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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Der Weg der Fahne der "Gruppe Osten"

Dr. Heinz Marohn, Berlin

Auch Fahnen haben ihre Geschichte. Fahnen haben ihre Träger. Fahnen sind Symbole und könnten vieles berichten, über ihre Zeit, über jene, die sie geschaffen haben. Damit ist sie Fanal, im Kampf die Kämpfer um sich geschart, der Fahnenträger vorangehend.

Die rote Fahne der Arbeiterklasse kann von bedeutsamen Klassenkämpfen berichten, von Siegen und Niederlagen des Proletariats. Aber sie ist niemals gefallen, so oft auch der Träger fiel.

Immer wurde sie wieder umfaßt – fester, emporgehoben und erneut voran in den Kampf geführt. Im Museum für Deutsche Geschichte in Berlin, Unter den Linden, haben zahlreiche Fahnen ihren letzten Platz gefunden. Eine jede hat ihre Geschichte, mit der die Schicksale revolutionärer Kämpfer engstens verknüpft sind.

Eine von ihnen ist die rote Fahne der "Gruppe Osten", der Organisation des Kommunistischen Jugendverbandes des 5. Stadtbezirks Friedrichshain: Ihre Geschichte beginnt im Jahr 1928 im Berliner Osten, nahe dem damaligen Schlesischen Bahnhof und nahe der traditionsreichen Weberwiese. Die Hauptstadt Deutschlands – Berlin – hatte zu dieser Zeit viele Gesichter. Gesichter mit schönen und häßlichen, freundlichen und haßerfüllten, traurigen und harten Zügen. Reichtum und Luxus, Zufriedenheit und Behäbigkeit auf der einen Seite, Not und Armut, härteste Arbeit und Lebensangst auf der anderen Seite. Berlin – wer genau hinter die Kulissen der "goldenen Zwanziger" schaute, mußte härteste Klassenauseinandersetzungen sehen und erleben.

Er konnte spüren, wie sich jene ausgebeuteten Menschen, die den Reichtum der Reichen täglich mehrten, im "Osram-Konzern", in der "Knorr-Bremse" oder durch den "Pintsch-Konzern" und weitere kapitalistische Unternehmen der Bourgeoisie, wie jene Proleten sich immer fester zusammenschlossen, politisch auftraten, sich organisierten zum Kampf gegen die Macht des Kapitals.

Die jungen Kommunisten der "Gruppe Osten" trafen sich regelmäßig in einer Tischlerei, um sich in lebhaften Diskussionen politisch zu stärken, Kampfaktionen zu beraten und konkrete Aktionen zu organisieren.

Unter ihnen der Genosse Gerhard Albrecht, seit 1924 Mitglied des KJVD, der auch der letzte politische Leiter dieser Gruppe junger Kommunisten war. Kein Jungkommunist fehlte bei diesen Versammlungen.

Und wenn dann die Genossen Ernst Schneller oder Katja Niederkirchner zu ihnen sprachen, standen auch Nichtorganisierte und Sympathisanten dichtgedrängt dabei.

Die Mehrzahl der Gruppe war arbeitslos; sie verfügten kaum über Geld, um sich zum Beispiel Bücher anzuschaffen. Den Marxismus-Leninismus studierten sie gemeinsam und eigneten sich in ihrem Kollektiv Tugenden von Kommunisten an, ohne die erfolgreiche Kampfaktionen nicht möglich waren, wie Disziplin, Mut und Bereitschaft, für die Sache der Partei die ganze Persönlichkeit einzusetzen.

Im 5. Stadtbezirk Friedrichshain war der Kommunistische Jugendverband rührig und aktiv. Die jungen Kommunisten standen ihren Mann, wenn die Partei sie rief und Aufträge erteilte – zum Verteilen von Handzetteln, Flugblättern, zum Plakate kleben, zur Sicherung von Versammlungen gegen Anschläge der braunen SA-Trupps.

Jedoch ihr Wunsch, eine eigene Fahne zu besitzen, wie sie anderen Gruppen bereits eigen war, der den Mädchen und Jungen dieser KJVD-Gruppe vorschwebte, hatte sich bislang nicht erfüllen können.

Eine Fahne kostete damals viel Geld – ca. 50 Reichsmark.

Die Partei brauchte jede Mark zum politischen Kampf und zur Unterstützung vieler Genossinnen und Genossen in sozialer Notlage. Die Gruppe beschloß, sich das notwendige Geld zu erarbeiten. Über Monate wurde Pfennig um Pfennig zusammengetragen, wurden Parteizeitungen und Parteiliteratur zusätzlich verkauft, mehrten sich Groschen um Groschen, Mark um Mark, bis eines Tages die benötigte Summe zusammen war.

Endlich – am 8. Oktober 1928 – war es geschafft. Es wurde ein unvergeßlicher Tag im Leben der "Gruppe Osten". Auf dunklem Rot leuchteten in Gold gestickt die Worte:

"Wir arbeiten weiter im Geiste Lenins – 5. Bezirk ‚Gruppe Osten’".

Kein geringerer als der unvergessene Genosse Ernst Schneller nahm auf einer Veranstaltung zu Ehren des bevorstehenden Jahrestages der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution die feierliche Übergabe der Fahne an die Jungkommunisten vor.

Von nun an wehte sie den Friedrichshainer Jungkommunisten bei allen Kampfdemonstrationen, Meetings und Klassenschlachten voran. Die Fahne war dabei, als mit einer machtvollen Protestkundgebung die Arbeiterschaft des Berliner Ostens ihre Stimme erhob gegen den feigen und hinterhältigen Polizeimord an dem Jungkommunisten Herbert Neumann, Mitglied der "Gruppe Osten" des KJVD. Diese Fahne führte Tausende Arbeiter zum Friedhof nach Friedrichsfelde und senkte sich bei den Worten des Gedenkens der Genossen Egon Erwin Kisch und Johannes R. Becher für den teuren Toten.

Diese Fahne sollte noch weiteren Opfern die letzte Ehre erweisen, denn als die faschistische SA schlagend ihre Mordfeldzüge begann, waren nicht wenige der jungen Kommunisten ihre Opfer.

Im Januar 1932 wurde bei einer angeblich "illegalen Veranstaltung" die Fahne sogar "verhaftet" und durch die Polizei dem Polizeipräsidium zugeführt. Sie mußte jedoch wenig später wieder freigegeben werden.

Als die braune Pest 1933 in den letzten Januartagen im Auftrag des deutschen Monopols an die Macht dirigiert wurde und der Mordterror der deutschen Faschisten offen begann, lösten sie auch im Stadtbezirk Friedrichshain eine grausame Treibjagd auf die Kommunisten aus. Die Verhaftungen häuften sich, Hausdurchsuchungen bei allen sogenannten "verdächtigen Personen" waren an der Tagesordnung. Folter und Tötung im "Mörderkeller" nahe dem Frankfurter Tor, Marxistische Schriften, Symbole, Wimpel und Fahnen kamen auf die Scheiterhaufen. Die Mitglieder der "Gruppe Osten", auch ihr ehemaliger Leiter, Genosse Gerhard Albrecht, gingen in die Illegalität.

Was sollte aus der Fahne werden?

Sollte man zulassen, daß sie von den braunen Barbaren geschändet wird? Nein! Die Fahne erhielt ihr erstes Versteck bei dem zuverlässigen Genossen Sauer in der Gubener Straße, der sie dort in einem Schrank verborgen hielt.

Genosse Albrecht wird am 6. März 1933 verhaftet, kann aber in dem Wirrwarr des Polizeipräsidiums fliehen. Um die Genossen nicht zu gefährden, hält er sich außerhalb der Stadt auf. Nach Kontaktaufnahme zu seinen Genossen wurde auf einer illegalen Zusammenkunft auch über den weiteren Verbleib der so teueren Fahne entschieden.

Beschlossen wurde, sie außerhalb Berlins bei den Eltern des Genossen Albrecht in Strausberg zu verstecken. Unter größten Vorsichtsmaßnahmen brachten junge Genossen das Fahnentuch nach Strausberg und dort, sorgfältig verpackt, in einem sicheren Holzverschlag eingemauert. Wenig später, im August 1933, wurde Genosse Albrecht auf offener Straße, nahe dem politischen Wirkungsfeld der "Gruppe Osten", von der Gestapo verhaftet und für 10 Jahre in das Konzentrationslager Sachsenhausen eingesperrt. Alle brutalen Folterungen überstand er, beseelt von dem Gedanken "Du mußt überleben."

Als ihn die Faschisten 1943 in eine Strafkompanie steckten, um ihn auch für den Krieg direkt zu verwenden, flüchtete er erneut in die Illegalität.

Ständig war er auf der Hut, nicht doch noch einmal in die Fänge der SS zu geraten und erschossen zu werden. Dennoch nahm Genosse Albrecht Kontakt auf mit sowjetischen Genossen, die bei Strausberg im Zwangsarbeiterlager einer Munitionsfabrik schufteten. Mit ihnen organisierte er Sabotageaktionen.

Als die Rote Armee vor den Toren Berlins stand, die Zerschlagung des Faschismus und die Befreiung des deutschen Volkes vom Hitlerfaschismus eine Frage von Tagen war, wurde am 21. April 1945 die Fahne der "Gruppe Osten" aus ihrem sicheren Versteck geholt. Gemeinsam mit zwei aus dem Zwangsarbeiterlager befreiten Studentinnen aus Kiew trugen Genosse Albrecht und weiteren Antifaschisten den sowjetischen Befreiern die Fahne entgegen.

Viele Worte zu wechseln blieb nicht die Zeit. Die Schlacht um Berlin war noch nicht beendet, und die Panzersoldaten der Sowjetarmee mußten weiter vorwärts stürmen.

Niemand konnte dem jungen Komsomolzen, dem Tankisten (Panzerfahrer), die Bitte abschlagen, diese Fahne auf ihrem Führungsfahrzeug mitzunehmen. Sie sollte beim Sturm auf die letzte Bastion des deutschen Faschismus im Kampf voran wehen, beim Sieg dabei sein. Die Fahne wechselte erneut ihren Träger und ihren Platz.

Kurz nach dem 8. Mai 1945 betrachteten nicht wenige sowjetische Soldaten und Offiziere, deutsche Kommunisten und Antifaschisten die Fahne der "Gruppe Osten" im Gebäude der sowjetischen Stadtkommandantur von Berlin. Niemand wußte Auskunft zu geben, wer sie übergeben hatte. Daher sollte sie auch dort bleiben. Dagegen jedoch erhob der damalige Stadtkommandant, Generaloberst Bersarin, Einspruch. Als bisheriger Oberbefehlshaber der 5. Sowjetischen Stoßarmee, dessen Panzer diese Fahne nach Berlin getragen hatten, entschied er: "Die Fahne gehört den deutschen Genossen und muß an sie zurückgegeben werden!"

Da von den Mitgliedern der "Gruppe Osten" niemand ausfindig gemacht werden konnte, erhielt die Fahne bei den Kommunisten im Rathaus Friedrichshain ihren neuen Platz. In den 50er Jahren entdeckte die Fahne Genosse Albrecht, der wichtige Staatsfunktionen ausführte, wieder und schlug unmittelbar vor, sie der Kreisorganisation der Freien Deutschen Jugend des Stadtbezirks Friedrichshain zu übergeben.

Auf einer Aktivtagung der Kreisorganisation der FDJ im Kultursaal des RAW in der Revaler Straße übergab Genosse Albrecht gemeinsam mit weiteren verdienten antifaschistischen Widerstandskämpfern die rote Fahne der "Gruppe Osten" an die FDJ, mit der Verpflichtung, alles zu tun für das neue Deutschland, der Deutschen Demokratischen Republik, wofür einst Friedrichshainer Jungkommunisten gekämpft haben und einige ihr Leben gaben.

Das Vermächtnis der Mitglieder des KJVD sollte stetes Denken und Handeln der Mitglieder der FDJ bestimmen. Die rote Fahne war an ihren Kampfort zurückgekehrt. Sie war nun dabei, als in den Berliner Betrieben Mitglieder des Jugendverbandes um beste Produktionsleistungen rangen, das Jahr 1954 zum "Jahr der großen Initiative" des Fünfjahrplanes machten, die Jugendlichen im Stadtbezirk das 11. Deutschlandtreffen vorbereiteten, an der großen Volksbefragung für einen Friedensvertrag und gegen die EG-Verträge und fünfzigjährige Besatzungsmacht der westlichen Mächte auftraten.

Die Fahne war dabei, als im Oktober ’53 würdig in den FDJ-Kollektiven der 50. Jahrestag der Gründung der ersten Organisationen der deutschen Arbeiterjugendbewegung begangen wurde.

Die rote Fahne erhielt bei allen Veranstaltungen eine Ehrenwache.

Sie wurde genutzt, um bei der Schulung der jungen Funktionäre der FDJ das Vermächtnis der revolutionären Vorkämpfer wachzuhalten und nach ihren Vorbildern zu erziehen.

Ihren festen Ehrenplatz hatte sie nun im Geschichtskabinett im Turmhaus Block F am Frankfurter Tor, als ich dort in der Funktion des Vorsitzenden der Ständigen Kommission Kultur der Stadtbezirksversammlung Friedrichshain und des Vorsitzenden der Geschichtskommission der Parteiorganisation Friedrichshain ehrenamtlich tätig war. Doch die Jahre des Weges dieser Fahne hatten sie auch gezeichnet. Zwölf Jahre im sicheren Versteck waren nicht ohne Spuren vergangen.

Die Fahne mußte erhalten bleiben, meinten wir. Ein Stück Geschichte des revolutionären Kampfes junger deutscher Kommunisten im Berliner Osten. Deshalb wurde entschieden, sie dem Museum für Deutsche Geschichte zu übergeben. Im Jahr 1956 überreichten die Genossinnen Helga Gerloft und Christa Paul sowie der Genosse Helmut Henze, der damalige Direktor des Museums, sicher schweren Herzens, unsere Fahne.

In der Gewißheit, daß sie uns erhalten bleibt, so, wie uns ihr Auftrag immer Richtschnur unseres Handeins ist: "Wir arbeiten weiter im Geiste Lenins!"