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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Der Rapallo-Komplex

Moritz Hieronymi, Brandenburg an der Havel

 

Die deutsche Delegation war nervös. Am Karfreitag des Jahres 1922 verbreitete sich auf der Konferenz von Genua das Gerücht, dass die Westmächte erstmalig deutschen Reparationszahlungen an die föderative Sowjetrepublik zustimmen würden. [1] Dabei sollte nach dem 1. Weltkrieg in Genua eine stabile europäische Wirtschaftsordnung verhandelt werden, welche im Gegensatz zum Vertrag von Versailles auch die Interessen des Deutschen Reichs und der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (RSFSR) berücksichtigen. Angestoßen vom deutschen Außenminister Walter Rathenau übernahm der britische Premier Lloyd George die Schirmherrschaft der Konferenz. [2]

Bereits im Januar hatte Premier George im Alliiertenrat eindrücklich auf die Verwerfungen der gesamteuropäischen Wirtschaftslage verwiesen. [3] Der einst höchstentwickelte Kontinent war verarmt und darbte vor sich hin. Insbesondere verhinderten multiple Problemlagen eine neue Prosperität: Durch den Versailler Vertrag, welcher die Nachkriegsordnung seit 1919 bestimmte, ist es zu teils gravierenden Grenzveränderungen in Europa und damit einhergehenden regionalen und ethnischen Konflikten gekommen. Das Deutsche Reich sollte als Feindesstaat kleingehalten und ein deutscher Wiederaufstieg mit entsprechenden Revanchegedanken um jeden Preis verhindert werden. Und im Osten hatte sich mit der RSFSR eine politische Macht gebildet, die für sich in Anspruch nahm, die alte politische und wirtschaftliche Ordnung hinwegzufegen.

In Angesicht dieser Situationen resümierte Lloyd Georg in seiner Unterhaus-Rede vom 3. April 1922 über die ökonomische Lage:

Hätten die europäischen Länder ihren durch Jahrhunderte von Industrie und Sparsamkeit angehäuften Reichtum zu einer Pyramide zusammengetragen und diese dann angezündet, hätte das Ergebnis kaum vollständiger sein können. [4]

Damit hatte der britische Premier auch insinuiert, dass die europäische Wirtschaft durch das Vertragsregime von Versailles sich nicht im gewünschten Maße entwickelt hatte. [5] Im Gegenteil: Der diskriminierende Ausschluss der RSFSR aus den Nachkriegsverhandlungen von 1919, die fehlende Organisierung des Wiederaufbaus und die faktische Agrarisierung des Deutschen Reichs durch Reparationszahlungen in Höhe von umgerechnet 7.000 Tonnen Gold [6] führten von der Depression zur Regression.

Die Ausgestoßenen

In der Nacht vom Ostersonnabend 1922 wurde Adolf Georg von Maltzan wegen eines Anrufs geweckt. [7] Am Ende der Leitung war Georgi Wassiljewitsch Tschitscherin, der sowjetische Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten. Er lud die deutsche Delegation für den nächsten Tag ins Gästehaus der sowjetischen Delegation im 30 Kilometer entfernten Rapallo ein. Nunmehr galt es, klug zu handeln. Seit 1919 hatten sich Berlin und Moskau schrittweise in militärischen und wirtschaftlichen Fragen angenähert. [8] Dieses hatte im politischen Establishment der Weimarer Republik zur Spaltung in zwei Lager geführt: Die sogenannten Ostler teilten die Position der Heeresleitung und suchten die Annäherung an Russland. Dagegen standen die Westler, zu denen anfangs Reichskanzler Wirth und Rathenau zählten, für die Westanbindung. Die Westler mussten resümieren, dass die Konferenz von Genua zu keinen fruchtbaren Ergebnissen führte. Der britische Premier schnitt die Deutschen und bezirzte die Russen.

Unter diesen Bedingungen machte sich die deutsche Delegation am Ostersonntag des Jahres 1922 auf den Weg nach Rapallo.

Deutsch-russischer Frieden

Seit der Annullierung des Friedens von Brest-Litowsk im November 1918 befanden sich die RSFSR und das Deutsche Reich formal im Krieg. Mit dem Vertrag von Rapallo wurden die bilateralen Beziehungen versittlicht. Daneben verzichteten beide Staaten auf Kriegsentschädigungen und implementierten das Prinzip der Meistbegünstigung in den zwischenstaatlichen Handelsbeziehungen. Den eigentlichen Coup stellte jedoch die beiderseitige diplomatische Anerkennung dar.

Mit dem Vertrag von Rapallo platzte die Konferenz von Genua. Mit welcher Zielsetzung George Lloyd nach Genua ging, ist aus heutiger Sicht schwer zu rekonstruieren: Die Einbindung des Deutschen Reichs hätte eine kapitalistische Front gegen die RSFSR konstituiert. Lenin sah im Rapallo-Vertrag eine gleichberechtigte Übereinkunft zwischen den Systemen: [9] Womöglich die Abwendung des US-amerikanischen und britischen Imperialismus von Russland?

Ein anderes Szenario [10] erscheint aus heutiger Sicht ebenfalls vorstellbar: Im Vorfeld von Genua schätzte Rathenau die Chancen für das Deutsche Reich als schlecht ein. Die USA hatten eine Teilnahme brüsk abgelehnt. Sie sahen in der Konferenz eine Neuaufstellung der alten europäischen Mächte gegenüber Russland. Auch Rathenau glaubte, dass Frankreich und Großbritannien die bolschewistische Regierung anerkennen würden. Dieses war in Anbetracht der wirtschaftlichen Reformen im sozialistischen Russland seit 1921 auch nicht abwegig. Das Prinzip der Neuen Ökonomischen Politik ließ beschränkt marktwirtschaftliche Mechanismen und ökonomische Eigenverantwortung zu. Dachte man vielleicht in London, dass die Öffnung der europäischen Wirtschaft für Moskau, kapitalistische Elemente befördern würde, die gar die Revolution obsolet gemacht hätten?

Doch das Auftreten der Briten war widersprüchlich und zögerlich:

Die Politik der Isolierung

Der Vertrag von Rapallo wurde möglich, weil sich beide Staaten in vergleichbaren Situationen befanden. Das Deutsche Reich galt als Verursacher des 1. Weltkrieges. Das sowjetische Russland hatte noch während des 1. Weltkrieges im Vertrag von Brest-Litowsk mit den Deutschen Frieden geschlossen. Während der Versailler Vertrag den Deutschen die wirtschaftliche und militärische Potenz (das Heer wurde auf 100.000 Mann begrenzt) nahm, war es der Cordon sanitaire für die junge Sowjetrepublik.

Ideengeber dieses Cordon sanitaire – frz.: Isolationsgebiete – war der französische Premier Georges Clemenceau, der sich weniger an medizinischen Metaphern orientierte als an der Geschichte des Römischen Altertums. So galt es limitrophe Staaten entlang des russischen Territoriums zu bilden, um eine Ausweitung der leninschen Revolution auf Westeuropa zu verhindern. [11] Limitrophus ist angelehnt an die römischen Provinzen entlang des Limes, der Grenzbefestigung zu den »Barbarenvölkern«. Hierfür wurden zwei Strategien verfolgt: Zum einen bildeten osteuropäische Staaten und Finnland ein »Verteidigungsbündnis«. Zum anderen sollten Gebietsteile Russlands, insbesondere die Ukraine und Belarus, herausgesprengt werden und sich dem Bündnis anschließen.[12] Aber auch die asiatischen Gebiete Russlands sollten den Moskauer Revolutionären strittig gemacht werden. General Koltschak kämpfte mit Unterstützung des Westens dafür. Wenngleich die Situation ab 1922 unter Kontrolle gebracht werden konnte [13], blieb die Sicherheit dieses riesigen Staates fragil.

Weniger aus freundschaftlichen Empfindungen, sondern aus Einsicht in die Notwendigkeit, suchten die einstigen Kriegsgegner die Kooperationen. Es war kein klassisches Bündnis, sondern die koordinierte Zusammenarbeit gegen Maßnahmen der westlichen Alliierten.

Fehler der Vergangenheit

»Russland darf nicht das Gefühl haben, dass es durch einen neuen Cordon sanitaire vom Westen getrennt wird.« [14], schrieb der einstige Berater von US-Präsidenten Jimmy Carter, Zbigniew Brzeziński, im Jahr 1992. Russland einen Platz in der internationalen Gemeinschaft zukommen zu lassen, welcher der Bedeutung dieses Landes entspräche, würde zugleich einen westlichen Einflussbereich bis an die russische Grenze gestatten, so der Glaube Brzezińskis.

Die NATO kam diesem Gedanken anfänglich nach [15]: Im Dezember 1991 gründete sich der Nordatlantische Kooperationsrat, welcher sechs Jahre später im Euro-Atlantischen Partnerschaftsrat aufging. Dieser Rat koordiniert nicht nur die militärischen Beziehungen zwischen der NATO, Russland, osteuropäischer und zentralasiatischer Staaten, sondern organisiert seit 1994 im Rahmen der Partnerschaft für den Frieden gemeinsameMilitärmanöver und Kooperationen auf dem Gebiet der Zivilverteidigung. Statt einer NATO-Mitgliedschaft sollte den ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten die Möglichkeit einer militärischen Zusammenarbeit mit dem Westen eröffnet werden, ohne die Interessen der Russischen Föderation zu übergehen. Denn Russland nimmt an dieser Zusammenarbeit selbst teil und wird entsprechend an Entscheidungen beteiligt. Gleichzeitig bestimmt sich die Intensität der Kooperation an dem Willen der beteiligten Staaten und wird nicht durch den Rat festgelegt.

Obgleich dieses System fortbesteht, hat sich die Strategie der NATO von einer »rücksichtsvollen Annäherung« zur Ausdehnung gewandelt. Spätestens seit 1999 erfolgte die gezielte Aufnahme osteuropäischer Staaten in die NATO und mithin die Überbetonung US-amerikanischer Interessen in Europa.

Der Vertrag von Rapallo heute

Rapallo ist für Linke der Ausgangspunkt der deutsch-sowjetischen Beziehung in Friedenszeiten. Dennoch wird vernachlässigt, dass dieser Vertrag weniger eine Liebesheirat als ein Zweckbündnis war. Besonders die objektiven Bedingungen, welche den Vertrag von Rapallo notwendig machten, sollten aufhorchen lassen: Das Fehlen einer zusammenhängenden und inklusiven europäischen Sicherheitsarchitektur konnte keinen kontinentalen Frieden erzeugen. Isolierungen und eine Mentalität der Abstrafung schafften Unsicherheiten und Misstrauen, welche durch Revanchegedanken komplettiert wurden. Wirtschaftlicher Niedergang wurde durch die Schaffung neuer Bündnisse aufgefangen, wodurch regionale Polaritäten und wiederum Rivalitäten befördert wurden.

100 Jahre Vertrag von Rapallo heißt 100 Jahre Fehleinschätzungen: Das Ungleichgewicht der Interessen führte zum Krieg – ein unendliches Pendel von Schlag und Gegenschlag folgte. Rapallo sollte uns lehren, dass nur eine an objektiven Bedingungen orientierte Außenpolitik ohne vorweggenommene Erwartungen nachhaltig und friedenssichernd sein kann.

Der Vertrag von Rapallo wurde formal-juristisch am 22. Juni 1941 mit dem Überfall auf die Sowjetunion annulliert.

 

Anmerkungen:

[1]  S. Haffner, Der Teufelspakt, S. 107.

[2]  Ibidem, S. 101 f.

[3]  J. S. Mills, The Genoa Conference, S. 9.

[4]  Ibidem, S. 10.

[5]  Vgl. ibidem, S. 12 ff.

[6]  Art. 235 Friedensvertrag von Versailles.

[7]  Haffner, a.a.O., S. 107.

[8]  B. Bowring: Yevgeniy Pashukanis, His Law and Marxism: A General Theory, and the 1922 Treaty of Rapallo between Soviet Russia and Germany, Journal of the History of International Law, Nr. 2 (2017), S. 274-295, S. 277.

[9]  LW, Bd. 33, S. 343.

[10]  Kabinette Wirth I/II, Bd. 2, Nr. 241 a, 5.4.1922, 2. Genua, abrufbar [20.3.22]:

www.bundesarchiv.de/aktenreichskanzlei/1919-1933/1100/wir/wir2p/kap1_1/kap2_5/para3_2.html#d8e62.

[11]  B. Hopper, The War For Eastern Europe, Foreign Affairs, Vol. 20 (Nr. 1) 1941, S. 18-29, S. 19 f.

[12]  J. D. Smele, Civil war in Siberia: the anti-Bolshevik government of Admiral Kolchak, 1918-1920, S. 305.

[13]  Fn. 8, S. 276 f.

[14]  Z. Brzeziński, The Cold War and Its Aftermath, Foreign Affairs, Vol. 71 (Nr. 4) 1992, S. 31-49, S. 49.

[15]  A. A. Sushentsov/W. C. Wohlforth, The tragedy of US-Russian relations: NATO centrality and the revisionist’ spital, International Politics, 2020, S. 427 - 450, S. 437.

 

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2022-03: Lücken in der linken Russlanddebatte

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