Der südafrikanische Weg
Dr. Ronald Friedmann, Berlin
Vor zwanzig Jahren, im Oktober 1998, legte die Wahrheits- und Versöhnungskommission nach rund zweijähriger Tätigkeit in Johannesburg ihren Abschlussbericht vor
Das Ende der jahrzehntelangen Herrschaft des Apartheid-Regimes im Jahre 1990 war für die Menschen in Südafrika nur ein Anfang: Wenn es gelingen sollte, eine wahrhaftige südafrikanische Nation aufzubauen, in der die Menschen aller Hautfarben und Stammeszugehörigkeiten friedlich und vereint zusammenleben könnten, musste eine von allen Seiten akzeptierte Form des Umganges mit den Verbrechen der Vergangenheit gefunden werden, die wie ein gesellschaftliches Trauma ganz Südafrika belastete.
Insbesondere in der schwarzen Bevölkerung war das Verlangen nach Vergeltung groß: Die Verantwortlichen für die zahllosen Untaten des untergegangenen, aber noch nicht überwundenen Regimes sollten von ordentlichen Gerichten zur Rechenschaft gezogen und angemessen bestraft werden. Schon deshalb wäre eine allgemeine und umfassende Amnestie, wie sie vor allem von den ehemaligen Machthabern und ihren Handlangern immer wieder gefordert wurde, von der großen Bevölkerungsmehrheit niemals verstanden und akzeptiert worden.
Doch es ging nicht nur um die Verbrechen von Weißen an Schwarzen. Das Apartheid-Regime trug letztlich auch die Verantwortung für die blutigen Auseinandersetzungen zwischen den Anhängern des Afrikanischen Nationalkongresses (ANC) und anderen schwarzen Widerstandsorganisationen, die immer wieder mit rücksichtsloser Gewalt um den entscheidenden Einfluss auf die schwarze Bevölkerung gekämpft hatten und dabei, wie ihr gemeinsamer Feind, das Apartheid-Regime, vor Menschenrechtsverletzungen nicht zurückgeschreckt waren.
Im Juli 1995, ein Jahr nach den ersten freien Wahlen in Südafrika, fiel die Entscheidung, eine »Truth and Reconciliation Commission«, eine »Wahrheits- und Versöhnungskommission«, einzusetzen, die sich mit allen Menschenrechtsverstößen der vorangegangenen dreieinhalb Jahrzehnte befassen sollte, unabhängig von der Hautfarbe der Verantwortlichen. Es ging darum, wie schon mit der Bezeichnung des zu schaffenden Gremiums deutlich wurde, die Menschen in Südafrika mit der ungeschönten Wahrheit über die blutige Vergangenheit des Landes zu konfrontieren und so eine gesellschaftliche, aber auch individuelle Versöhnung möglich zu machen. Pumla Gobodo-Madikizela, Professorin für Klinische Psychologie an der Universität von Kapstadt, die in der Wahrheits- und Versöhnungskommission in maßgeblicher Position mitgearbeitet hatte, formulierte es mit dem zeitlichen Abstand von zehn Jahren so: »Wie können wir den Teufelskreis aus Hass und Gewalt überwinden, der in der Geschichte immer wiederkehrt? Wie können wir verhindern, dass die Opfer von heute die Täter von morgen werden? Wie können wir über das Unrecht der Vergangenheit richten und doch zum Dialog einladen, damit dieser Bestandteil des öffentlichen Lebens wird?« [1]
Grundlage für die Arbeit der Wahrheits- und Versöhnungskommission war der »Promotion of National Unity and Reconciliation Act«, das »Gesetz zur Beförderung der Nationalen Einheit und der Versöhnung«, das vom südafrikanischen Parlament am 19. Juli 1995 auf Initiative des damaligen Justizministers Abdullah Omar beschlossen wurde. Erzbischof Desmond Tutu wurde mit dem Vorsitz der Kommission betraut, Staatspräsident Nelson Mandela übernahm die Schirmherrschaft. Das Renommee dieser beiden Persönlichkeiten trug wesentlich dazu bei, der Kommission die für ihre Arbeit notwendige Autorität zu verschaffen. Das war schon deshalb wichtig, weil die Existenz und das Mandat der Kommission wiederholt von Gegnern einer nationalen Versöhnung vor dem Obersten Gericht Südafrikas infrage gestellt wurden.
Arbeit in drei Komitees
Die Wahrheits- und Versöhnungskommission setzte drei Komitees ein, die jeweils spezifische Aufgaben zu erfüllen hatten. Das Komitee zu Menschenrechtsverletzungen (Human Rights Violation Committee) sollte alle Menschenrechtsverletzungen der Jahre 1960 bis 1994 in Südafrika untersuchen. (Später wurde dieser Zeitraum bis zum März 1996 ausgedehnt.)
Das Komitee für Wiedergutmachung und Rehabilitierung (Reparation and Rehabilitation Committee) hatte den Auftrag, die »Würde der Opfer wiederherzustellen«, wie es in dem einschlägigen Gesetzestext hieß, und dazu Vorschläge zu erarbeiten, wie den anerkannten Opfern materielle und immaterielle Unterstützung zuteil werden könnte. Dieses Komitee arbeitet in gewisser Weise bis heute: Regelmäßig werden auf der Internetseite des südafrikanischen Justizministeriums anerkannte Opfer des Apartheid-Regimes aufgefordert, sich beispielsweise um Ausbildungsstipendien zu bewerben. Erst vor wenigen Tagen, am 30. September 2018, lief die Bewerbungsfrist für das Jahr 2019 ab. [2]
Und schließlich wurde ein Amnestiekomitee (Amnesty Committee) gebildet, das in Übereinstimmung mit den gesetzlichen Bestimmungen über Anträge auf Straffreiheit entscheiden sollte. Zwei Bedingungen mussten erfüllt sein, damit das Komitee einem solchen Antrag zustimmen konnte: Die Tat musste politisch motiviert gewesen sein, und der Täter musste voll und uneingeschränkt zur Feststellung der Wahrheit beigetragen haben. Doch die Wirksamkeit des Komitees blieb sehr beschränkt. In den zwei Jahren seiner Tätigkeit wurden nur 7.112 Anträge [3] gestellt, und nur in 849 Fällen wurde tatsächlich Straffreiheit gewährt. Doch keine der 5.392 Personen, denen aus unterschiedlichen Gründen die Straffreiheit verwehrt wurde, wurde in der Folge vor einem ordentlichen Gericht angeklagt, ganz abgesehen von den vielen Tausend Tätern, die sich dem Amnestiekomitee nicht gestellt hatten.
Die Zahlen, mit denen das Komitee zu Menschenrechtsverletzungen seine Arbeit belegen konnte, waren deutlich beeindruckender: In dem abschließenden Report, der als Teil des Gesamtberichtes der Kommission im Oktober 1998 vorgelegt wurde, wurden mehr als 22.000 Verbrechen dokumentiert. 2.200 Fälle waren öffentlich verhandelt worden – in Kirchen, in Gemeindesälen und an anderen öffentlichen Orten überall im Land. In nicht wenigen Fällen waren die Verhandlungen im Rundfunk und Fernsehen live übertragen worden. Doch auch hier spiegelten die erfassten und verhandelten Fälle nur einen Bruchteil des tatsächlichen Geschehens in den dreieinhalb Jahrzehnten wider, die das Komitee untersuchen sollte.
Bilanz
Desmond Tutu zog trotzdem eine positive Bilanz. In einem Fernsehinterview Ende der 1990er Jahre erklärte er: »Durch den Amnestieprozess konnten wir die Wahrheit über das Schicksal jener Menschen herausfinden, die spurlos verschwunden waren. Verschleppt, umgebracht und irgendwo verscharrt. Das wäre sonst sehr viel schwieriger gewesen. Nur dadurch konnten wir die sterblichen Überreste vieler Opfer finden, sie exhumieren und würdevoll begraben. Das gab den Angehörigen die Möglichkeit endlich mit der Vergangenheit abzuschließen.« [4]
Wesentlich kritischer ist der Rückblick von Fazel Randera, der nicht nur Mitglied der Wahrheits- und Versöhnungskommission war, sondern bis heute sein Leben der Aufklärung der Verbrechen der Apartheid-Zeit widmet. »Die Führer des Apartheid-Regimes«, so stellte er 2016 in einem Zeitzeugengespräch fest, »haben sich für die Apartheid entschuldigt. Doch die Angehörigen der Machtorgane haben sich dieser Haltung verweigert und so wesentlich dazu beigetragen, dass unser Land bis heute unter einem fehlenden gesellschaftlichen Zusammenhang leidet.« [5] Doch auch er ist der Auffassung: Hätte es die Arbeit der Wahrheits- und Versöhnungskommission nicht gegeben, wären die Gräben, die Südafrika bis heute teilen, noch tiefer: »Reue war nicht Ziel des Gesetzes, auf dem die Wahrheitskommission fußte. Und so schwierig es damals war, wir wussten: Um Südafrika als eine Nation aufzubauen, sind viele Kompromisse nötig. So sieht ein Versöhnungsprozess in der Praxis nun mal aus. Im Nachhinein glaube ich, dass wir – anstatt einfach nur den Bericht und alles Weitere an die Regierung zu übergeben – vielleicht darüber hätten diskutieren sollen, ob es wirklich richtig ist, an dem Punkt aufzuhören.« [6]
Anmerkungen:
[1] Pumla Gobodo-Madikizela, Trauma und Versöhnung – Lehren aus Südafrika, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 42/2006 (16. Oktober 2006), S. 32-38, hier: S. 32.
[2] www.justice.gov.za/trc.
[3] 891 Anträge wurden aus unterschiedlichen Gründen zurückgezogen.
[4] So zitiert in: Leonie March, Wahrheitskommission in Südafrika, Deutschlandfunk, 16. April 2011 (www.deutschlandfunk.de/wahrheitskommission-in-suedafrika.799.de.html?dram:article_id=120736, zuletzt abgerufen: 20. September 2018).
[5] Former TRC commissioners reflect on its role 20 years on, Eyewitness News, 16. Juni 2016, (ewn.co.za/2016/06/15/First-on-EWN-Former-TRC-commissioners-reflect-its-role-20-years-on, zuletzt abgerufen: 20. September 2018).
[6] So zitiert in: Kerstin Welter, Erfolg und Misserfolg der Wahrheitskommission, Deutschlandfunk Kultur, 28. September 2016 (www.deutschlandfunkkultur.de/suedafrika-erfolg-und-misserfolg-der-wahrheitskommission.976.de.html?dram:article_id=367147, zuletzt abgerufen: 20. September 2018).
Mehr von Ronald Friedmann in den »Mitteilungen«:
2018-02: Fabrikaktion
2017-10: »Sputnik«
2017-04: Der Putsch der Obristen