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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Der gute Stern des Janusz K. (Auszug)

Gisela Karau (1932-2010)

Vor 70 Jahren, Anfang August 1942, begleitete der polnische Arzt, Schriftsteller und Pädagoge jüdischer Herkunft Janusz Korczak 200 Kinder aus dem von ihm gegründeten Warschauer Waisenhaus "Dom Sierot" in das Vernichtungslager Treblinka, obwohl das auch für ihn den Tod bedeutete. Am 5. August 1942 enden die Tagebuchaufzeichnungen des durch sein Engagement für Kinder bekannten Polen.

Ein anderes Schicksal stand einer Gruppe polnischer Jungen bevor – ebenfalls an die 200 Kinder –, die unter ähnlich grausamen Bedingungen im Jahre 1939 ihre Verschleppung ins Konzentrationslager Buchenwald überlebt hatten und dort durch die Hilfe deutscher und ausländischer Antifaschisten die Jahre bis zur Befreiung vom Faschismus überdauerten und schließlich gerettet werden konnten. Deren wahre Geschichte verarbeitete Gisela Karau in ihrem 1972 im Kinderbuchverlag Berlin erschienenen Buch mit dem Jungen Janusz Kowalski als eine der Hauptfiguren.

Von der Kraft tiefer Menschlichkeit in nahezu auswegloser Lage künden beide historische Begebenheiten.

Über den weiten Appellplatz fegt ein eisiger Wind. Ein Befehl gellt durch den Lautsprecher. Zwei Mann lösen sich aus den Reihen der angetretenen Häftlinge. Sie haben den Prügelbock herbeizuschaffen und ihn am Rand des Appellplatzes aufzustellen.

Der eine flüstert: "Da sind ja Kinder bei!" Schuldgefühl presst ihm die Brust zusammen. Wie sollen wir das jemals wiedergutmachen? Was geschieht alles im Namen Deutschlands!

Der andere rückt gleichmütig seine Mütze gerade, die ihm beim Laufen verrutscht ist. "Denen kannst du nicht helfen. Die verrecken hier wie alle anderen." Er hat schon so viele auf dem Prügelbock gesehen, ihre blutenden Wunden, ihre Schreie haben ihn bis in die Träume verfolgt – nun ist sein Gefühl abgestumpft.

Die Polen werden abgezählt, jeder zehnte muss die Hosen herunterlassen, wird auf den Bock geschnallt, dass sein Gesäß straff gespannt ist, und dann sausen Stockhiebe auf die platzende Haut. Entsetzt sieht Janusz, wie der lange, dünne Wojciech, dieser Unglücksmensch, zu dem Marterinstrument gezerrt wird, sich schreiend wehrt und doch dran glauben muss. Janusz hält sich Augen und Ohren zu. Aber es hilft nichts. Er weiß, auch ohne hinzusehen und hinzuhören, welche Qualen sein Kamerad erduldet.

"Verflucht!" Der Mann, der das Wort durch die zusammengepressten Lippen stößt, hat die Häftlingsnummer 5044. Es ist der Maurer Robert Siewert, seit einem Jahr in Buchenwald. Er trägt den roten Winkel der Politischen an Jacke und Hosenbein. "Verflucht, wir müssen was unternehmen!"

Sein Nachbar nickt. "Wir werden uns was einfallen lassen. Ich komm morgen zu dir auf die Baustelle."

Sie sind gewohnt, sich mit wenigen Worten zu verständigen, der 52-jährige Maurer Robert Siewert und der 44-jährige Rohrleger Albert Kuntz. Von ihren Gesichtern ist nicht abzulesen, was ihnen durch den Kopf geht, während sich die geschundenen Menschen vor ihnen auf dem Appellplatz nackend ausziehen müssen, kahl geschoren werden, in die Wanne mit der ekelhaft stinkenden, ätzenden Desinfektionslösung steigen, zähneklappernd zur Kleiderkammer traben.

Haben wir überhaupt so kleine Jacken und Hosen, überlegt Robert, als sein Blick den Kindern folgt. Und was für Schuhzeug werden sie bekommen? Holzklotzen. Man kann darin nicht gehen, geschweige denn rennen. Sie scheuern die Füße wund, und man verliert sie. Aber ein Häftling muss immerzu rennen, bei der Arbeit, beim Essenholen, zum Appell oder einfach nur, weil es der SS Spaß macht.

"Wir müssen helfen!" sagt er. (...)

Albert ist bereits am Schuppen. Als Verantwortlicher des Baubüros für die Verlegung der Wasserleitungsrohre hat er Fragen an den Kapo Siewert. Rein technische, versteht sich.

Nachdem er sich vergewissert hat, dass niemand ihnen gefolgt ist, fragt er: "Nimmst du die Jungs in dein Kommando?" Und er fügt hinzu: "Du hast schon viele hier zu brauchbaren Bauarbeitern ausgebildet. Wir müssen den Jungs die Chance geben."

Albert versteht, dass Robert nicht gleich ja sagt. Wenn es Erwachsene wären. Aber Kinder, unterernährte Kinder, verängstigte kleine Jungen? Geht das überhaupt?

Er deutet das Schweigen seines Kameraden falsch. Robert ist nur überrascht, dass sie beide auf den gleichen Gedanken gekommen sind. Es macht ihn froh, dass seine Methode, Menschenleben zu retten, das Einverständnis und die Anerkennung der illegalen Leitung findet. Die Idee ist aus der Not geboren. Und sie bewährt sich.

"Ich spreche mit dem Lagerführer"‚ sagt er. "Mal sehen, wie ich ihm das beibringe."

"Du machst das schon." Albert zieht zwei Stückchen Speckschwarte aus der Tasche, und sie kauen genussvoll darauf herum.

"Halt ihm die Arbeitskräftelage vor. Da sind die Burschen empfindlich."

Albert geht, wie er gekommen ist, unauffällig, ohne große Worte. (...)

Robert spricht mit den Jungen über das Mauern im Verband. Er zeichnet einen Schnittverband an die Tafel und fährt mit dem Finger über eine Linie: "Seht ihr, die Fuge muss durch das ganze Mauerwerk laufen."

Schüchtern hebt ein Junge die Hand. Robert macht große Augen: Das hat es noch nicht gegeben. Einer meldet sich. "Warum heißt das Verband? Ich denke, Verband kann man am Kopf haben oder am Bein. Wo es weh tut. Entschuldigen Sie, ich verstehe nicht."

"Was will er?" tuschelt Andrzej.

Janusz winkt ab. "Wichtig tun will er sich."

Robert freut sich über die Frage. "Viele Wörter haben einen doppelten und einen dreifachen Sinn"‚ erklärt er. "Das Wort Verband kommt von verbinden. Man kann Wunden verbinden, da hast du recht." Er zögert. Dann fährt er entschlossen fort: "Auch Menschen können sich miteinander verbinden. Das heißt, sie vereinen ihre Kräfte, um ein gemeinsames Ziel zu erreichen. Im Verband ist man immer stärker als allein, besonders unter Druck, unter Belastung."

Rasch verlässt er das gefährliche Pflaster wieder: "Heute geht es uns um die verschiedenen Arten von Verbänden beim Mauern. Da gibt es den Blockverband, den Kreuzverband, der märkischen Verband, den polnischen Verband ..."

War da nicht ein Gesicht am Fenster? Janusz glaubt eine SS-Mütze gesehen zu haben. Er hält den Atem an. Wirklich, die Klinke wird leise heruntergedrückt, und im Türrahmen steht breitbeinig der Oberscharführer. Robert hat nichts bemerkt. Er wendet ihm den Rücken zu und zeichnet etwas an die Tafel.

Wie kann man ihn warnen? Einen Baustein werfen?

Zu spät. Der SS-Mann stößt einen Pfiff durch die Zähne. Robert fährt herum. Die Überraschung ist Oberscharführer Schmidt gelungen. "Ich habe alles gehört, du Schwein"‚ sagt er strahlend. "Jetzt geht’s dir an den Kragen, Kapo."

"Was habe ich denn gesagt?" Robert macht ein harmloses Gesicht. Sein Herz schlägt wie ein Dampfhammer gegen die Rippen.

"Das weißt du genausogut wie ich. Mir machst du nichts vor. Ich erstatte Meldung!" Und raus ist er.

Robert kennt ihn. Das ist einer, der sich einen Spaß daraus macht, Menschen zu quälen, besonders Juden.

Der Lagerlautsprecher dröhnt: "Siewert zum Lagerführer! Siewert sofort zum Lagerführer!"

Robert bemüht sich, ruhig zu bleiben. "Keine Aufregung, Jungs, ich bin bald wieder hier." Er setzt die runde Mütze auf und geht mit steifen Knien aus der Baracke.

"Bist du noch nicht hier, Siewert?" schreit es aus dem Lautsprecher. "Sollen wir dich holen?"

Robert läuft schneller. Die letzten Meter bis zum Tor rennt er. Atemlos steht er vor dem löwenfüßigen Schreibtisch stramm. Der Sturrnbannführer dreht einen Brieföffner in der Hand, tritt nahe an Robert heran und setzt die Spitze an seine Kehle. "Na, geht dir die Muffe?"

Robert schluckt. "Ich habe mir nichts vorzuwerfen, Herr Sturmbannführer."

"So? Der reinste Unschuldsengel. Ich werd Ihnen was sagen: Sie spielen mit ihrem Kopf." Schobert zieht den Brieföffner zurück. Plötzlich brüllt er: "Was machen Sie mit den Polenlümmeln für Schulung? Mir ist gemeldet worden, dass Sie dort politische Reden halten!"

Was kann der Schmidt gehört haben? Robert überlegt blitzschnell. "Ich werde mich hüten, politische Reden zu halten, Herr Sturmbannführer. Davon verstehen die Jungs doch gar nichts."

Der Lagerführer stutzt. Da ist was dran. "Sie haben von Verbänden gesprochen, unter anderem vom polnischen Verband. Oberscharführer Schmidt hat es mit eigenen Ohren gehört."

Der Druck in Roberts Kopf lässt nach. "Das stimmt, von Verbänden habe ich gesprochen." Er lächelt unwillkürlich.

"Da grinsen Sie noch? Sie wissen ganz genau, dass Sie hier über Organisationen nicht zu sprechen haben." Die erste Wut des Sturmbannführers ist verraucht. Er kann in Roberts Gesicht keine Spur von Unsicherheit entdecken. "Ich muss Sie bestrafen", erklärt er.

"Verstehen Sie was vom Bau, Herr Sturmbannführer?"

"Dazu habe ich meine Leute"‚ erwidert Schobert.

"Dann bitte ich darum, den Bauführer zu rufen"‚ sagt Robert fest. "Ich habe Fachausdrücke erklärt. Die Jungs müssen lernen, im Verband zu mauern. Das gehört zur Ausbildung."

Schobert spricht ins Mikrofon: "Bauführer Becker zu mir!"

Becker kommt angespritzt. Sonderurlaub? Beförderung?

Bloß Siewert. Der Kapo steht vor dem Schreibtisch des Sturmbannführers wie eine Eins. Und Becker soll etwas über Verbände erzählen. Schön blöd, der Schobert. Hat sich reinlegen lassen von dem Schmidt, dem Stinktier. Siewert wird sich eins feixen. Das weiß doch jeder Wasserträger auf dem Bau, was ein polnischer Verband ist. Jaja, der Herr Sturmbannführer. Wenn er seine Fachleute nicht hätte, würde er baden gehen. Der Bauführer zählt alle Verbände auf, die es beim Mauern gibt.

Schobert winkt ab. "Danke, Sie können gehen, Bauführer", und zu Robert, der seine Augen auf das Fensterkreuz geheftet hat, "Sie auch, Siewert. Aber lassen Sie sich das eine Warnung sein. Wir passen auf."

"Das weiß ich, Herr Sturmbannführer." Robert baut ein Männchen und denkt: ich auch.

Als er in die Unterrichtsbaracke zurückkommt, geht ein Aufatmen durch den Raum. Robert ist einen Augenblick überwältigt von der Erkenntnis, diese polnischen Kinder haben um mich, den deutschen Kapo, gebangt.

Quelle: Gisela Karau: Der gute Stern des Janusz K., Eine Jugend in Buchenwald, Verlag 1900, Roman, Ausgabe Oktober 1994, Mit einem Nachwort der Autorin (1994), Seiten 11/12, 15/16, 30-32.