Der Markt ist ein Tiger, der den Dompteur fressen kann
Prof. Alexander Busgalin, Moskau
Entwicklung und Zerfall der UdSSR – Lehren für den Sozialismus der Zukunft
Die Erfahrungen der UdSSR fordern Antwort auf die Frage: Was war das überhaupt? Worin bestehen die Lehren dieses ersten weltweiten Versuchs? Liefert die Praxis der UdSSR die Antwort auf die Frage, ob ein künftiger Sozialismus möglich ist, eine Welt – demokratischer, effizienter, humaner und umweltorientierter als jene, in der wir heute leben?
Die Sowjetunion hat mit Erfolg einige Bereiche geschaffen, die der materiell-technischen Basis einer postkapitalistischen Gesellschaft entsprechen. Sie entwickelte vorwiegend jene Gebiete, die für den Sozialismus, eine fortschrittlichere Gesellschaft als der Kapitalismus, vonnöten sind. Dabei haben sowohl die positiven Züge der Praxis der UdSSR (allgemein zugängliche Bildung und Kultur) als auch ihre negativen Seiten (vorrangige Entwicklung der Hochtechnologien und des militärisch-industriellen Komplexes) die Möglichkeit aufgezeigt, daß postindustrielle Entwicklung auch in einer anderen Richtung möglich ist als im heutigen Spätkapitalismus.
Die neue Gesellschaft muß einen vom gegenwärtigen Kapitalismus unterschiedlichen Weg des Übergangs zu einer anderen Beschäftigungsstruktur (bei der nicht Transaktionen und Trugbilder, sondern die Entwicklung der Qualitäten des Menschen Vorrang haben), zu anderen Organisationsformen (allgemeiner Zugang zu Wissen, nicht dessen Privatisierung), zu anderen Zielen (Entwicklung der Persönlichkeit, nicht Profit) und folglich zu einem anderen Typ der postindustriellen Gesellschaft einschlagen. Die wirtschaftlichen, politischen und anderen Verhältnisse müssen so gestaltet werden, daß diese Aufgabe erfüllbar ist.
Umwandlung in starre, direktive Planung
Um keine andere Frage streiten Sozialisten heftiger als darum, wie der Markt genutzt werden kann und wie eine demokratische Planung aussehen soll. Erstens hat die Sowjetunion bewiesen, daß auch mit volkswirtschaftlicher Planung große strukturelle Veränderungen erreicht werden können. Der auf über 15 Jahre ausgelegte Plan der Elektrifizierung führte zu einem gewaltigen technologischen Sprung in diesem für die 20er Jahre fortgeschrittensten Bereich. Durch die planmäßige Konzentration der Ressourcen in den entscheidenden Zweigen entwickelte sich nicht nur der militärisch-industrielle Komplex in höherem Tempo, sondern auch Grundlagenforschung, Bildung und Kunst. Zweitens wurde in der UdSSR in der Zeit der Neuen Ökonomischen Politik (im Grunde erstmals in der Welt) ein Mechanismus geschaffen, der nicht nur den Markt, sondern die für jene Zeit fortgeschrittensten Formen des Spätkapitalismus wie ökonomisch selbstständig tätige Trusts und Syndikate nutzte. Diese entwickelten sich im Rahmen einer gesellschaftlich und staatlich kontrollierten indirekten Regulierung und einer langfristigen Programmen untergeordneten selektiven Regulierung. Stalin wandelte diese Politik nach und nach zu einer starren, rein direktiven Planung um. Der Markt wurde vollkommen abgeschafft, was vorwiegend negative Auswirkungen hatte.
In diesem Zusammenhang ist ein Wort zu dem nötig, was heute in China geschieht. Mir scheint, daß Chinas heutige Politik das exakte Gegenteil von dem darstellt, was Stalin tat. Der fürchtete den Markt, schaffte ihn deshalb ab und behielt nur einige Formen von Ware-Geld-Beziehungen bei. Das China Deng Xiaopings hat sich in den Markt verliebt und ist bereit, ihm seine Seele zu verkaufen. Deng Xiaoping hat einmal gesagt: "Ganz gleich, ob die Katze schwarz oder weiß ist, Hauptsache, sie fängt Mäuse." Es sei also gleich, ob der Wirtschaftsmechanismus "rot", "weiß" oder "schwarz", ob er sozialistisch oder kapitalistisch sei, Hauptsache, er führe zu einer effektiven Entwicklung der Wirtschaft. Bei einem Besuch in China habe ich eine andere Analogie vorgeschlagen. Ich denke, der Markt ist keine Katze, sondern ein Tiger. Der fängt nicht nur Mäuse, sondern er kann auch den Dompteur verschlingen, der ihn nutzen will. In China ist der Tiger Markt gerade dabei, den Dompteur – die sozialistischen Tendenzen – aufzufressen.
Der Markt ist kein neutraler Wirtschaftsmechanismus. Er ist ein System ökonomischer und gesellschaftlicher Beziehungen. Er gründet sich auf die Vereinzelung und Konkurrenz der Menschen. Er bringt unweigerlich eine gewaltige Differenzierung – das Wachstum der Bourgeoisie einerseits und der Lohnarbeit andererseits – hervor. Er verdrängt die sozialistische Orientierung auf die freie Entwicklung der Persönlichkeit und erzeugt statt dessen Entfremdung, Waren- und Geldfetischismus sowie Konsumdenken. Aus dem Markt ein rein sozialistisches Instrument der Entwicklung zu machen wäre so, als wolle man den Tiger zwingen, Gras zu fressen.
Was tun? Kommt es ohne den Markt zu Stalinschem Terror und mit dem Markt zu chinesischer Entartung? Rein abstrakt sehe ich folgenden Ausweg: Der Sozialismus kann und muß nach und nach eine bewußte Planung und Leitung entwickeln, indem er sich von einfachsten Formen der Rechnungsführung, Kontrolle und indirekten Regulierung zu langfristigen Plänen und Programmen bewegt. Zum Zweiten muß diese Planung und Leitung unbedingt demokratisch sein. Wenn man nicht in der Lage ist, eine demokratische, unbürokratische Planung und Leitung zu entwickeln, dann sollte man besser ganz darauf verzichten. Zum Dritten geht es nicht darum, einfach den Markt zu nutzen, sondern die entwickeltsten Formen der kapitalistischen Organisation, die man von ihrem kapitalistischen Inhalt (Lohnarbeit und privatkapitalistische Aneignung) befreit. Wenn man, zum Vierten, diese Formen nutzt, dann nur in dem Maße, wie effektivere Mittel der Planung und Leitung noch nicht vorhanden sind. Wenn durch bewußte Regulierung noch keine bessere wirtschaftliche Entwicklung als durch den Markt zu erreichen ist, dann bedeutet dies nur, daß die Zeit für die Einführung der Planung noch nicht gekommen ist. Wenn man aber, zum Fünften, den Markt nicht nach und nach durch bewußte Regulierung ablöst, dann wird man sich niemals in Richtung Sozialismus bewegen.
Die Nomenklatur war der wirkliche Herr
Der dritte Problemkreis ist die Eigentumsfrage. Die UdSSR hat bewiesen, daß man ohne Privateigentum leben und die Wirtschaft entwickeln kann. Zuvor erschien ein solcher Entwicklungsweg als absolut utopisch. Die Herrschaft des Staatseigentums in unserem Lande hat nicht nur Nomenklatur und Bürokratismus, sondern auch einige positive Ergebnisse hervorgebracht. Die sind allgemein bekannt: Die Sowjetunion hat ihre Sicherheit gewährleistet und in einem blutigen Krieg den Faschismus besiegt, was viele andere Staaten nicht vermochten. Für jeden Bürger (die Dissidenten vielleicht ausgenommen) gab es einen gesicherten Arbeitsplatz, Wohnung, Bildung und Gesundheitsfürsorge.
Aber diese Medaille hatte auch eine bestens bekannte Kehrseite: In dem Maße, wie sich das Stalin-System stärkte, war nicht mehr das Volk der wirkliche Herr des Landes, sondern die Nomenklatur – eine schmale Schicht von Bürokraten, die alle Befugnisse, die gesamte reale wirtschaftliche Macht in den Händen hielt. Die Bürger wurden von Eigentum, Leitung und Wirtschaftsmacht entfremdet. Wir alle wurden zu passiven "Kindern" eines strengen "Vaters" – der Partei- und Staatsbürokratie. Die Folge war passives Verhalten der Menschen, die sich an die staatliche Bevormundung gewöhnten. Sie büßten allmählich die Fähigkeit ein, gesellschaftliche Probleme selbstständig zu lösen und ihre Interessen zu verteidigen. Das war übrigens einer der Gründe dafür, weshalb wir den Zerfall der UdSSR, die barbarische Privatisierung mit all ihren Folgen im wesentlichen klaglos hinnahmen. Die Energie sozialen Schöpfertums erlosch in unserem Lande schließlich ganz. Das ist heute eines seiner schmerzlichsten Probleme.
Daraus leite ich die Lehre ab: Der Sozialismus entwickelt sich nur in dem Maße, wie sich gesellschaftliches, nicht staatsbürokratisches Eigentum entwickelt. Staatsbürokratisches Eigentum ist kein Sozialismus. Das ist die andere Seite der Medaille des Privateigentums. Marx nannte es "allgemeines Privateigentum". Gesellschaftliches unterscheidet sich von staatsbürokratischem Eigentum zum Ersten darin, daß das Privateigentum im Eigentum von Individuum und Gesellschaft aufgehoben wird, dem Eigentum eines jeden im Bereich von Kultur, Wissen und Information. Hier muß jeder Mensch Gelegenheit zu Betätigung und Entfaltung, Zugang zu wissenschaftlichen Kenntnissen und Programmen, Kunstwerken und neuen Technologien haben, der allein durch die Möglichkeiten seiner eigenen Persönlichkeit begrenzt wird. In der UdSSR waren alle diese Güter nicht nur unentgeltlich zu haben, sondern die Menschen wurden (durch Stipendien, Freizeit und soziale Vergünstigungen) geradezu stimuliert, sich Wissen und Güter der Kultur anzueignen.
In der materiellen Produktion und dem Bereich der Dienstleistungen kann und muß, zweitens, ein System vielfältiger Eigentumsformen erhalten bleiben. Staatliches Eigentum kann nicht nur von Gesellschaft und Bürokratie, sondern auch vom Kapital für seine Interessen genutzt werden. Daher ist hier die Hauptfrage nicht die Form des Eigentums, sondern sein Inhalt: Wer (die Zivilgesellschaft, die Bürokratie oder das Kapital) die Produktion in den staatlichen Unternehmen organisiert, wie man das tut (durch Selbstverwaltung der Belegschaften als Miteigentümer oder durch staatskapitalistische Ausbeutung von Lohnarbeit) und mit welchem Ziel (Profit oder Entwicklung des Menschen).
Genossenschaften ohne Bürokratie
Eine wichtige Eigentumsform des Sozialismus ist das genossenschaftliche Eigentum, das – hierin besteht eine wichtige Lehre aus den positiven und negativen Erfahrungen der UdSSR – gehegt und gepflegt werden kann und muß wie ein Garten, nicht aber mit bürokratischen Methoden eingeführt werden kann. Es muß von den einfachsten Formen der Absatz- und Konsumgenossenschaften bis hin zu Produktionskooperativen und vielen weiteren Formen einer "solidarischen Wirtschaft" wachsen. Und das in den verschiedensten Bereichen: in Industrie, Landwirtschaft und wissenschaftlicher Forschung.
Privateigentum ist in der Anfangsphase des Sozialismus möglich und nötig, aber nur, wenn es gesellschaftlich eingegrenzt und reguliert wird. In dieser Entwicklungsphase des Sozialismus kann und sollte "Unternehmertum mit sozialer Verantwortung" genutzt werden. Das können Privatbetriebe oder Aktiengesellschaften sein, in denen sich eine Sozialpartnerschaft von Arbeitgebern und Arbeitnehmern entwickelt, die Arbeiter an der Leitung beteiligt werden und die Unternehmer Verantwortung für die Lösung ökologischer und sozialer Probleme der Region übernehmen. Auch Kleinbetriebe können in der Anfangsphase des Sozialismus von Nutzen sein, aber unter der Voraussetzung, daß ihnen geholfen wird, sich zusammenzuschließen – weil sie ansonsten unter die Kontrolle der Mafia geraten.
Prof. Busgalin mahnt abschließend sehr eindringlich: "Zum Schluß möchte ich meine Leser aufrufen, Wiederholen Sie unsere Fehler nicht, vor allem nicht unsere Verbrechen!Sie sind uns und der ganzen Welt sehr teuer zu stehen gekommen. Finden Sie einen Weg, den wir nicht zu gehen vermochten. Aber mißachten Sie unsere Erfahrungen nicht. Man kann und soll uns sehr kritisch sehen, aber nicht so tun, als hätte es die über 70 Jahre UdSSR nicht gegeben, als seinen daraus keine Lehren zu ziehen."
Prof. Alexander Busgalin von der Moskauer Lomonossow-Universität hat sich wiederholt mit dem Scheitern der UdSSR befaßt und leitet daraus Lehren für den Sozialismus der Zukunft ab. Seine – gekürzt wiedergegebenen – Gedanken zur materiell-technischen Basis, dem Verhältnis von Plan und Markt wie dem Eigentum stammen aus einem viel umfänglicheren Aufsatz.
Übersetzung aus dem Russischen: Helmut Ettinger. Aus: "Neues Deutschland" vom 20. August 2011.