Der Weg der SPD in den Krieg
Prof. Dr. Heinz Niemann, Bergfelde
Kein Politiker kann immer alles schon wissen, was hinter den Kulissen vorgeht, er muss davon ausgehen, getäuscht zu werden, sowohl von der schwer durchschaubaren Wirklichkeit wie von den politischen Akteuren anderer Parteien und ihren Ideologen usw. Aber das ist keine Entschuldigung. Ein Publizist, in dürftigen Verhältnissen in der Emigration lebend, ohne Kenntnis der internen Debatten und geheimen Dokumente, nur mit den in den Zeitungen verbreiteten Informationen ausgerüstet, hat infolge seines theoretischen Weltbildes wenige Wochen nach Ausbruch des Krieges geschrieben: »Der europäische Krieg, den die Regierungen und bürgerlichen Parteien aller Länder jahrzehntelang vorbereitet haben, ist ausgebrochen. Das Anwachsen der Rüstungen, die äußere Zuspitzung des Kampfes um die Märkte in der Epoche des jüngsten, des imperialistischen Entwicklungsstadium des Kapitalismus in den fortgeschrittenen Ländern, die dynastischen Interessen der rückständigsten, der osteuropäischen Monarchien mussten unvermeidlich zu diesem Krieg führen und haben zu ihm geführt. Territoriale Eroberungen und Unterjochung fremder Nationen, Ruinierung der konkurrierenden Nation, Plünderung ihrer Reichtümer, Ablenkung der Aufmerksamkeit der werktätigen Massen von den inneren politischen Krisen in Russland, Deutschland, England und anderen Ländern, Entzweiung und nationalistische Verdummung der Arbeiter und Vernichtung ihrer Vorhut, um die revolutionäre Bewegung des Proletariats zu schwächen – das ist der einzige wirkliche Inhalt und Sinn, die wahre Bedeutung des gegenwärtigen Krieges.« [1] Treffender geht es in solcher Kürze nicht.
Schleichende Anpassung
Die Wirkung der »Urkatastrophe« des Krieges gerade auf die Arbeiterbewegung war schwerwiegend. Die Antwort jüngster Geschichtsschreibung für die deutsche Sozialdemokratie lautet: »Die Sozialdemokratie konnte ihre systemkritische Oppositionsrolle nicht weiterführen und sah sich mit Alternativen konfrontiert, die im Laufe des Krieges zur Parteispaltung führten. Für die Spaltung waren politische Gründe maßgeblich, doch nahmen auch die gesellschaftlichen Gegensätze während des Krieges deutlich zu, so dass es zur Radikalisierung von Teilen der Arbeiterschaft kam.« [2]
Es war nicht erst der Krieg, der neue Probleme aufwarf. Seit Jahren hatte sich ein schleichender Prozess in der Führung der SPD vollzogen, der schließlich zur Aufgabe der Oppositionsrolle führte. Dem lagen Veränderungen in der ökonomischen und sozial-strukturellen Basis zugrunde, die sich dann in der Ideologie, im Überbau, in den unterschiedlichen oder gegensätzlichen Interessen und schließlich in der Politik widerspiegeln. Aber das war und ist nicht unvermeidlich, es hängt vom Handeln der führenden Persönlichkeiten, auch dem der Herrschenden, ab, welche Veränderungen dominieren. Der Reichskanzler von Bülow z.B. war so ein kluger Vertreter der sogenannten »Mauserungspolitik«, die auf die Wandlung der Sozialdemokratie zu einer braven Opposition zielte. Darum hatte er gleich in seinem ersten Amtsjahr die Rückkehr des ausgewiesenen Eduard Bernstein aus England in die Wege geleitet, und sich nach dessen Rückkehr über die Auseinandersetzungen in der Partei gefreut, weil das »nicht immer zur Freude des fanatischen August Bebel« [3] war.
Innerhalb der Partei waren es anfänglich nur Einzelne, die das begrüßten und auf die Integration ins politische System des Kaiserreichs drängten. Max Weber stellte schon 1907 fest, dass die Sozialdemokratie schon keine Gefahr mehr für den Staat darstelle, sondern sich im Zuge der Bemühungen um die »Eroberung« des Staates in eine bürokratische Maschine verwandle, bei der die materiellen Versorgungsinteressen von Parteibeamten in den Vordergrund treten werde. Einige Jahre später hat diesen fortschreitenden Prozess der Herausbildung einer reformistischen Arbeiterbürokratie und korrumpierten Arbeiteraristokratie der Soziologe Robert Michels und wieder ein paar Jahre später W. I. Lenin analysiert.
1912 hatte die Partei, inzwischen mit gut einer Million Mitgliedern, einen grandiosen Wahlsieg errungen und war zur stärksten Fraktion geworden, woraufhin Scheidemann zum Reichstagsvizepräsidenten gewählt wurde. Was für ein Signal! Das stärkte alle jene Vertreter, die aufs Mitregieren in einer parlamentarischen Monarchie in Koalition mit Zentrum und den Linksliberalen setzten. Ein Jahr später starb Bebel, der zwei Jahre zuvor noch den links-zentristischen Intellektuellen und Anti-Militaristen Hugo Haase als Parteivorsitzenden anstelle des rechten Kandidaten Ebert durchgesetzt hatte. Nun aber war für Ebert der Weg frei, der sich als Apparatmann mit aller Energie ans Werk machte, während Haase seine Arbeit als Parteivorsitzender ehrenamtlich betrieb und neben seinen Pflichten als Fraktionsvorsitzender weiter in seiner Anwaltskanzlei arbeitete. Bebel hatte zwar auf fast jedem Parteitag zuvor gegen die »Regierungssozialisten« gewettert, so 1910: »Ich habe oftmals den Eindruck, dass ein Teil unserer Führer nicht mehr versteht, was die Massen zu leiden haben, dass sie der Lage der Massen entfremdet sind … Wenn wir Nationalliberale unter uns haben, dann müssen sie hinaus.« Aber lediglich ein einziger Abgeordneter, der sich u.a. für die Kolonialpolitik des Kaiserreichs ausgesprochen hatte, wurde (1912) tatsächlich ausgeschlossen. So fand Ebert im Parteivorstand, seinem Apparat sowie in der Fraktion eine Mehrheit vor, mit der er den Kurswechsel durchsetzen konnte. Bereits im Juni 1914 stimmte die Fraktion erstmals geschlossen (wegen Fraktionszwangs) unter Bruch der Beschlüsse des Brüsseler Kongresses der Internationale (1891) und des Züricher Kongresses (1893) der Wehrvorlage zu. Der 4. August manifestierte die schleichende Übernahme eines bürgerlich-nationalen Machtstaatsdenkens durch die Führung von SPD und Gewerkschaft.
Nur kleine Gruppe von linken Abgeordneten
Zu den sozial-ökonomischen und personellen bzw. weltanschaulichen kommt noch ein weiterer Faktor hinzu: die Lüge und Manipulation. Eines der wichtigsten und wirksamsten Lügen war die vom drohenden Angriffskrieg durch Russland, dem Hort der europäischen Reaktion, gegen den selbst Bebel versprochen hatte, das Gewehr im Falle eines Angriffs auf die Schulter zu nehmen. So wurden die Massen irregeführt und die schwankenden Führer des sogenannten »Marxistischen Zentrums« umgestimmt.
Die Gruppe der Verweigerer bestand nur aus einer kleinen Gruppe von Abgeordneten, die aber außer allgemeinen Forderungen nach Kampfmaßnahmen auch keine überzeugende Alternative hatten, um damit eine Mehrheit zu gewinnen. Diese hätte nicht nur den allseitig imperialistischen Charakter des bevorstehenden Krieges entlarven und eine sowohl realistische, populäre Gegenposition wie die Bewaffnung des ganzen Volkes als Miliz zur Verteidigung gegen jede Aggression beinhalten und dies zur Bedingung einer Kreditbewilligung machen müssen. Als Kriegsziele wären jeder Verzicht auf Annexionen, sofortige Gewährung des Selbstbestimmungsrechts für die vom österreichischen Verbündeten unterdrückten Balkanvölker, ein Angebot an Frankreich über eine Volksabstimmung in Elsass-Lothringen zu propagieren gewesen. Auch für die Innenpolitik wäre es wichtig gewesen, auf das völlige Scheitern der Außenpolitik Wilhelms II. hinzuweisen, die Gewährung der Presse- und Versammlungsfreiheit sich garantieren zu lassen und für Preußen die sofortige Abschaffung des Drei-Klassen-Wahlrechts zu fordern. In all diesen Punkten hätte man sich konkret auf Bebel berufen können, der sich sicher nicht – wie später Bernstein eingestand, hätte »einseifen lassen«, wer der Hauptkriegsschuldige war. Noch 1912 hatte Bebel die englische Regierung gewarnt, ihre Flottenrüstung zu verringern, weil mit einem deutschen Angriff gerechnet werden müsse. Die Wirkungen des 1. Weltkriegs auf die Sozialdemokratie sind im Zusammenhang mit zwei der einschneidendsten seiner Folgen mit unterschiedlicher Reichweite und höchst widersprüchlichen Folgen zu sehen. Ausgangspunkt ist die deutsche Novemberrevolution, mit der sich die Spaltung der Arbeiterbewegung manifestierte. »Die deutsche Revolution von 1918,« schrieb Haffner, »war eine sozialdemokratische Revolution, die von den sozialdemokratischen Führern niedergeschlagen wurde; ein Vorgang, der in der Weltgeschichte kaum seinesgleichen hat.« [4] Die Geschichte der europäischen Arbeiterbewegung in der dem Krieg folgenden Epoche ist untrennbar mit diesem – nicht nur von Haffner – als »Verrat« bezeichneten Vorgang verbunden. Wenn man Geschichte als offen für alternative Entwicklungen hält, abhängig vom Denken, Verhalten und Handeln jener Personen, die in verantwortlichen Positionen sind, dann ist es legitim, wie es Haffner getan hat, festzustellen: »Und das deutsche Volk als Ganzes, ..., hat für dieses Scheitern teuer bezahlen müssen: Mit dem Dritten Reich, mit der Wiederholung des Weltkrieges, mit der zweiten und schwereren Niederlage und mit dem Verlust seiner nationalen Einheit und Souveränität. … Vor alledem hätte ein Sieg der deutschen Revolution Deutschland bewahren können.« [5] (Dem muss man nur noch hinzufügen, dass dadurch die Oktoberrevolution im unterentwickelten Russland allein blieb, wo es zwar leichter gewesen war zu beginnen, es aber unendlich schwerer werden würde, sie fortzuführen, wie schon Lenin erkannt hatte.) Durch ihr Bündnis mit der alten Militärkaste wurde der Klassenwiderspruch der preußisch-deutschen Gesellschaft nicht gelöst, zu einer Zeit, wo dies verglichen mit später noch relativ leicht gewesen wäre.
So wie der Weg der SPD in den Krieg die Weichen für die verratene Revolution 1918/19 stellte, so hatte dieser Verrat auch weitreichende Auswirkungen für die Nachfolgeperiode. Das hat auch Willy Brandt 1988 festgestellt, dass man »den Untergang von 1933 nicht ohne die Weichenstellung von 1918/19 sehen kann«. [6]
Anmerkungen:
[1] W. I. Lenin, Werke Band 21, S. 13.
[2] Bernd Faulenbach: Geschichte der SPD. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 2012, S. 34. - Anspruchsvoller aber inhaltlich verwandt argumentieren Peter Brandt/Steffen Lehndorf. Siehe »Mehr Demokratie wagen«. Geschichte der Sozialdemokratie 1830 – 2010, Berlin 2013, S. 104f.
[3] Bernhard Fürst von Bülow: Denkwürdigkeiten, Erster Band, S. 469. zitiert nach: Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Bd. 2, S. 44.
[4] Sebastian Haffner: Die deutsche Revolution 1918/19, Kindler Verlag GmbH, Berlin 2002, S. 244. ISBN 3 463 40423 0.
[5] Ebenda.
[6] Willy Brandt: Deutsche Wegmarken. Berliner Lektionen, 11. Sept. 1988, in: Berliner Lektionen, S. 71-88. Brandt folgt hier der gleichen Position seines Freundes und Beraters Richard Löwenthal, der diese Folgen an der »versäumten« demokratischen Revolution von 1918 erklärt hatte und sich auf Arthur Rosenberg bezieht.