Der feindliche Aufmarsch - Nachdenken über den Faschismus
Professor Werner Mittenzwei zum 85. Geburtstag am 7. August 2012
Auszug aus: Werner Mittenzwei, Das Leben des Bertolt Brecht Oder Der Umgang mit den Welträtseln, Erster Band, Aufbau Verlag, 1. Auflage 1986 (S. 440-443, dort findet man auch die Anmerkungen zu allen Zitaten).
… Neben dem Typus des politischen Zuhälters gab es unter den Faschisten auch den des fanatisierten Kleinbürgers. Er brachte jene demütigende Opferbereitschaft, jene militante Entschlossenheit auf, die aus der Übertragung sozialer Beweggründe ins Nationale gespeist wurde. Für Brecht war dieser Typus zu borniert, zu abgrundtief dumm, als dass er ihn zum Gegenstand einer differenzierten Gestaltung oder Analyse gemacht hätte. Aber er war eine politische Realität, denn sonst wäre es den Faschisten nicht möglich gewesen, dem Volke jahrelang die größten Opfer abzuverlangen. Eine solche Haltung spricht zum Beispiel aus einem Brief, gerichtet an den damaligen SA-Führer Gregor Strasser: "Ich habe in meiner Arbeit für die N.S.D.A.P. mehr als dreißigmal vor Gericht gestanden und bin achtmal wegen Körperverletzung, Widerstandsleistung und ähnlicher für einen Nazi selbstverständlicher Delikte vorbestraft. An der Abbezahlung der Geldstrafen trage ich heute noch und habe zudem noch weitere Verfahren laufen. Ich bin ferner mindestens zwanzigmal mehr oder weniger schwer verletzt worden. Ich trage Messerstichnarben am Hinterkopf, an der linken Schulter, der Unterlippe, an der rechten Backenseite, an der linken Oberlippe und am rechten Oberarm. Ich habe ferner noch nie einen Pfennig Parteigeld beansprucht oder bekommen, habe aber selbst ungezähltes Geld für meine Ortsgruppe und meine S.-A. geopfert. Ich habe auf Kosten meines mir von meinem Vater hinterlassenen guten Geschäftes meine Zeit unserer Bewegung geopfert. Ich stehe heute vor dem wirtschaftlichen Ruin ..." Auf eine solche Verblendung pflegte Brecht fast ausschließlich satirisch zu reagieren. Was diese Leute zu einem derartigen Fanatismus trieb, interessierte ihn kaum. Soviel Verständnis er für den Proleten aufbrachte, der der wirtschaftlichen Misere erlag und zu allem bereit war, wenn ihm jemand "ein Plätzlein an der Sonn" versprach, so wenig konnte er sich in jene hineindenken, bei denen das Nationale eine irrationale Besessenheit und Hoffnungsgläubigkeit angenommen hatte.
Charakteristisch für die Denkweise Brechts ist, dass er sich im Unterschied zu anderen fortschrittlichen Intellektuellen von Anfang an mehr für die objektiven als für die subjektiven Faktoren des aufkommenden Faschismus interessierte. Gerade aber nach den objektiven Faktoren wurde unter den Schriftstellern und Künstlern wenig gefragt. Man machte sich Gedanken, woran es lag, dass Hitler mit einer derart primitiven Ideologie die Massen zu hypnotisieren vermochte, welche Ideale und idealistischen Denkgewohnheiten er missbrauchte. Darüber gab es Diskussionen. Brechts Nachdenken über den Faschismus verlief in anderen Bahnen. In einer kleinen, Fragment gebliebenen Skizze von 1929 versuchte er erstmals Klarheit über das Wesen des Faschismus zu gewinnen. "Man kommt dem Wesen des Faschismus nicht mit staatsrechtlichen Sophistereien nahe. Jede Argumentation, die von einem derartigen Blickpunkt aus vorgenommen wird, lässt einen gewaltigen Rest ungelöst, der sich nicht mit ideologischer Analyse auflösen lässt. Sie bleibt sinnlos und muss so lange sinnlos bleiben, wie man sich dazu versteht, den Staat als die Verwirklichung einer sittlichen Idee aufzufassen."
Nicht in verwerflichen deutschen Denktraditionen, nicht in einem unerklärlichen Hang zum Irrationalismus sah er den Ausgangspunkt der faschistischen Bewegung, sondern in der Krisensituation des monopolistischen Kapitalismus. "Und wie sich in der Epoche des Konkurrenzkapitalismus die demokratische Staatsform als diejenige erwies, die am zweckmäßigsten die Anwendung dieses Klassenkampfinstruments gewährleistete, so zeigt sich nun, dass der Übergang zum Trustkapitalismus notwendig seinen Ausdruck in einer veränderten Staatsform finden muss. Und das ist der Faschismus, ein Staats- und Wirtschaftssystem, dessen ideologische Komponenten ebenso kompliziert und untergründig sind, wie sein praktisches Ziel als gegeben feststeht. Ein System, das den Staat negiert, um an seine Stelle den nebelhaften Begriff einer 'Wirtschaft' zu setzen, unter deren Zwang sich alles Geschehen innerhalb des Staates zu beugen habe. Eine Konstruktion, die vom Staate nicht mehr als von der Verwirklichung einer sittlichen Idee spricht, sondern die im Staat und durch den Staat organisierte Wirtschaft als die 'sittliche'."
Diese Selbstverständigung über die Ursachen der faschistischen Bewegung bestimmte in den folgenden Jahren seine Arbeiten zum Thema Faschismus. Die frühen Notierungen wiesen darauf hin, dass er sich vorerst publizistisch, in theoretischen und polemischen Artikeln, mit dem Faschismus auseinandersetzen wollte, noch nicht aber in größeren literarischen Werken. Ihm lag an einem schnellen, operativen Eingreifen. Unter dem 9. November 1931 notierte Brecht den Vorschlag, eine "Zeitschrift zur Klärung der faschistischen Argumente und der Gegenargumente" zu gründen. Wie stets blieb er nicht lange beim Allgemeinen stehen und lieferte gleich den Entwurf. Er enthielt eine Aufstellung der Themen, die ihm vordringlich erschienen. Hinter jedem Themenkomplex stand bereits der Name des heranzuziehenden Spezialisten, oft waren es auch mehrere, mit Adresse und Telefonnummer. Bis auf Bernard von Brentano wählte Brecht keine Personen aus seinem Freundeskreis, sondern solche, die ihm im politischen Leben mit Meinungen zu bestimmten Fragen aufgefallen waren oder die man ihm empfohlen hatte. Für den Themenkomplex Nationalismus, Staat, Nation schlug er Harro Schulze-Boysen und Engelbert Brödler vor, für Diktatur- und Demokratiefragen Braun, für Rassenfragen und Verhüllungsideologie Horst von Hartlieb, für Kulturpolitik und Frauenfragen Grete Stein und Martin Hörz. Das ganze Unternehmen wollte er so organisiert wissen, dass eine Gruppe sorgsam die Hauptargumente der Faschisten herauspräparierte und Belege sammelte, während eine andere Gruppe die Gegenargumente formulierte. Die einzelnen Arbeitsschritte ordnete er pädagogisch sehr überlegt an. Nicht die pauschale Zurückweisung, nicht die allgemeine ideologische Verdammung, sondern scharfsinnige politische Analyse sollte demonstriert werden, die enthüllte und bloßstellte. Ein Arsenal der Vernunftgründe' der objektiven Beweise gedachte er gegen die politische Phrase aufzubauen. So sollte untersucht werden: "warum ist der NS kein sozialismus?" Ob die Führer der Nazis "unabhängig" seien, stellte er als Frage."
Es ging ihm um die Klärung von Problemen, die von den Faschisten demagogisch benutzt wurden. Die Ideen, die Brecht für dieses Zeitschriftenprojekt entwickelte, baute er im Exil weiter aus und ordnete sie in eine größere Konzeption ein.