Der Fall Calas und die Toleranz
Horsta Krum, Berlin
Voltaire hatte sich nach Ferney an die Schweizer Grenze zurückgezogen, weit weg von der turbulenten Hauptstadt. Dort hatte er den Hass der »allein seligmachenden Kirche« und des »allerchristlichen Königs« besonders gespürt. Auch wollte er in Ruhe arbeiten – was aber nicht gelang. Besucher kamen von weither, sodass Voltaire in Ferney »das geistige Zentrum der Welt«[1] wurde. Er stand im Briefwechsel mit bekannten Persönlichkeiten, unter ihnen Preußenkönig Friedrich II. und die russische Zarin Katharina. Auch fühlte er sich mit 64 Jahren krank und es beruhigte ihn, dass nun der Arzt seines Vertrauens in der Nähe war.
Mitte März 1762 erreichte ihn die Nachricht, dass im südfranzösischen Toulouse der protestantische Baumwollhändler Jean Calas grausam gefoltert und hingerichtet worden sei, obwohl ihm eine Schuld nicht habe nachgewiesen werden können. Sein Leben lang hatte Voltaire gegen die Macht und die Willkür der katholischen Kirche gekämpft. Trotzdem fühlte er sich nicht zum Protestantismus hingezogen. Dessen Kunstfeindlichkeit und engstirniger Moralismus waren ihm zuwider. Er ließ sich informieren: Am Oktober 1761 abends entdeckt die Familie Calas, dass sich der älteste Sohn, 29-jährig, erhängt hat. Anwesend sind die Eltern, die Hausangestellte, der zweitälteste Sohn Pierre, sein Freund Gaubert Lavaysse (auf der Durchreise). Alle sind entsetzt und fassungslos. Der Vater ruft nach einem Arzt und der Polizei. Aber vorher lässt er sich helfen, den Leichnam loszubinden; denn Selbstmörder werden an den Füßen gefesselt, nackt durch die Stadt geschleift, an den Galgen gehängt und dann auf dem Schindanger verscharrt. Die Mutter schreit, Nachbarn laufen herbei, schon werden erste Vorwürfe gegen die Familie laut; denn die und ihr junger Gast gehören zur kleinen, protestantischen Minderheit. Allerdings sind die Eltern katholisch getraut, haben ihre sechs Kinder katholisch taufen lassen, ihre Hausangestellte ist katholisch – das alles entsprach der damaligen »Normalität«.
Der älteste Sohn hatte vor zwei Jahren sein Jura-Studium abgeschlossen. Um als Anwalt zugelassen zu werden, brauchte er ein Gutachten des katholischen Gemeindepfarrers, was eine Formalität hätte sein können. Da aber eine anonyme Denunziation die Familie Calas als uneinsichtige Protestanten verleumdete, erhielt der Sohn das Gutachten nicht, konnte also keinen juristischen Beruf ergreifen. Dies mag der Hauptgrund seiner tiefen Verzweiflung gewesen sein. Da nun die Anwesenden Suizid zurückwiesen, war die Todesursache ungeklärt, und die fünf zur Todeszeit anwesenden Personen wurden verhaftet. Auch ihre folgenden Aussagen blieben unklar. So forderten die dreizehn zuständigen Richter Zeugenaussagen durch ein »Memorandum«, das sie den katholischen Gemeinden der Stadt schickten. Die allermeisten »Zeugenaussagen« beschuldigten die Familie: beispielsweise habe der Sohn zum Katholizismus übertreten wollen; dem sei die Familie durch Mord zuvorgekommen. Überdies sei Lavaysse zur Mordtat extra angereist. Da half auch das Verhör der katholischen Hausangestellten nicht, die über die Familie Calas nur Gutes aussagte.
Die ersten Beratungen des Toulouser Gerichts waren Mitte Dezember abgeschlossen: Folter für die Eltern und Pierre, um sie zu einem Geständnis zu bewegen; der Hausangestellten und Lavaysse sollten nur die Folterwerkzeuge gezeigt werden. Die Verteidiger sahen sich mit so vielen Schwierigkeiten konfrontiert, dass sie nichts ausrichten konnten. Die beiden Töchter wurden in ein Kloster gebracht. Nach Anfechtung des Urteils durch den königlichen Prokurator war nun das nächsthöhere Toulouser Gericht zuständig. Ihm lagen beeindruckende Verteidigungsschriften vor, beispielsweise vom Vater des jungen Lavaysse, einem angesehenen Anwalt. Beim ersten Mal stimmten sechs der dreizehn Richter für Freispruch, sieben für das Todesurteil, für das aber acht Stimmen nötig gewesen wären. Während der zweiten Abstimmung änderte ein Richter sein Votum, sodass acht Stimmen folgendes Urteil ergaben: für die Hausangestellte lebenslange Haft, für Anne-Rose Calas, Pierre und Lavaysse den Tod am Galgen, für den Hauptangeklagten Jean Calas die grausamste Strafe: Er wird auf das Rad gebunden und zwei Stunden lang gefoltert. Trotz des erhofften Geständnisses beteuert er vor Gott, dass er und seine Familie unschuldig seien. Dann wird er erhängt und auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Sein Tod beeindruckt die Richter so sehr, dass sie Pierre aus der Stadt verbannen und die übrigen Angeklagten freisprechen. Die Konfiszierung des Familienvermögens machen sie nicht rückgängig, sodass Anne-Rose Calas völlig mittellos ist. Pierre wird gefesselt vor die Stadt gebracht, dann in ein Kloster geführt, wo er alle Riten mitmachen muss als Sühne für seinen unbußfertigen Vater. Ihm gelingt die Flucht nach Genf, wohin sich auch der jüngste Bruder geflüchtet hat. Beide begeben sich nach Ferney – zu Voltaire.
In Toulouse herrschte ein besonders radikaler Katholizismus, bei dem die Toulouser Bruderschaft der »weißen Büßer« den Ton angab. Beispielsweise wurde jedes Jahr das Massaker an viertausend Protestanten gefeiert, die 1562 in dieser Stadt umkamen – zehn Jahre vor der berüchtigten Pariser Bluthochzeit. Zum 200-jährigen Jubiläum des Massakers erklärten die »weißen Büßer« den Sohn Calas zum Märtyrer des wahren, des katholischen Glaubens. In einem großartig hergerichteten Sarg trugen sie ihn feierlich durch die Stadt, begleitet von Weihrauch, Gesängen und Ritualen. Die Bevölkerung war hingerissen von diesem Schauspiel, berichtete von Erleuchtungen, Wundern – die Kirche als »Hegerin und Beschützerin finsteren Aberglaubens«.[2]
Nachdem Voltaire sich von der Unschuld der Familie Calas überzeugt hat, engagiert er sich: Er schreibt Briefe im Namen der Kinder und der Witwe, wendet sich an einflussreiche Juristen, bezahlt juristische Gutachten, doch die erhoffte Wirkung bleibt aus. Dann aber, nach der Exekution des Jean Calas und zwei anderen, ähnlich skandalösen Urteilen, erregt Voltaire immer mehr öffentliche Aufmerksamkeit. Mit allen Mitteln, die er hat, auch mit seiner Schrift über die Toleranz und seinen Beiträgen zum Philosophischen Wörterbuch, macht er aus dem Einzelfall Calas eine Staatsaffäre und greift das französische Rechtssystem an, das mit einer einzigen Stimme Mehrheit einen unschuldigen Menschen sterben lässt, was anderswo unmöglich ist und auch zu anderen Zeiten unmöglich war.
Anmerkungen:
[1] Lion Feuchtwanger, Die Füchse im Weinberg, Berlin und Weimar 1987 (1. Auflage 1947), S. 595.
[2] Ebd., S. 208.
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