»Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit«
Prof. Dr. phil. Horst Schneider, Dresden
Anmerkungen zu: Dreißig Jahre Dialog-Papier SED-SPD
Vor dreißig Jahren, am 28. August 1987, erlebten politisch Interessierte eine Sensation: An jenem Tag wurde das »Dialog-Papier« von SED und SPD »Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit« veröffentlicht. Wer das Dokument mit den Augen von heute betrachtet, kann kaum glauben, dass so etwas zwischen SPD und SED vereinbart wurde.
Schon der erste Abschnitt war ein Paukenschlag: »Unsere weltgeschichtlich neue Situation besteht darin, dass die Menschheit nur noch gemeinsam überleben oder gemeinsam untergehen kann. Eine solche Alternative ist historisch ohne Beispiel. Sie verlangt ein politisches Denken, das historisch ebenfalls ohne Beispiel ist, ein neues Herangehen an die internationalen Angelegenheiten, besonders an die Sicherung des Friedens. Der Krieg darf im Nuklearzeitalter kein Mittel der Politik mehr sein.«
Mit diesem Bekenntnis übernahmen Politiker die Mahnung der Atomphysiker und Friedenskräfte, für die hier die Worte Lord Bertrand Russells stehen.
»Es gibt gegen diesen irrsinnigen Wettlauf in den Tod nur ein Mittel: auf dem Absatz kehrt zu machen und, statt in die totale Selbstvernichtung, dem Leben und der Zukunft entgegenzugehen.« (1959)
Zwingt die geschichtliche Entwicklung seit 1990, diese Erkenntnis zu korrigieren? Welche Menschheitsprobleme sind durch die NATO-Kriege unter deutscher Beteiligung gelöst worden?
Im Mai 2017 lese ich im SPIEGEL (18/2017, S. 42) die Kriegsfanfare Christian Neefs: »Die Antwort auf die aggressive russische Militärstrategie muss Iauten: Nicht die Erhöhung der Militärausgaben ist entscheidend, sondern die Entschlossenheit, zur Abschreckung gegebenenfalls auch militärische Signale zu senden.« Wie sehen diese »Signale« aus? Wir bedenken: Neef ist die Stimme seiner Herrn. Und er beweist die Aktualität des Dialog-Papiers. Worin bestand das damals Herausragende und heute zu Bedenkende?
- Das Dokument entstand als Dokument der SED, die in der sozialistischen DDR regierte, und der SPD, die in der imperialistischen BRD Opposition war.
- Es war die erste gemeinsame Erklärung der beiden Parteien seit der Spaltung der Arbeiterbewegung im ersten Weltkrieg.
- Gegenstand des »Dialog-Papiers« war die wichtigste Frage der Menschheit, die gemeinsame Sicherheit, die vom Atomkrieg bedroht war.
- Seit der Aufnahme beider deutscher Staaten in die UNO und der Helsinki-Konferenz verstärkten sich Elemente der Entspannungspolitik.
- Die SED setzte damit die Kette der Gesprächsangebote fort, die Walter Ulbricht am 27. April 1966 begründet hatte: »Wir betrachten die Diskussion mit der SPD nicht als eine Art Freistilringen im Schlammbad, bei dem jeder Griff erlaubt ist. Wir führen die Diskussion mit der SPD sachlich mit dem Ziel der Annäherung und Verständigung. Und dabei bleiben wir.«
Das »Dialog-Papier« enthält in fünf Abschnitten in Thesenform die Ziele und Grundsätze, zu denen sich beide Parteien bekannten. Auf der Grundlage der Erkenntnisse im Abschnitt I folgen im zweiten Abschnitt Vorschläge für den friedlichen Wettbewerb der Systeme, der ausschließlich mit friedlichen Mitteln ausgetragen werden darf. Aus heutiger Sicht mag es merkwürdig erscheinen, dass die folgenden drei Abschnitte sich mit der Kultur des politischen Streits und des Dialogs beschäftigen. Zunächst geht es um die Notwendigkeit des Dialogs, die sich aus bitteren geschichtlichen Erfahrungen ergeben, die Darstellung der entstandenen Lage und die Gegenüberstellung unterschiedlicher Standpunkte in wichtigen Fragen der Politik. »Es muss zum Normalfall werden, dass wir miteinander handeln, verhandeln und zusammenarbeiten, während wir gleichzeitig die offene und klare Kritik äußern können ...«
Die Verfasser des »Dialog-Papiers« einigten sich auf Grundregeln der Kultur des politischen Streits, die einschließen, darauf zu verzichten, Machtkon?ikte als Kämpfe zwischen Gut und Böse erscheinen zu lassen.
Niemand, der dreißig Jahre später die Weltpolitik betrachtet, wird behaupten, die Lage habe sich verbessert. Auch SPD-Politiker wie Steinmeier und Gabriel beklagen die Situation, aber wissen keinen Ausweg. War das »Dialog-Papier« ein Schritt auf einem Irrweg? Erhard Eppler, der im Wechsel mit Otto Reinhold die »Dialog-Kommission« leitete, erhielt im ND (26. August 1997) die Möglichkeit zum abschließenden Urteil: »Wenn dieses Papier dazu beigetragen hat, dass 1989 kein Blut geflossen ist – und das hat es wohl – dann war es richtig.« Welche Folgerungen wären dann für die Wertung der SPD erlaubt und vonnöten? Indessen lautet die aktuelle Frage: Wie gehen SPD und Linkspartei heute mit dem Vermächtnis des »Dialog-Papiers« um?