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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Der Grundcharakter bleibt erhalten

Wulf Kleus, Düsseldorf

Bereits wenige Tage nach Veröffentlichung des Programmentwurfs im März 2010 empörte sich das Establishment. Unzählige Kommentare und Leitartikel in den Mainstream-Medien zerrissen den Entwurf der Programmkommission. Aber auch prominente Mitglieder der Partei, vornehmlich aus dem Umkreis des Forums demokratischer Sozialismus (fds), beteiligten sich an diesem Zerriß. Die Angriffe zielten dabei vor allem auf den antikapitalistischen Charakter des Entwurfs. Auf dem Berliner Landesparteitag im April 2010 antwortete Klaus Lederer auf die von ihm selbst aufgeworfene Frage, ob der Entwurf Ausstrahlungskraft besäße und zur gesellschaftlichen Mobilisierung anrege, folgendes: "Ich meine, er leistet das in seiner grundsätzlichen Diktion nicht. Das beginnt schon bei der Situationsbeschreibung." Es folgte seine massive Polemik gegen die im Entwurf formulierte Analyse des Kapitalismus. Klaus Lederer kritisierte vor allem, daß der Entwurf vom Kapitalismus eine "Horrorwelt" zeichne, die von einigen hundert Unternehmen und Individuen beherrscht werde und sich am Abgrund befände und er kam zu dem Ergebnis: "Ist das eine überzeugende, lebenswirkliche Darstellung unserer Verhältnisse? Ich denke, daß das mit der Lebenswelt vieler Menschen und auch mit der Sicht auf die Welt, bei allen Problemen, nicht viel zu tun hat …". Und Stefan Liebich und Inga Nitz schrieben zum Programmentwurf: "Problematisch wird es dann, wenn die Beschreibung in einem solchen Maß vereinfacht wird, daß sie nicht mehr mit dem Erfahrungswissen von größeren Wählerschichten übereinstimmt oder in der Konsequenz Veränderungspotentiale in der Gegenwart unberücksichtigt gelassen werden. Der Programmentwurf skizziert geradezu ein Horrorszenario der Welt, in dem einige Konzerne herrschen, Demokratie verhindern, Staaten Kriege um Absatzmärkte führen." In zahlreichen Stellungnahmen und Interviews von fds-Vertretern wurde immer wieder deutlich, daß sie vor allem mit der Beschreibung der herrschenden Verhältnisse nicht einverstanden waren und diesbezüglich grundlegende Änderungen einforderten. Das fds konnte dem Kapitalismus vielmehr "zahlreiche fortschrittliche Elemente" abgewinnen.

Delegitimierung des Kapitalismus

Der Kapitalismus ist allerdings in Wirklichkeit noch verkommener und zerstörerischer als im Programmentwurf beschrieben. Rund 400 Millionen Menschen litten vor 40 Jahren weltweit an anhaltender chronischer Unterernährung, heute sind über eine Milliarde von Unterernährung betroffen. Zehntausende sterben täglich den Hungertod – nicht zuletzt deshalb, weil die Spekulation um Nahrungsmittel gesunde und ausreichende Ernährung für immer mehr Menschen unerschwinglich macht. In Anbetracht dieser unerträglichen Entwicklung darf es nicht zur Aufgabe der LINKEN werden, dem Kapitalismus fortschrittliche Tendenzen anzudichten und ihn schönzureden.

Während die Leichenberge und das Elend in den ärmsten Teilen der Welt immer größer werden, stapelt sich das Vermögen von wenigen Superreichen, und große Konzerne fahren gigantische Gewinne ein. Und auch die innovativen Fähigkeiten des gegenwärtigen Wirtschaftssystems, die von Schönrednern des Kapitalismus immer wieder als dessen Vorzüge gepriesen werden, dienen vorrangig den Interessen der oberen Zehntausend. Denken wir hierbei nur an die hochentwickelte Rüstungsproduktion.

Angesichts dieser Verhältnisse wäre es sicherlich verfehlt zu behaupten, die im Entwurf versuchte Kapitalismusanalyse spiegele eins zu eins die Wirklichkeit wider und sei durch und durch marxistisch. Zu den großen Vorzügen des Programmentwurfs gehörte es aber, daß dieser den Kapitalismus nicht schönredete, sondern zu seiner Delegitimierung mit beitrug und deutlich machte, daß er überwunden werden muß. Dies war wohl einer der maßgeblichen Gründe dafür, daß der Entwurf in der Vergangenheit so massiv angegriffen wurde.

Das Programm nach der Überarbeitung

Jene in unserer Partei, die am liebsten bereits 2013 mit der SPD oder den Grünen auf Bundesebene regieren wollen, verfügen in der Partei über großen Einfluß, den sie in der bisherigen Programmdebatte geltend gemacht haben und ihn wohl auch in Zukunft geltend machen werden. Wer von der LINKEN daher etwa in puncto Kapitalismusanalyse erwartet, diese müsse vollständig marxistischen Ansprüchen genügen, der verkennt die pluralistische Verfaßtheit der Partei. Wir dürfen uns keinen Illusionen über die innerparteilichen Kräfteverhältnisse hingeben. Dies erfordert von uns die Bereitschaft, auch Kompromisse einzugehen, soweit sie die Grundlinie des Programmes bewahren helfen und nicht die Identität der Partei als soziale und antikapitalistische Kraft in Frage stellen. Insbesondere an den friedenspolitischen Prinzipien darf es keinerlei Abstriche geben.

Anfang Mai befaßte sich die Redaktionskommission mit den zahlreichen Änderungsanträgen. Die Einschätzung im Neuen Deutschland, daß der von der Redaktionskommission überarbeitete Programmvorschlag "Ergänzungen und neue Gewichtungen enthalte, die vom Bemühen um mehr Präzision zeugen", aber "schroffe Kurswechsel gegenüber dem ersten Entwurf" schwer zu finden seien [Uwe Kalbe, Neues Deutschland vom 19. Mai 2011], ist sicher zutreffend. Auch nach der Sitzung des Parteivorstandes am 22. Mai, die sich mit der weiteren Überarbeitung des Programmentwurfs beschäftigte, ist trotz der eingegangenen Kompromisse "der Grundcharakter des Programmentwurfs (…) nicht schlechter" geworden [Christine Buchholz, "Es gibt weder Sieger noch Besiegte", Interview mit junge Welt vom 24. Mai 2011.], so Christine Buchholz, Mitglied des Parteivorstandes. Vor allem ist es ein Erfolg, daß die Kapitalismusanalyse im überarbeiteten Programmentwurf nur wenig an Schärfe verloren hat. Die taz meinte gar, der Tonfall sei "noch immer finster-klassenkämpferisch". Geändert hat sich im Wesentlichen, daß die neue Programmversion thematisch breiter ist als die Ursprungsfassung. So ist beispielsweise eine ganze Passage über den ökologischen Umbau neu eingefügt worden.

An der Ablehnung von Kampfeinsätzen der Bundeswehr hält auch der neue Programmvorschlag fest. Stefan Liebich und das fds hatten zuvor ganz massiv dafür geworben, im Programmentwurf die Einzelfallprüfung für Militäreinsätze aufzunehmen und damit das unmißverständliche Nein zu Kampfeinsätzen zu kippen. Daß ihnen das bis heute – auch nach Überarbeitung des Entwurfs – nicht gelungen ist, ist vor allem ein Verdienst vieler Mitglieder und Basisorganisationen der Partei, die sich in zahlreichen Zuschriften an die Redaktionskommission und auf Programmveranstaltungen für den Erhalt der friedenspolitischen Grundsätze eingesetzt haben. Dieser Einsatz hat sich gelohnt. Auch die Forderung nach Auflösung der NATO steht nach wie vor im Programmentwurf. Positiv zu werten ist auch, daß die Rolle der Europäischen Union nunmehr differenzierter und kritischer beschrieben wird als in der Ursprungsfassung, wenngleich hier eine noch deutlichere Kritik wünschenswert gewesen wäre.

Ganz massiv hatten fds-Vertreter auch die weitgehenden Eigentumsforderungen des ursprünglichen Programmentwurfs kritisiert. Aber auch diese sind dem Wesen nach erhalten geblieben. Der in den Medien vielfach zitierte und im Programm neu eingefügte Satz, daß "allumfassendes Staatseigentum" nicht das Ziel der LINKEN sei, ändert daran nichts grundlegend, zumal es ohnehin nie Position der LINKEN war, jedes einzelne Kleinunternehmen zu verstaatlichen.

Der Geschichtsteil war bereits in der alten Programmfassung stark von Kompromissen geprägt. Nicht alles, was im überarbeiteten Entwurf formuliert ist, wird der Erfahrungswelt vieler Genossen – vor allem in Ostdeutschland – gerecht. Allerdings bleibt die bisherige differenzierte Sichtweise auf die Geschichte im Grunde erhalten. Die Überarbeitung des Entwurfs hat sowohl Verbesserungen als auch Verschlechterungen gebracht. Zu Ersteren zählen die stärkere Würdigung der Leistung der Sowjetunion bei der Zerschlagung des Faschismus wie auch die Erwähnung, daß die Antikriegshaltung zur Staatsräson der DDR gehörte. Allerdings heißt es nun auch, daß "ein staatlicher Überwachungsapparat gegen die eigene Bevölkerung” aufgebaut wurde.

Insbesondere im Geschichtsteil wird es auch im weiteren Verlauf der Programmdebatte nötig sein, die differenzierte Sichtweise im Grundsatz zu erhalten, denn hier werden Vertreter des fds wohl weiterhin versuchen, eine Komplettabgrenzung zum gewesenen Sozialismus durchzusetzen. Über sehr verschiedene Präambelvarianten, die auch Bezug zur Geschichte nehmen, soll auf der nächsten Vorstandssitzung im Juli beraten werden.

Rote Haltelinien wurden abgeschwächt

Zu den zentralen Auseinandersetzungen gehörte auch der Streit um die Mindestbedingungen für Regierungsbeteiligungen. Mehrere fds-Vertreter hatten ganz massiv versucht, die roten Haltelinien ganz aus dem Programm herauszustreichen. Im Alternativentwurf von Raju Sharma und Halina Wawzyniak beispielsweise hatten sich die Haltelinien de facto erledigt. Dennoch blieb auch hier vieles von der ersten Programmversion erhalten. Die Neuerung besteht vor allem darin, daß eine der insgesamt vier Haltelinien ersetzt wurde. Diese Ersetzung betrifft die Frage des Personalabbaus. Statt der Formulierung, daß sich die LINKE "an keiner Regierung beteiligen [wird], die Privatisierungen vornimmt, Sozial- oder Arbeitsplatzabbau betreibt. Darüber hinaus wird sich die LINKE (…) nicht an einer Regierung beteiligen, die Kriege führt und Kampfeinsätze der Bundeswehr im Ausland zuläßt, die Aufrüstung und Militarisierung vorantreibt" heißt es in der neuen Version: "An einer Regierung, die Kriege führt und Kampfeinsätze der Bundeswehr im Ausland zuläßt, die Aufrüstung und Militarisierung vorantreibt, die Privatisierungen der Daseinsvorsorge oder Sozialabbau betreibt, deren Politik die Aufgabenerfüllung des Öffentlichen Dienstes verschlechtert, werden wir uns nicht beteiligen". Sicher war die ursprüngliche Passage besser als die neue, entscheidend ist allerdings, daß die Übernahme von Regierungsverantwortung an Bedingungen geknüpft bleibt, die die Identität unserer Partei bewahren helfen. Und – auch das sei gesagt – auch die entschärften Haltelinien stellen im Vergleich zu den Programmatischen Eckpunkten einen erheblichen Fortschritt dar. Dort waren die Mindestvoraussetzungen für Regierungsbeteiligungen nämlich nur sehr schwammig formuliert und ließen erheblichen Spielraum für unterschiedliche Interpretationen.

Wem die neue Formulierung zu den Haltelinien zu wenig ist, dem bleibt selbstverständlich die Möglichkeit vorbehalten, entsprechende Änderungsanträge auf dem Programmparteitag im Oktober zu stellen. Allerdings wäre es ein schwerwiegender Fehler, die entschärfte Fassung zu den Haltelinien als Begründung zu nehmen, um die überarbeitete Programmversion in Gänze in Frage zu stellen. Wir sollten denen, die vorhaben, auch den neuen Programmvorschlag zu beerdigen, weil er bedingungsloses Regieren nicht zuläßt und weil er ihnen zu antikapitalistisch ist, nicht den Gefallen tun, den Entwurf von links zu zerreden.

Bremer Wahl - Rückenwind für eine erfolgreiche Programmdebatte

Die Bremer Bürgerschaftswahl war sicher auch mit Blick auf die Programmdebatte von Bedeutung. Ein Nichteinzug hätte die Personalauseinandersetzungen innerhalb der Partei wohl erneut und in deutlich verschärfter Form aufflammen lassen und vor allem jene in der Partei gestärkt, die der LINKEN eine komplett andere politische Ausrichtung aufnötigen wollen. Dies wäre nicht ohne Auswirkungen auf den weiteren Verlauf der Programmdebatte geblieben.

Zwar verlor die Bremer LINKE Wählerstimmen, schaffte aber mit 5,6 Prozent klar den Wiedereinzug in das Landesparlament. Die Gründe dafür, daß die LINKE in Bremen Wählerstimmen verloren hat, sind vielfältig. Sicher hat die noch immer aktuelle Atomkatastrophe in Japan Einfluß auf das Wählerverhalten gehabt. Ein nicht unwesentlicher Grund für die verlorenen Wählerstimmen bei der LINKEN dürften aber die seit Jahren andauernden heftigen Auseinandersetzungen innerhalb des Bremer Landesverbandes samt Aus- und Rücktrittsskandalen gewesen sein, die die Politik der Bremer LINKEN gelähmt und wohl so manchen früheren Wähler enttäuscht und verschreckt haben.

Nichtsdestotrotz ist der Wiedereinzug in die Bremer Bürgerschaft eine weitere wichtige Etappe, um die Programmdebatte zu einem erfolgreichen Abschluß zu bringen.

Gute Voraussetzungen für einen erfolgreichen Programmparteitag

Die Beibehaltung des grundlegenden Kurses des Entwurfs entspricht – dies konnte man auf vielen Programmveranstaltungen und anhand zahlreicher Wortmeldungen seit Beginn der Programmdebatte erleben – dem vorherrschenden Meinungsbild in der Parteibasis.

Daß die Kerninhalte des Entwurfs bis jetzt im Großen und Ganzen erhalten geblieben sind, daß man sich im Parteivorstand in den zentralen Fragen, die besonders strittig waren, mit deutlichen Mehrheiten auf gemeinsame Formulierungen verständigen konnte und zahlreiche Änderungsanträge, die auf Präzisierung und Ergänzung orientiert waren, übernommen hat, erhöht die Chancen, auf dem Programmparteitag ein Grundsatzprogramm zu beschließen, welches das unverwechselbare Profil der Partei als antikapitalistische, soziale und friedenspolitische Kraft verdeutlicht.

Sicher wird es noch Veränderungen auf der Vorstandssitzung Anfang Juli und Änderungsanträge beim Programmparteitag im Oktober geben, die linke Akzente setzen und den Programmantrag des Parteivorstandes qualifizieren sollen. Die Hauptaufgabe wird allerdings darin bestehen bleiben, die antikapitalistische Grundlinie des Programmvorschlags einschließlich der friedenspolitischen Prinzipien gegen Angriffe des Reformer-Flügels zu verteidigen. Dies kann letztlich nur erreicht werden, wenn es gelingt, daß der neue Programmvorschlag nicht zwischen den verschiedenen Strömungen und Zusammenschlüssen zerrieben und die Parteibasis dazu motiviert wird, sich weiterhin aktiv für den Erhalt der neuen Programmversion samt seiner Kerninhalte einzusetzen.

Die Initiatoren und Erstunterzeichner haben die Unterschriftensammlung unter den Offenen Brief "Jegliche programmatische Anpassung wäre von Übel" abgeschlossen und den Brief dem Parteivorstand und der Redaktionsgruppe vor der Vorstandssitzung vom 21. bis 23. Mai zugesandt – mit 1.204 Unterschriften aus allen Bundesländern.