Der Weg durch den Februar (Auszug)
Anna Seghers
Ihrem Roman "Der Weg durch den Februar" stellt Anna Seghers folgende Worte voran:
"In diesem Buch sind die österreichischen Ereignisse in Romanform gestaltet. Manche Vorgänge sind verdichtet worden; man suche auch nicht nach den Namen der Personen und Straßen. Doch unverändert dargestellt sind die Handlungen der Menschen, in denen sich ihr Wesen und das Gesetz der Ereignisse gezeigt hat."
Da kam aus einer der Straßen einer angelaufen, [...] Er rief: "Da hab ich was gehört." [...] "[...] 'Unsere Bürgermeister werden uns einer nach dem anderen verhaftet, die Heimwehren rücken an, es geht an unsere Betriebsräte, es geht an unsere Abgeordneten. Da haben wir grad gesagt: Was denkt sich denn der Genosse Wallisch?'
Der Genosse Wallisch hat gesagt: 'Morgen kannst's schwarz auf weiß lesen, was sich der Genosse Wallisch denkt.'
Da hat der Melchior Senzer gesagt: 'Wann schlagen wir los, Genosse Wallisch?' Da hat der Wallisch gesagt: 'Wenn's für die Arbeiterklasse nützlich ist.' Da hat der Senzer gesagt: 'Der Arbeiterklasse ist es längst nützlich.' Da hat der Wallisch ihn angesehen, so, und hat gesagt: 'Sie hat immer noch viel zu verlieren.' Da war's still, da habens alle hingehört, und da hat der Melchior Senzer giftig in die Stille reingesagt, dem Wallisch ins Gesicht: 'Alles ist schon hin, einen Dreck hat sie zu verlieren.'
Da hat der Wallisch den Melchior Senzer soo angesehen und hat gesagt, ganz ruhig: 'Seit wann ist dein Blut denn Dreck?' Da haben alle stillgeschwiegen, auch der Melchior Senzer." [...]
***
"Was hatten Sie eigentlich für eine Funktion im Republikanischen Schutzbund?" - "Ich? Gar keine. Ich bin Gemeinderat." [...]
"Alles, was Sie tun, ist ungesetzlich." Der kleine Kommissar stellte sich vor den Stuhl und machte eine Kniebeuge. "Was meint der Herr?" - "Ungesetzlich."
Der Kommissar schlug ihm auf den Mund, die Fäden rissen, das fünfzigjährige Gesicht klappte herunter. Der Kommissar trat einen Schritt zurück und betrachtete das neue Gesicht belustigt. Wöllner leierte mit gleichfalls ausgewechselter, erstaunlich heller Stimme: "Ich bin gesetzlich gewählter Gemeinderat." Jemand verdrehte ihm die Arme hinter der Stuhllehne. Der Kommissar sagte: "So, alter Freund. - Die Depots? Wissens nicht?" Er schlug. "Die Namen? Keine Ahnung?" Er schlug. "Die Depots? Immer noch keine Ahnung?" Er schlug. "Die Namen? Immer noch keinen Schimmer?" Er schlug. - Er schlug aus der Kniebeuge ganz genau auf die Schläfen mit der rechten und mit der linken Faust, er schlug und schlug.
Wöllners Kopf hoppelte auf seinen Schultern, auf seinem kerzengeraden, erstarrten Oberkörper. Erst als die Schläge aufhörten, kullerte der Kopf auf die Brust. [...]
***
"Vier Lastwagen voll!" - "Soldaten?" - "Nein, Polizei. Die Landstraße ist voll Menschen, sie sperren ab. Der Bernasek ist verhaftet. Sie haben ihn über und über blutig geschlagen. Der Schutzbund rückt an die Sammelstellen, es geht ans Waffenverteilen." Aigner rief: "Geh rein, paß die anderen ab. Zum Schulhof!" [...]
Im Schulhof stellten sich die Schutzbündler dieser Sammelstelle auf. Aus den Heizkellern wurden Waffen zum Verteilen in den Hof getragen. Postl und Aigner stellten sich an. Aigner erkannte etliche, die sicher ebenfalls keine Schutzbündler waren. Alle traten schweigend an, als könnte ein Wort die Geschwindigkeit der Verteilung beeinträchtigen. Zwei Schutzbündler mit Listen standen auf der Treppe. Ein kleiner, alter, haariger Schutzbündler stand mit verschränkten Armen Kontrolle. Ein unerschütterlicher Regen fiel auf alles. [...]
Auf einmal schrie es auf den Dächern: "Ein Tank!" Sie rissen sich alle zusammen, die Unterkiefer zitterten allen. Da horchten sie gierig auf die ruhige Stimme: "Es gibt gar keine Tanks!" Riedl horchte auf seine gute eigene Stimme: "Die sind im Vertrag verboten." Der Erdboden zitterte in ihn hinein. Sein Herz wurde schon kalt, es witterte schon etwas. Er hörte sich selbst, stimmlos, inwendig: Verboten. Die alte, knarrige Stimme, die einmal vor Stunden zu rasender Eile angetrieben hatte, war plötzlich wieder da: "Handgranaten!" Schon war die Gasse eine Schlucht, die Menschenhäuser waren schon Felswände, das Tier war schon über ihnen, schon hörte man Schreie.
Der Polizeitank nahm die drei Barrikaden, wie ein Stier drei Zäune schlitzt. Viele Schutzbündler warfen sich in die Häuser. Ausgewalzt wurden die Gassen, flach die Toten, die man so schnell nicht wegziehen konnte. [...]
***
"Hören Sie mir doch endlich zu, Willaschek, Sie scheinen noch immer nicht zu verstehen, was für Sie auf dem Spiel steht." [...]
"Sie haben einen Mann totgeschossen."
Willaschek ließ die Brauen fallen, er sagte: "Damals sind viele totgeschossen worden." Groppner sagte schnell, wobei sich der heftige Widerwille gegen den ihm vom Gericht aufgezwungenen Klienten zum erstenmal auch in seinem Gesicht spiegelte: "Ja, aber immerhin. Der Mann, den Sie totgeschossen haben, Willaschek, hat auf dem Boden gelegen, Sie haben ihn doch nicht im offenen Kampf getötet."
Willaschek sagte: "Stanek ist wohl im offenen Kampf gehängt worden?" Sie beugten sich gegeneinander über den Tisch in nacktem Haß. Ihre Stirnen berührten sich fast. Groppner faßte sich zuerst.
"Ich bin ja nicht dafür, daß man Volksgenossen aufhängt. Immerhin kann man sagen, daß vorher manches geschehen ist, wodurch es soweit gekommen ist." Willaschek sagte: "Auch bei uns war manches vorher geschehen."
Aufbau-Verlag, 1. Auflage 1976 (In dem Band findet sich des Weiteren der Roman "Der Kopflohn").