Der Euro krankt an neoliberaler Politik
Prof. Dr. Christa Luft, Berlin
Am 12. Oktober 1993 billigte nach anhängiger Klage das Bundesverfassungsgericht den Maastricht-Vertrag. Benannt nach der niederländischen Kleinstadt, in der seine Unterzeichnung am 7. Februar 1992 stattgefunden hatte, bildete er die Grundlage für die Schaffung einer europäischen Währungsunion. Jahrzehnte schon war in politischen Zirkeln zwecks Vollendung des Gemeinsamen Europäischen Marktes über ein einheitliches Geld debattiert worden. Ausgelöst durch die deutsch-deutsche Vereinigung wurde aus einer Idee plötzlich Realität. Frankreichs Präsident Mitterand verlangte für sein "Ja" zu der erwartbaren wirtschaftlichen Gewichtszunahme des Nachbarn und einer Verschiebung der politischen Kräftebalance in Europa eine Art Kompensation: den Verzicht der vergrößerten Bundesrepublik auf die harte deutsche Mark zugunsten einer Gemeinschaftswährung, des Euro. Die D-Mark war mit der ihr de facto zugewachsenen Leitwährungsrolle der Grande Nation immer mehr zu einem Ärgernis geworden. Bundeskanzler Kohl strebte seinerseits mit einem gemeinsamen Geld die unumkehrbare Einbindung des vereinten Landes in Europa an. Die Währungsunion sollte ein Wohlstands- und Friedensprojekt werden und - wenn auch so nicht offen deklariert - zugleich ein Gegengewicht zu den konkurrierenden Währungsräumen Nordamerika und Südostasien bilden.
Defizite und Divergenzen
Von Anfang an war die Gemeinschaftswährung ein politisches Projekt ohne angemessenes ökonomisches Fundament. Diesen Defekt quittierte die damalige PDS-Fraktion bei der Abstimmung über das Vertragswerk im Bundestag mit dem Slogan "Euro ja, aber so nicht!" Kritisiert wurde, dass die Aufnahme eines Landes in den Euro-Club einzig von monetären Kriterien abhängig gemacht werden sollte: Jährliches Staatsdefizit unter drei Prozent und Schuldenstandsquote unter 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts sowie jährliche Inflationsrate etwa bei zwei Prozent. Typisch neoliberal wurde gemeinsames Geld kreiert, ohne für die beitrittswilligen Länder verbindliche realwirtschaftliche Parameter zu fixieren. Produktivitätsentwicklung, Innovationsfähigkeit des Landes, Arbeitslosenrate, Leistungsbilanzsaldo spielten keine Rolle. Für die Beurteilung der Wettbewerbspotenziale eines Landes sind aber gerade sie entscheidend.
Dass die Beitrittskandidaten realwirtschaftlich zum Teil große Divergenzen aufwiesen, war bekannt. Es galt aber - wiederum neoliberal - die Devise: Die Unterschiede wird der Markt ausgleichen. Demgemäß wurde auf eine gemeinsame Wirtschafts-, Steuer- und Fiskalpolitik sowie eine koordinierte Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik mit abgestimmten Mindeststandards verzichtet. Ebenso fehlen vertragliche Festlegungen zum Umgang mit Ländern, denen die Zahlungsunfähigkeit droht. Dass ein europäisches kapitalistisches Land pleite gehen könnte, galt damals als undenkbar. Seit Ausbruch der globalen Finanzkrise 2008 gerieten mehrere Euro-Länder, allen voran Griechenland (dessen Aufnahme in den Club auf von der amerikanischen Bank Goldman Sachs manipulierten Bilanzen basierte), in solch akute Gefahr. Nur durch immer höhere Kreditsummen der Euro-Zone, sprich der Steuerzahlenden und des Internationalen Währungsfonds, konnte bisher die Pleite Hellas und auch anderer Länder verhindert werden. Dabei waren die "Rettungsgelder" keine Geschenke, sondern mit drastischen Auflagen für Sozialausgabenkürzung und Privatisierung öffentlichen Vermögens verbunden. Ergebnis: Die Wirtschaft schrumpft, Steuereinnahmen sinken, die Arbeitslosigkeit explodiert, vor allem junge Menschen befinden sich in aussichtsloser Lage und verlassen ihre Heimat, da sie dort keine Perspektive sehen. Bei den Menschen der Krisenländer ist die sogenannte Hilfe nicht angekommen. Gerettet wurden die Großbanken. Deren Gläubiger blieben geschont.
Aktuell wird viel über einen neuen Finanzierungsbedarf Griechenlands diskutiert. Nichts jedoch hört man aus deutschen Regierungskreisen zu der Frage, wer bisher von den Hilfen der Steuerzahler profitiert hat und was unternommen werden soll, um die Besitzer großer Vermögen in den Krisenländern an der Finanzierung der Kosten zu beteiligen. Kein Wunder, dass der Unmut über das Krisenmanagement und die Ratlosigkeit über den weiter zu beschreitenden Weg wachsen.
Die schwerwiegenden Konstruktionsfehler der Europäischen Währungsunion und die verheerenden Folgen neoliberaler Euro-"Rettungspolitik" sind unter Linken nicht strittig. Niemand aber kann mit Gewissheit sagen, ob die Gemeinschaftswährung überleben oder die Euro-Zone durch Ausstieg einiger von der Krise besonders betroffener südeuropäischer Länder auseinanderbrechen bzw. komplett zerfallen wird. In der jüngsten Zeit auch im linken Lager angestellte Überlegungen zu denkbaren Auswegen sollten aber berücksichtigen, dass Geldfragen nicht nur in Wissenschaft und Wirtschaft von Interesse sind, sondern den Nerv breiter Bevölkerungsschichten berühren. Deshalb dürfen von Ökonomen und Politikern geführte Debatten weder Illusionen schüren, noch Verunsicherung, ja Beunruhigung stiften. Und sie dürfen nicht ausklammern, dass nicht nur weitere Stabilisierungsbemühungen, sondern auch Ausstiegspfade schmerzhaft und mit nicht kalkulierbaren Belastungen verbunden wären.
Ohne Illusionen gegen Neoliberalismus
Illusionen weckt die Annahme, mit einem "kontrollierten" Ausstieg zum Beispiel Griechenlands oder auch Deutschlands aus dem Euro und der Rückkehr zu nationalen Währungen käme man den Krisenursachen leichter bei als in einer Union von 17 Ländern. Nichts wäre damit an der vorherrschenden neoliberalen Politik, an den Verteilungs- und politischen Machtverhältnissen geändert. Nichts würde die Wiedereinführung nationaler Währungen an den weltweit aufgeblähten, spekulationstreibenden, Krisen generierenden Finanzvermögen ändern. Etwa 200 Billionen US-Dollar suchen gegenwärtig profitabelste Anlage. Ob dieser Moloch sich bei einem Auseinanderbrechen der Euro-Zone leichter bändigen ließe als bei hartnäckigen Bemühungen um gebündelte Anstrengungen, darf bezweifelt werden. Der Neoliberalismus hatte seinen vermeintlichen Siegeszug schon vor der Einführung des Euro begonnen und würde seine Wirkungsmacht mit dessen Auseinanderbrechen nicht automatisch verlieren.
Häufig heißt es, die Rückkehr zu eigenem Geld würde den südeuropäischen Krisenländern die Chance zur exportverbilligenden Währungsabwertung und damit zur Generierung zusätzlicher Einnahmen bieten. Theoretisch stimmt das. Was aber soll zum Beispiel Griechenland in überschaubarer Zeit praktisch mehr exportieren, selbst wenn es billiger anbietet? Die bitter nötige Strukturveränderung in der Wirtschaft, die Erhöhung ihrer Produktivität als Voraussetzung für die nachhaltige Kostenreduzierung statt abwertungsbasierter Angebotspreissenkung ist damit nicht auf den Weg gebracht, ebenso nicht die Abstellung von gravierenden Mängeln beim Steuereinzug und überhaupt in der staatlichen Verwaltung, ebenso nicht die Kürzung des Rüstungshaushalts. Auch würden sich dringende Importe an Grundstoffen, Hochtechnologien, auch Konsumgütern deutlich verteuern. Es käme zu einer importierten Inflation, die letztlich ähnliche Reallohnsenkungen bewirkt wie die von den "Rettern" diktierten Sparprogramme. Eine Abwertung löst auch das Schuldenproblem nicht, es sei denn, sie könnte mit einem drastischen Schuldenschnitt verbunden werden. Das wiederum dürfte heftige Konflikte mit den Ländern hervorrufen, die hohe ausstehende Forderungen haben und zu einem Absturz der gesamten Euro-Zone mit Einkommensverlusten der Bevölkerung und steigender Arbeitslosigkeit führen.
In Deutschland würde eine Rückkehr zur D-Mark deren starke Aufwertung bewirken. Die Folge wären massive Forderungen aus der deutschen Wirtschaft nach "alternativloser" Lohnzurückhaltung, um einer Exportverteuerung entgegenzuwirken. Eine kapitalhörige deutsche Regierung würde dem Lohn- und Sozialdumping als beliebtem neoliberalem Wettbewerbsfaktor mit einer "Agenda"-Neuauflage Vorschub leisten, die die Agenda 2010 in den Schatten stellen könnte.
Zu wenig im Blick ist bisher bei den Befürwortern der Währungsrenationalisierung, was der Ausstieg aus dem Gemeinschaftsgeld für die Lösung von Jahrhundertaufgaben in Europa bedeutet: für die gemeinsame Hinwendung zu erneuerbaren Energien, für entschiedene Fortschritte beim Klimaschutz, für die Schaffung existenzsichernder Beschäftigung, die Drosselung der Überakkumulation von Kapital, die Regulierung der Finanzmärkte, den Stopp des weiteren Verfalls demokratischer Beteiligung usw. Solche Aufgaben lassen sich in einem vereinten Europa besser angehen als in einem durch Finanzkrise und Abwertungsraserei gespaltenen und zerrütteten Europa.
Aus der Kritik an den Defiziten des Maastricht-Vertrags folgt daher nicht der Ausstieg aus dem Euro, sondern der Einstieg in eine wirtschafts-, finanz- und sozialpolitisch komplettierte Währungsunion. Notwendig sind auf den Aufbau zukunftsfähiger Wirtschaftsstrukturen gerichtete Investitions- und Qualifizierungsprogramme, die Zügelung der Finanzmärkte, die Ausweitung der Binnenökonomie in Ländern mit einseitig hoher Exportorientierung wie in Deutschland, die Fixierung von Obergrenzen für Leistungsbilanzüberschüsse und eine schrittweise Harmonisierung wichtiger Politikfelder. Mit geeigneten Mitteln, zum Beispiel einer europaweiten Vermögensabgabe, wäre überquellendes liquides Kapital abzuschöpfen zwecks Finanzierung von Strukturreformen.
Das sind freilich Maßnahmen, die über Korrekturen innerhalb des neoliberalen Systems hinausgehen. Chancen haben sie dann, wenn zig Millionen von der Krise betroffene Bürgerinnen und Bürger in den Euro-Ländern solche Veränderungen offensiv fordern. Sie haben den Schlüssel dafür in der Hand, was aus dem Euro wird. Um ihn zu betätigen, brauchen sie realistische, keine Panik-Vorschläge.
Ein Auseinanderbrechen der Währungsunion könnte von europafeindlichen und nationalistischen Kräften leicht instrumentalisiert werden. Ob ein Erhalt der Gemeinschaftswährung teurer wird als ihr Zerfall, ist rein ökonomisch schwer zu beantworten. Doch wären die noch nicht abzuschätzenden wirtschaftlichen Folgen vermutlich leichter zu beherrschen als die politischen.
Wenn der Euro mehr sein soll als eine Währung, dann dürfen die Menschen mit ihm nicht nur den knebelnden Fiskalpakt, Sanktionen und Entmündigung verbinden. Dann müssen vor allem junge Leute Bildungschancen und Berufsperspektiven erkennen, müssen sie positive Demokratieerfahrungen machen, statt Fremdbestimmung zu erleben. In den finanzstärkeren wie in den Krisenländern dürfen soziale Rechte der Bevölkerung nicht nachrangig gegenüber den Eigentumsrechten der Kreditgeber behandelt werden.
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