Der Krieg und die Liebe. Die Liebe und der Krieg.
Werner Wüste, Wandlitz
Ist ein stärkerer Gegensatz denkbar? Ein anderer Widerspruch einander so total ausschließender Seiten? Auf den ersten Blick ziemlich abstrakte Fragestellung. Auf den ersten Blick eben. Es lohnt, darüber nachzudenken. Denn Liebe bedeutet Leben; Krieg aber Tod.
Die ersten Jahre nach dem großen Krieg waren eine aufregende Zeit. Und bestimmt nicht nur für mich. Mein Vater hatte die Nazi-Haft überstanden. Mit seiner Rückkehr erschloss sich mir eine andere Welt, war ich stark motiviert besonders für antifaschistische Literatur; weil sie ihn betraf, also auch mich.
Ich erlebte die Liebe meiner Eltern, die annähernd zehn lange Jahre nur per Post stattfinden konnte und die von den mit der Zensur beauftragten Beamten beschnüffelt worden war.
Und es war da so mancher, der, »heim«gekehrt aus dem mörderischsten aller Kriege, seine Stimme erhob zur Anklage, zur Mahnung: Nie wieder! Nie wieder Krieg und Faschismus! Schriftsteller wie Wolfgang Borchert, Heinrich Böll und andere begründeten eine kurze deutsche Literaturepoche. Trümmerliteratur.
Heinrich Böll (1917-1985) schrieb 1952: Die ersten schriftstellerischen Versuche unserer Generation hat man als Trümmerliteratur bezeichnet. Wir haben uns gegen diese Bezeichnung nicht gewehrt, weil sie zu Recht bestand: tatsächlich, die Menschen, von denen wir schrieben, lebten in Trümmern, sie kamen aus dem Kriege, Männer und Frauen in gleichem Maße verletzt, auch Kinder ... Es war die Heimkehr aus einem Kriege, an dessen Ende kaum noch jemand hatte glauben können ...
Es ist unsere Aufgabe, daran zu erinnern, dass der Mensch nicht nur existiert, um verwaltet zu werden, (welch aktuelle Feststellung!) – und dass die Zerstörungen in unserer Welt nicht nur äußerer Art sind und nicht so geringfügiger Natur, dass man sich anmaßen könnte, sie in wenigen Jahren zu heilen ...
Wir haben keinen Grund, uns der Bezeichnung Trümmerliteratur zu schämen.
Trotzdem: Mir scheint, recht eilig wurde diese Bezeichnung eingeführt.
(Wikipedia bietet auch noch, in Klammern, Literatur der Stunde Null, Kriegs- oder Heimkehrerliteratur zu deren Bestimmung an.)
Sollte eventuell die m.E. präzisere, ihrem Wesen eher entsprechende Definition Antikriegsliteratur garnicht erst Fuß fassen? ... Das Leben hat mich misstrauisch gemacht, genauer: dessen letzte 25 Jahre. Und mein Misstrauen wurde mir, oft genug, in der Praxis bestätigt.
DRAUSSEN VOR DER TÜR – ein Titel, der schmerzt. Der das Ausgeschlossensein fühlen lässt. Ein Titel, der sich einem 15/16jährigen einprägen konnte. Hat er auch. Neben weiteren wie »Die Illegalen«, »Die Mörder sind unter uns«, »Die Jünger Jesu«, »Heimkehr in ein fremdes Land« ... und hier halte ich ein, misstrauisch auch dem eigenen Erinnerungsvermögen gegenüber: da mischt sich wohl schon Späteres mit Unmittelbarem.
DRAUSSEN VOR DER TÜR von Wolfgang Borchert.
Der Autor selbst stellt diesen Satz voran: Ein Stück, das kein Theater spielen und kein Publikum sehen will.
Borchert wurde nur 26 Jahre alt. Am Tage nach seinem Tod wurde sein Drama in Hamburg uraufgeführt. In seiner Geburtsstadt.
Heinrich Böll, der vier Jahre Ältere, der sich zu dem Begriff Trümmerliteratur bekannte, gab dem Rowohlt-Taschenbuch (1956) ein Nachwort. Daraus sei zitiert.
... die Briefe des zwanzigjährigen Soldaten Wolfgang Borchert waren als staatsgefährdend erkannt, Borchert war zum Tode verurteilt worden, und man ließ den Verurteilten sechs Wochen in der Zelle warten, ehe man ihn begnadigte. Zwanzig Jahrealt sein, sechs Wochen in einer Zelle hocken und wissen, daß man sterben soll, sterben einiger Briefe wegen, in denen man seine Meinung über Hitler und den Krieg geschrieben hatte! …
… Wolfgang Borchert war achtzehn Jahre alt, als der Krieg ausbrach, vierundzwanzig, als er zu Ende war. Krieg und Kerker hatten seine Gesundheit zerstört, das Übrige tat die Hungersnot der Nachkriegsjahre ... Zwei Jahre blieben ihm zum Schreiben, und er schrieb in diesen beiden Jahren, wie jemand im Wettlauf mit dem Tode schreibt; Wolfgang Borchert hatte keine Zeit, und er wußte es.
DRAUSSEN VOR DER TÜR. Die Personen des Stückes haben, mit einer Ausnahme, keine Namen. Sie heißen zum Beispiel der Andere, den jeder kennt; ein Mädchen, dessen Mann auf einem Bein nach Hause kommt; der Oberst, der sehr lustig ist; seine Frau, die es friert in ihrer warmen Stube; die Elbe ...
Nur einer hat einen merkbaren Namen. Beckmann. Ohne Vornamen.
Die »draußen vor der Tür« kommen millionenfach vor, tot oder lebendig-tot, traumatisiert, verkrüppelt.
Wie Böll sagte: Wolfgang Borchert hatte keine Zeit. Also schrie er. Expressiv. Expressionistisch.
DRAUSSEN VOR DER TÜR. Andeutungen widersprechen dem resignativen Gesamtcharakter des Stückes. Da ist zum Beispiel der bereits erwähnte ANDERE, vielleicht der Hauch einer Erinnerung an einen modernen, zeitgemäßen Mephisto.
»Der Andere? Welcher Andere? – Der von gestern. Der von früher. Der Andere von immer ... Und der – der von Stalingrad, der Andere, der bist du auch? – Der auch. Und auch der von heute abend. Ich bin auch der Andere von morgen ...
Und da ist die »2. Szene«: Ein Zimmer. Abends. Beckmann. Das Mädchen.
Das Mädchen hatte Beckmann aus dem Wasser gezogen, hatte ihm geholfen aufzustehen, was dem schwer gefallen war wegen seiner zertrümmerten Kniescheibe, hatte ihn einfach mitgenommen, gab ihm trockene Kleidung, nennt ihn Fisch.
Passen Ihnen denn wenigstens die Hosen? Na, es geht gerade. Da, nehmen Sie mal die Jacke.
...
Du musst nicht denken, dass ich über Dich lache, Fisch. Nein, Fisch, das tu ich nicht. Du siehst so wunderbar traurig aus, du armes, graues Gespenst: in der weiten Jacke, mit dem Haar und dem steifen Bein. Lass man, Fisch, lass man. Ich finde das nicht zum Lachen...Ich könnte heulen, wenn du mich ansiehst mit deinen trostlosen Augen. Du sagst gar nichts. Sag was, Fisch, bitte. Sag irgendwas. Es braucht keinen Sinn zu haben, aber sag was ... Sag was, dann ist man nicht so allein ... Bleib doch da nicht den ganzen Abend stehen. Komm. Setz dich. Hier, neben mich. Nicht so weit ab, Fisch. Du kannst ruhig näher rankommen ... Komm doch, mach meinetwegen die Augen zu. Komm und sag was, damit etwas da ist. Fühlst du nicht, wie grauenhaft still es ist?
Um auf den Titel zurück zu kommen: Liebe? Jedenfalls die Sehnsucht nach einem Menschen. Nach Wärme. Nach einem Wort. Nach Nähe. Immerhin die Sehnsucht nach Liebe.
Wenige Wochen vor seinem Tod schrieb Wolfgang Borchert, quasi wie eine Zusammenfassung seiner literarischen Arbeit:
… dann gibt es nur eins: Sag Nein!
Du Mann an der Maschine und Mann in der Werkstatt. Wenn sie dir morgen befehlen, du sollst keine Wasserrohre und keine Kochtöpfe mehr machen – sondern Stahlhelme und Maschinengewehre – dann gibt es nur eins: Sag NEIN!
...
Sagt NEIN! Mütter, sagt NEIN! Denn wenn Ihr nicht NEIN sagt, wenn IHR nicht nein sagt, Mütter ...
Heute würde eine bestimmte spezies von Kritikern einen solchen Text verächtlich Agitation nennen. Unwürdig eines Dichters, eines Künstlers. Um Gottes Willen nicht so direkt! Lieber verschlüsselt. Verschwommen. Unklar. Mehrdeutig.
Ja, ich räume ein: anfangs war ich skeptisch. Ist mein Titel nicht zu groß, zu anspruchsvoll, auch zu pathetisch? Dann fand ich Borcherts in seinem letzten Lebensjahr verfassten Text: DAS IST UNSER MANIFEST und mit ihm die volle Bestätigung; ein anderer Titel wäre quasi gar nicht denkbar.
Hier einige Sätze daraus:
… Männergesang, Soldatengegröl, sentimental und übermütig, männlich und baßkehlig, auch von den Jüngsten männlich gegrölt: Hört keiner den Schrei nach der Mutter? Den letzten Schrei des Abenteurers Mann?
… Wir brauchen keine wohltemperierten Klaviere mehr … Wir brauchen keine Dichter mit guter Grammatik ... Wir brauchen die mit dem heißen heiser geschluchzten Gefühl. Die zu Baum Baum und zu Weib Weib sagen und ja sagen und nein sagen: laut und deutlich und dreifach und ohne Konjunktiv.
… Horch hinein in den Tumult deiner Abgründe. Erschrickst du? Hörst du den Chaoschoral aus Mozartmelodien und Herms-Niel-Kantaten? Hörst du Hölderlin noch? Kennst du ihn wieder, blutberauscht, kostümiert und Arm in Arm mit Baldur von Schirach? [1]
… Und dafür, nein, dafür haben die Toten ihr Blut nicht in den Schnee laufen lassen, in den nasskalten Schnee ihr lebendiges mütterliches Blut: Dass dieselben Studienräte ihre Kinder nun benäseln, die schon die Väter so brav für den Krieg präparierten. (Zwischen Langemarck und Stalingrad lag nur eine Mathematikstunde.)
… Unser Manifest ist die Liebe. Wir wollen die Steine in den Städten lieben, unsere Steine, die die Sonne noch wärmt ... und die gelbwarmen Fenster mit den Rilkegedichten dahinter ... und die rattigen Keller mit den lilagehungerten Kindern darin ... und die Hütten aus Pappe und Holz, in denen die Menschen noch essen, noch schlafen. Und manchmal noch singen ... Und manchmal und manchmal noch lachen ... Doch, doch: Wir wollen in dieser wahnwitzigen Welt noch wieder, immer wieder lieben!
Postskriptum
Du wirst es bemerkt haben, lieber Leser, das ist ein spröder Stoff. Und ob und wie man sich die Position von Borchert, Böll und anderen Schriftstellern der sogenannten Trümmerliteratur erschließen kann, hängt sehr weitgehend von der eigenen ab. Von der eigenen Lebenserfahrung, mithin auch vom Lebensalter, von der Sozialisierung, von der eigenen Aufgeschlossenheit.
Es bestätigt sich hier ein wiederholtes Mal: Das Kunstwerk vollendet sich erst im Kopf des Lesers, des Betrachters.
Die sogenannte Trümmerliteratur stellt eine kurze Periode in der deutschen Literaturgeschichte dar. So unterschiedlich deren Autoren sind, der lebenserfahrene, vielleicht weil ältere Wolfgang Staudte, realistischer – der jüngere, eben »heim«gekehrte Wolfgang Borchert sehr emotional, expressionistisch – untereinander und mit uns sind sie vereint in der konsequenten, kompromisslosen Haltung gegen Krieg; ob aus christlicher oder kommunistischer Überzeugung, die ideell ohnehin dicht beieinander liegen.
Zuerst veröffentlicht in »Wir in Reinickendorf«, Juli/August 2015, Newsletter und Zeitung des Bezirksverbands von DIE LINKE in Berlin-Reinickendorf, Online-Ausgabe.
Wolfgang Borchert wurde vor 100 Jahren, am 20. Mai 1921, in Hamburg geboren.
Anmerkung:
[1] Für die jüngeren Leser, die diese Namen nicht mehr kennenlernten: Herms-Niel hat den Nazis Lieder gemacht, unter anderen »... wenn wir fahren gegen Engeland«. Baldur von Schirach war der sogenannte Reichsjugendführer.
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