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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Der Nürnberger Ärzteprozess

Ralph Dobrawa, Gotha

 

Am 20. August 1947 wurde das Urteil verkündet

 

Über den Prozess gegen die Nürnberger Hauptkriegsverbrecher ist in den zurückliegenden Jahrzehnten sehr viel geschrieben worden, es gibt zahlreiche Dokumentationen und auch Verfilmungen. Weit weniger bekannt ist, dass ihm noch 12 Prozesse nachfolgten gegen Verantwortliche aus verschiedenen Bereichen des nazistischen Staates. Den Auftakt bilde­te das Verfahren gegen ehemalige KZ-Ärzte und Verantwortliche, die medizinische Verbre­chen begingen oder organisierten. Sie mussten sich vor einem amerikanischen Militärge­richt verantworten. Prozesseröffnung war am 9. Dezember 1946. An insgesamt 139 Ver­handlungstagen versuchte das Military Tribunal I die nicht nur in Konzentrationslagern be­gangenen Verbrechen auf medizinischer Ebene zu klä­ren. Es ging um Morde an Kranken, die der sogenannten Aktion T4 zum Opfer fielen, aber auch um schreckliche Menschenver­suche mit ebenfalls oft tödlichem Ausgang und grausa­mem Siechtum.

Mord nach Aktenlage

Weiterhin befasste sich das Gericht mit der an der Reichsuniversität Straßburg von dem dortigen Direktor des anatomischen Institutes, Professor August Hirt, angelegten »jüdi­schen Schädelsammlung«. Zu diesem Zweck wurden gezielt im KZ Auschwitz jüdische Häftlinge ausgesucht, »vermessen« und sodann in das KZ Natzweiler verbracht und dort getötet. Ursprünglich sollte das mit Blausäure erfolgen. Im Frühjahr 1943 wurde aber im KZ Natzweiler extra eine Gaskammer gebaut, in der etwa 100 jüdische KZ-Häftlinge umge­bracht wurden. Unter dem Deckmantel vermeintlicher Wissenschaft hatte Hirt erwirkt, dass Heinrich Himmler das Projekt unterstützte. In einem Brief vom 9. Februar 1942 schreibt Hirt an Himmler: »Nahezu von allen Rassen und Völkern sind umfangreiche Schä­delsammlungen vorhanden. Nur von den Juden stehen der Wissenschaft so wenig Schädel zur Verfügung, daß ihre Bearbeitung keine gesicherten Ergebnisse zuläßt. Der Krieg im Os­ten bietet uns jetzt Gelegenheit, diesem Mangel abzuhelfen. In den jüdisch-bolschewis­tischen Kommissaren, die ein widerliches, aber charakterisches Untermenschentum ver­körpern, haben wir die Möglichkeit, ein greifbares wissenschaftliches Dokument zu erwer­ben, indem wir uns ihre Schädel sichern.« 

Bei der Aktion T4 handelt es sich um die Kurzbezeichnung für den Sitz der Zentrale der Or­ganisation des Massenmordes an geistig Kranken und Behinderten in Berlin, Tiergarten­straße 4. Geschäftsführer dort war der Jurist Dietrich Allers, SA- und NSDAP-Mitglied. Zwi­schen 1939 und 1941 wurden Patienten in der Psychiatrie und Behinderte systematisch erfasst. Später entschieden angebliche ärztliche »Gutachter« nach »Aktenlage« über Leben und Tod dieser Menschen.

Allers wurde nach 179 Verhandlungstagen und Anhörung von 200 Zeugen durch Urteil des Landgerichts Frankfurt/Main vom 20. Dezember 1968 wegen Beihilfe zum Mord in min­destens 34.549 Fällen zu einer Freiheitsstrafe von 8 Jahren verurteilt, welches der Bundes­gerichtshof 1972 bestätigte. Ärztlicher Leiter der Aktion T4 war bis Ende 1941 Professor Werner Heyde, der nach Ende des 2. Weltkrieges nach seiner Verhaftung flüchten konnte und im Anschluss daran für 12 Jahre in der BRD untertauchte, obgleich er mit Kenntnis zahlreicher Personen unter dem alias-Namen Dr. Fritz Sawade in dieser Zeit nervenärztlich tätig war. 1962 wurde gegen ihn wegen des Vorwurfs der Tötung von 100.000 Menschen Anklage durch die Staatsanwaltschaft Frankfurt/M. erhoben. Fünf Tage vor Beginn der Hauptverhandlung im Februar 1964 entzog er sich durch Suizid seiner Verantwortung. In­teressant ist, dass dieser Mann einst durch die Verteidigung im Nürnberger Ärzteprozess als Entlastungszeuge benannt worden war, obgleich es zu seiner Einvernahme dort letztlich nicht kam.

In dem Nürnberger Ärzteprozess waren insgesamt 23 Personen angeklagt, darunter 20 KZ-Ärzte, zwei Verwaltungsorganisatoren und ein Jurist. Sämtliche Angeklagte bezeichneten sich bereits im Vorfeld als »nicht schuldig«. Unter ihnen war der Leibarzt Hitlers, Karl Brandt, der dem Verfahren auch seinen Namen gab (Vereinigte Staaten versus Karl Brandt et al). Er war Generalleutnant der Waffen-SS und zugleich Generalkommissar für das Sani­täts- und Gesundheitswesen. Hitler ermächtigte ihn bereits am 1. September 1939 neben seinem Reichsleiter Bouhler »… die Befugnisse namentlich zu bestimmender Ärzte so zu erweitern, dass nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken bei kritischster Beurtei­lung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod gewährt werden kann«. Es war die Ermäch­tigung und zugleich der Freibrief für die Durchführung der Aktion T4 im Rahmen der soge­nannten »Euthanasie«, die in verschiedenen Heil- und Pflegeanstalten durchgeführt wurde. Zu ihnen gehörten unter anderem Bernburg, Brandenburg, Sonnenstein und Hadamar. Zu­sätzlich unterstützte er medizinische Versuche an Menschen in Konzentrati­onslagern. Mehr als 100.000 behinderte Menschen fielen der Aktion T4 zum Opfer, dar­unter auch mindestens 5.000 Kinder.

Einer der Angeklagten im Ärzte­prozess war auch Viktor Brack, SS-Oberführer und einer der maßgeblich Verantwortlichen für die Euthanasieverbrechen. Er ge­hörte zu den vom Gericht später­hin zum Tode Verurteilten.

In dem Protokoll der Sitzung des Militärgerichtshofes vom 19. Au­gust 1947 heißt es: »Die Juden­verfolgung war bald nach Aus­bruch des zweiten Weltkrieges zur feststehenden Nazi-Politik geworden. Um das Jahr 1941 hatte die Verfolgung sowohl in Deutschland als auch in den besetzten Gebieten das Stadi­um der Ausrottung der Juden erreicht. Diese Tatsache wird von Brack selbst bestätigt, der aussagt, daß ihm von Himmler gesagt worden sei, daß er, Himmler, einen solchen persönli­chen Befehl von Hitler erhalten habe. Das Beweismate­rial zeigt, daß die für die sogenannte Euthanasie der Unheilbaren errichteten Stellen zur Durchführung dieses blutigen Pogroms eingesetzt wurden. Später wurde entschieden – wegen des dringenden Arbeiterbedarfs in Deutschland –, die arbeitsfähigen Juden nicht zu töten, sondern sie stattdessen zu sterili­sieren. Zu diesem Zweck wies Himmler Brack an, bei den Ärzten, die im Euthanasie-Pro­gramm tätig waren, nachzufragen über die Möglich­keit der Sterilisation von Personen ohne Kenntnis der Opfer. Brack bearbeitete diese Auf­gabe mit dem Ergebnis, daß er im März 1941 Himmler seinen unterzeichneten Bericht über Röntgen-Sterilisationsversuche an Menschen zugehen ließ. In dem Bericht wurde eine Methode vorgeschlagen, derzufolge Röntgenkastrationen an Gruppen von Leuten durchge­führt werden konnten, ohne daß letz­tere von dem Vorgang etwas merkten.« Am 11. August 1942 wies Himmler die Erprobung dieser Methode in mindestens einem KZ an.

Gerechte Sühne und Kalter Krieg

Das Gericht verkündete am 20. August 1947 sein Urteil. Sieben der 23 Angeklagten wur­den zum Tode verurteilt, fünf zu lebenslanger Haft und vier weitere zu zeitigen Freiheitss­trafen zwischen 10 und 20 Jahren. Sieben der Angeklagten wurden freigesprochen. Die Vollstreckung der Todesurteile erfolgte im Kriegsverbrechergefängnis Landsberg am 2. Juni 1948 durch den Strang. Bei den übrigen Verurteilten wurde späterhin leider eine Milde­rung der Strafen vorgenommen, was keineswegs auf für die Angeklagten günstigere Bewertun­gen der von ihnen begangenen Verbrechen zurückzuführen war, sondern auf den beginnen­den Kalten Krieg und der in der neu gegründeten Bundesrepublik einsetzenden Verklärung nazistischer Massenverbrechen. Der eingangs erwähnte August Hirt beging be­reits am 2. Juni 1945 Suizid und wurde dadurch nicht nur gar nicht erst angeklagt, sondern entzog sich auch seiner Verantwortung. KZ-Häftlinge dienten den SS-Ärzten bei Experi­menten wie Laborratten. Jegliche menschliche und medizinische Ethik war diesen Ärzten völlig fremd. Die von ihnen durchgeführten medizinischen Experimente erbrachten keinerlei Nut­zen und tru­gen nicht zur Bereicherung der medizinischen Wissenschaft bei. Sie be­schmutzten den medizinischen Ethos in unvorstellbarem Ausmaß und auf geradezu perver­se Weise. Um so befremdlicher ist es, dass viele der zu zeitigen Strafen Verurteilten in der ersten Hälfte der 1950er Jahre entlassen wurden und oft wieder eine Anstellung im Be­reich der Pharmain­dustrie oder in Krankenhäusern erhielten.

Nach Alexander Mitscherlich waren von den 90.000 im faschistischen deutschen Staat tä­tigen Ärzten etwa 350 in medizinische Verbrechen verstrickt. Nach dem Nürnberger Ärzte­prozess fand neben dem bereits erwähnten Euthanasie-Prozess gegen Allers und andere vor dem Landgericht Frankfurt/Main (1967/68) das Verfahren gegen Hefelmann und an­dere vor dem Landgericht Limburg statt, dem vorgeworfen wurde, an der Tötung von min­destens 70.000 Erwachsenen und 5.000 Kindern im Rahmen der »Euthanasie« beteiligt gewesen zu sein. Das Verfahren gegen ihn wurde 1964 zunächst vorläufig und 1972 end­gültig wegen Krankheit eingestellt. Er bezeichnete sein Handeln als »völlig legalen Verwal­tungsakt«. Auch im 1. und 2. Auschwitz-Prozess in Frankfurt/Main mussten sich ab 1963 verschiedene Ärzte und Angeklagte artverwandter medizinischer Berufe für ihre Mitwir­kung an der Ermordung einer Vielzahl von Häftlingen verantworten. In der DDR ist vor al­lem der 1966 vor dem Obersten Gericht geführte Prozess gegen den KZ-Arzt Horst Fischer bekannt, der zum Tode verurteilt wurde.

Friedrich Karl Kaul hat neben seiner anwaltlichen Tätigkeit und seinem engagierten Auftre­ten als Nebenklagevertreter in Prozessen gegen nazistische Gewaltverbrecher auch die Verbrechen von Ärzten während der Nazizeit untersucht. Seine Bücher »Ärzte in Auschwitz« (Berlin/DDR 1968) und »Nazimordaktion T4« (Berlin/DDR 1973) sind ebenso zur Vertiefung der Thematik zu empfehlen wie sein Aufsatz in der Zeitschrift für Ge­schichtswissenschaft 11/1968 über »Das ›SS-Ahnenerbe‹ und die ›jüdische Schädel­sammlung‹ an der ehemaligen ›Reichsuniversität Straßburg‹«. Auch seine Schlussvorträge im 1. und 2. Auschwitz-Prozess sowie im Verfahren gegen Vorberg und Allers sind erhalten geblieben und sehr lesenswert. In der BRD hat sich vor allem Ernst Klee durch seine zahl­reichen Veröffentlichungen zu den medizinischen Verbrechen während der Nazizeit ver­dient gemacht. Erschienen sind von ihm u.a. »Euthanasie im NS-Staat« (1985), »Auschwitz, die NS-Medizin und ihre Opfer« (2001) und »Was sie taten – was sie wurden: Ärzte, Juristen und andere Beteiligte am Kranken- oder Judenmord« (2004). Der bereits erwähnte Alexan­der Mitscherlich beobachtete einst im Auftrag von Ärztekammern den hier dargestellten Nürnberger Ärzteprozess. Seine Dokumentation des Verfahrens erschien unter dem Titel »Medizin ohne Menschlichkeit« (1949/60).