwas würge, dann riß er an seinem Kragen und schwankte.
»Sie wollen mich verhöhnen. Es ist unmöglich, daß Sie mir soviel vertrauen. Das gibt es nicht!« […]