»Der Dolch des Mörders war unter der Robe des Juristen verborgen«
Tim Engels, Düsseldorf
Vor siebzig Jahren endete der Juristenprozess
Es konnte kaum einen passenderen Zeitpunkt geben, als heute an den Juristenprozess zu erinnern, der am 3. und 4. Dezember 1947 mit der Verurteilung von elf Blutrichtern und Nazijuristen, teils zu lebenslanger Freiheitsstrafe, endete, darunter der ehemalige »Reichsjustizminister« Schlegelberger; vier wurden freigesprochen, der »Reichsgerichtspräsident« Bumke hatte sich der Verurteilung durch Selbsttötung entzogen. Freisler, der Präsident des »Volksgerichtshofs«, starb noch vor Anklageerhebung infolge eines alliierten Luftangriffs.
Die Totalitarismusdoktrin obsiegt immer
Vor einem Jahr wurde Die Akte Rosenburg veröffentlicht, eine historische Forschungsarbeit über die Durchsetzung des Bundesjustizministeriums mit Nazis, die immerhin zwei Drittel des Personals stellten; bis zu siebzig Prozent seiner Beamten waren Mitglieder der »NSDAP« und während des deutschen Faschismus an Naziverbrechen beteiligt. Selbst das bürgerliche Feuilleton musste zugestehen, was bislang kommunistischer Propaganda zugeschrieben wurde, dass die faschistische Kontinuität in der BRD kein Ruhmesblatt gewesen sei, sondern diese sich bis heute schwere Versäumnisse bei der Aufarbeitung und Verfolgung von Naziverbrechen vorwerfen lassen müsse. So verwundert es nicht, dass die Wochenzeitung Unsere Zeit (UZ) feststellte, dass lediglich »lang Bekanntes« bestätigt worden sei (21.10.16). Der Rezensent in der Neuen Juristischen Wochenschrift (NJW) fasste es so zusammen:
»Die Biedermänner haben unter dem Schutz des Bundesbeamtengesetzes […] die Reputation ihres Hauses nachhaltig beschädigt«. [1] Immerhin nötigte dies dem Justizminister Maas (SPD) das Lippenbekenntnis ab, »zu der Schuld, die das Ministerium auf sich geladen« habe, zu stehen, um daraus »Schlüsse für die Gegenwart« zu ziehen, was heiße, mithilfe des Rechtsstaats gegen »extremistische Taten […] mit aller Konsequenz vorzugehen« (Süddeutsche Zeitung – SZ, 10.10.16). Am Ende obsiegt doch immer die Totalitarismusdoktrin, die in der BRD Staatsraison ist. Es gab in der Fachpresse keinen Beitrag dazu, der nicht nach wenigen Seiten bei der DDR angekommen war. [2] Das lenkt ab von der »gelungenen Renazifizierung« (Otto Köhler). Köhler wies in derselben Zeitung auf den Umstand hin, dass Nazijurist Theodor Maunz zwar in der FAZ-Rezension (21.11.16), im Gegensatz zu Hilde Benjamin allerdings nicht in der »Akte Rosenburg« Erwähnung gefunden habe. Maunz steht wie kein anderer für die gewahrte »Kontinuität zum Nazistaat« (jW, 11.10.16), war er doch nicht nur Hochschullehrer, sondern auch Mitverfasser des gleichnamigen renommierten Grundgesetzkommentars, in dem dessen Schüler, der spätere Bundespräsident Herzog, die alliierten Gesetze zur Befreiung des deutschen Volkes vom Nationalsozialismus und Militarismus (Art. 139 GG) für »obsolet« erklären durfte (jW, 28.12.16).
Keine Entnazifizierung
»Furchtbare Juristen« gab es viele. Ingo Müller hat sie in der gleichnamigen Publikation über die »unbewältigte Vergangenheit der Justiz« dargestellt. Der Titel selbst spielt auf den Marineblutrichter und späteren Ministerpräsidenten Baden-Württembergs an, Filbinger, dessen Figur Rolf Hochhut in dem Theaterstück »Juristen« verarbeitet hat. Neunzig Prozent der der Nazielite treu ergebenen Beamtenschaft, Blutrichter und Nazijurisprudenz konnten in der BRD ungehindert in Amt und Würden zurückkehren; eine Entnazifizierung fand nicht statt, ganz im Gegenteil. Und eigentlich war und ist dieser Umstand noch heute offensichtlich, auch wenn es viele nicht wissen mögen. Immerhin hatte die SZ die Akte Rosenburg zum Anlass genommen, auf die Debatte im Bundestagsrechtsausschuss aufmerksam zu machen, der angetreten war, die Nazidiktion aus den Gesetzestexten zu verbannen (27.10.16). Mittlerweile herrscht auch dort wieder Stillstand. Ob die Initiative im neu konstituierten Bundestag fortgeführt werden wird, ist fraglich. Anfang September dieses Jahres wartete die SZ dann mit der Erkenntnis auf, dass es sich bei »Palandt«, dem Namensgeber des auch als Ausbildungsliteratur verwendeten BGB-Standardkommentars, um einen Nazijuristen handle, so dass über Umbenennung nachgedacht werden müsse (11.9.17). Dies sei nicht der »einzige braune Fleck«. Auch »Schönfelder«, so der Name der obligatorischen Sammlung »Deutscher Gesetze«, sei damals Herausgeber der Nazigesetze gewesen, ferner Blockwart der NSDAP sowie Mitglied im NSRB, dem nazistischen »Rechtswahrerbund«. Dies erklärt, weshalb das Grundgesetz die Ordnungsnummer eins trug und gleich folgend das BGB mit der Ordnungsnummer zwanzig anschloss: Das Grundgesetz hatte das Parteiprogramm der NSDAP ersetzt, die anderen Verordnungen wie die Rassegesetze wurden schlicht ausgeheftet; in der Loseblattsammlung war das einfach und unauffällig möglich. So tragen die Jurastudierenden dieser Tage noch heute naiv und unwissend die Nazis sozusagen unter ihrem Arm herum. Zu ergänzen wäre noch der Kommentar zum Strafgesetzbuch, lange Zeit firmierend unter »Dreher/Tröndle«. Ersterer war Führender Staatsanwalt am Sondergericht in Innsbruck; als solcher verantwortlich für diverse Todesstrafen, dann Ministerialdirigent im Bundesjustizministerium, entsprechend erwähnt im Braunbuch der DDR als Ritterkreuzträger sowie des Hitler-Ordens »Deutsches Kreuz in Gold«. Hier hat man sich des Nazigeruchs entledigt: Der Beck’sche Kurzkommentar heißt heute »Fischer«, der als Person seinerseits wiederum 2011 von dem damaligen Präsidenten des Bundesgerichtshofes (BGH), Tolksdorf, als Vorsitzender des Zweiten Strafsenats zu verhindern gesucht wurde. Die SZ vermutete darin eine Reaktion auf Fischers »Generalabrechnung mit einer konservativen Juristengeneration« (1.8.2011). Gemeint war dessen Leseempfehlung »Spuren der Strafrechtswissenschaft«, die in der von Bernsmann und ihm in Berlin 2011 herausgegebenen Festschrift für Rissing-van Saan erschienen war. Dort warf er der Nachkriegsgeneration faktisch vor, die »insgesamt fehlgeschlagene […] Auseinandersetzung mit der NS-Justiz« nicht einmal erwähnt, geschweige denn reflektiert zu haben, dass ihr die »Väter-Generationen […] als (prima facie) mutmaßliche Handlanger von Menschheitsverbrechern […] gegenüberstanden« (S. 152 f.). Diese »katastrophale Erkenntnis […] fast vollständig zu ignorieren und […] in eine […] Haltung vorgeblicher Kontinuität des ›Normalen‹ umzuwandeln, sei »wenig wahrscheinlich« »ohne Einfluss auf den Beruf« geblieben. »Die eigenen Lehrer« seien »bewundert«, »dankbar« und »hochverehrt« worden, vom »Kampfgeist […] und [der] Bescheidenheit hätte man »1953 wieder ›viel für wissenschaftliche Arbeit‹ lernen« können, so von dem Zivilrechtsprofessor Siebert, »HJ-Bannführer, NSDAP-Mitglied seit 1933 […], ab 1953 wieder ordentlicher Professor, der 1935 bei einer BNSDJ-Tagung [3] »den Gesetzes-Begriff ›Mensch‹ durch einen völkisch bestimmten Begriff zu ersetzen« suchte (S. 159, Fn. 55).
Das mag für Fischers Richter-Kolleginnen und -Kollegen am BGH harter Tobak gewesen sein.
Juristenprozess bleibt totgeschwiegen
Diesen »furchtbaren Juristen« meinte der Bundesjustizminister nun im Jubiläumsjahr des Juristenprozesses, freilich ohne diesen zu erwähnen, die »Furchtlosen Juristen« gegenüberstellen zu müssen, wohlwollend besprochen von einem der Autoren der Akte Rosenburg in der NJW, die es ihrerseits zu ihrem runden Geburtstag versäumte, auf deren NSRB-Vergangenheit hinzuweisen – bis 1939 hieß sie schlicht »JW«. Auch in den Anmerkungen zu Gerichtsentscheidungen aus 70 Jahren NJW findet sich keine zum Umgang mit den Verbrechen der Nazis. Jetzt also sollen die »furchtlosen Richter und Staatsanwälte gegen das NS-Unrecht« herausgestellt werden. Der Beck-Verlag, der 1933 den jüdischen Liebermann-Verlag »arisiert« hatte (SZ, 13.11.17) und gegenüber Maunz eine »Treuepflicht« erkannte (jW, 28.12.16), nimmt sich ihrer an.
Dabei hätten die »Streitbaren Juristen und Juristinnen« durchaus früher Beachtung finden dürfen, gab es die gleichnamigen Porträts doch bereits, herausgegeben von der Redaktion der Frankfurter Zeitschrift »Kritische Justiz«, im Jahr 1988 –, dieses Jahr erweitert nun um einen Band zwei, der in der NJW erwartungsgemäß auf weniger Gegenliebe stößt (Jg. 2017, S. 794).
Während also jetzt selbst der Justizminister nicht mehr umhin kommt, die nach Ralph Giordano benannte »zweite Schuld« des Leugnens und Verdrängens der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft anzuerkennen (SZ, 10.10.16) und »die Ausmaße der Kontinuitäten« im Ministerium »als erschreckend und den Umgang damit als skandalös zu bezeichnen« (NJW 17, 2007), findet sich wie eh und je zum Juristenprozess, der immerhin im März vor siebzig Jahren begann, kein Wort.
Wie auch der Hauptkriegsverbrecherprozess [4], der diesem sogenannten Folgeprozess 1945/46 (»Fall 3«) vorausgegangen war, wurde er von der westdeutschen Bevölkerungsmehrheit sowie ihrer Judikative und Regierung als Ausdruck von »Siegerjustiz« empfunden, so bereits beim Konstanzer Juristentag 1947, und in der Öffentlichkeit entsprechend totgeschwiegen. Nur die KZ-Überlebenden, die Verfolgten des Naziregimes, die Widerstandskämpferinnen und -kämpfer demonstrierten in Nürnberg: »Die Verantwortlichen unseres Elendes in unsere Hände« und »Tod allen Kriegsverbrechern« [5]. Einzig Ingo Müller behandelte den Prozess in nennenswertem Umfang in seinem bereits oben erwähnten Werk, das ihn – als Tabubruch begriffen – seine wissenschaftliche Karriere kostete (ebd., S. 2008).
Nazijustiz – Teil des Unterdrückungs- und Vernichtungsapparates
Von den Angeklagten standen die Staatssekretäre Schlegelberger, Rothgenberger und Klemm sowie die (Ober-)Reichsanwälte Lautz, Barnicke und Rothaug stellvertretend für die gesamte Nazijustiz, wie die Welt ihresgleichen noch nicht gesehen hatte (vgl. Müller, a. a. O., S. 245 ff.). Somit ging es auch um den Nachweis, dass diese »Justiz als Ganzes« Teil des faschistischen »Unterdrückungs- und Vernichtungsapparates« geworden sei. [6] Angeklagt wurden sie auf Grundlage des alliierten Kontrollratsgesetzes Nr. 10 (Bestrafung von Personen, die sich Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen den Frieden oder gegen die Menschlichkeit schuldig gemacht haben). Hinzu kam der Vorwurf der Mitgliedschaft in der »SS« als einer nach der Rechtsprechung des Internationalen Militärgerichtshofs (IMG) kriminellen Vereinigung.
Den Angeklagten wurden die diversen Nazigesetze zur Last gelegt, die in Deutschland, aber auch in den besetzten Gebieten exekutiert worden waren. In einer beeindruckenden Eröffnungsrede führte der Chefankläger des IMG, Telford Taylor, aus, dass die Angeklagten lediglich »die leeren Hüllen von Rechtsformen zur Verfolgung, Versklavung und Ausrottung von Menschen in einem Riesenausmaß« benutzt hätten; dabei hätten sie »den Dolch unter dem Talar getragen« – ein Bild, das der Gerichtshof in der Urteilsverkündung aufgriff (siehe die Überschrift dieses Beitrages) – und »aus dem deutschen Strafrecht ›durch eine Anzahl von Zusätzen, Erweiterungen und Verdrehungen‹ […] eine Waffe gemacht«. [7] Dies entsprach der Sicht im Hauptprozess, in dem der Vorgänger von Taylor, Robert H. Jackson, festgestellt hatte, dass die gegen »die gesamte zivilisierte Weltgemeinschaft« verübten Verbrechen von einer »Räuberbande begangen« worden seien, »die sich des Instrumentariums des Staates bemächtigt« hätten. [8] Herauszustellen sind dabei der sogenannte »Nacht-und-Nebel«-Erlass sowie die Polenstrafverordnung. Ersterer stammte von dem Oberkommandierenden der Naziwehrmacht, Wilhelm Keitel, der in Nürnberg als einer der Hauptkriegsverbrecher hingerichtet wurde, und sah vor, Partisaninnen und Partisanen aus den besetzten Gebieten bei »Nacht-und-Nebel«-Aktionen ins Nazireich zu verschleppen, um ihnen dort vor den faschistischen Sondergerichten ohne Verteidigung und Übersetzung den Prozess zu machen, der regelmäßig mit dem Tod endete. [9] Die Verordnung sah die extralegale Hinrichtung nach Standgerichten in den okkupierten Ländern vor. Der Gerichtshof wertete beide als Kriegsverbrechen bzw. solche gegen die Menschlichkeit. Nämliches gilt für die »Euthanasie«-Morde der sogenannten »T4-Aktion« [10], die ebenfalls Verfahrensgegenstand waren.
Der im weiteren dort verhandelte Fall Schlitt steht exemplarisch für die von Schlegelberger beseitigte richterliche Unabhängigkeit. Der Werftarbeiter war wegen eines Gewaltdelikts angeklagt und zu einer mehrjährigen Zuchthausstrafe verurteilt worden. Auf direktem Weg verlangte Hitler von Schlegelberger die Umwandlung der Verurteilung in die Todesstrafe. Zwei Tage später verkündete der Gerichtspräsident Bumke (s. o.) das verlangte Todesurteil [11]. Er war von Schlegelberger 1939 gebeten worden, im Dienst zu bleiben: »Sie wissen doch, was dann passiert«. [12] Dem halten die Autoren der Rosenburg zu Recht entgegen, dass es schwer vorstellbar sei, »wie es noch schlimmer hätte kommen können – was also genau von den ›anständig Gebliebenen‹ verhindert wurde.« [13] Auch das Nürnberger Gericht wollte sich auf diese Art der Verteidigung nicht einlassen: »Die Preisgabe des Rechtssystems eines Staates zur Erreichung verbrecherischer Ziele untergräbt dieses mehr als ausgesprochene Gräueltaten, welche den Talar des Richters nicht besudeln.« [14] Schlitt war allerdings kein Präzedenzfall; die faschistische »Urteilskorrektur« mittels sogenannter »Nichtigkeitsbeschwerden« und »außerordentlicher Einsprüche« war der Regelfall gegen die politischen Gefangenen, in dem Freiheitsstrafen in Todesstrafen umgewandelt werden konnten. Diese Rate verzwölffachte sich während der zwölf Nazijahre.
Diese heute noch erhaltenen Urteile des Reichsgerichts stellen »einzigartige Dokumente des mörderischen Zusammenspiels zwischen den Juristen des Reichsjustizministeriums, der Reichsanwaltschaft und des Besonderen Senats beim Reichsgericht [›des Führers Gerichtshof‹ unter Vorsitz des Präsidenten Bumke, s. o.; T. E .] dar.« [15]
Entsprechend stellte das Nürnberger Gericht in seinem Urteil fest: »Das Beweismaterial ergibt schlüssig, daß, um das Justizministerium bei Hitler in Gnaden zu erhalten und um seine völlige Unterwerfung unter Himmlers Polizei zu verhindern, Schlegelberger und die anderen Angeklagten […] die schmutzige Arbeit übernahmen, die die Staatsführer forderten und das Justizministerium als Werkzeug zur Vernichtung der jüdischen und polnischen Bevölkerung, zur Terrorisierung der Einwohner der besetzten Gebiete und zur Ausrottung des politischen Widerstands im Inland benutzten.« [16]
Bundesdeutsche Kritik an Nürnberger Rechtsprechung
Den Vorwurf der Verletzung internationaler Rechtsstandards, wie er bereits im Hauptprozess seitens der Angeklagten und ihrer Nazianwälte erhoben worden war, wusste das Gericht gleich selbst zu entkräften: »Der Versuch, den Ex-post-facto-Grundsatz auf gerichtliche Entscheidungen im Gewohnheitsrecht der Völker anzuwenden, hieße nichts anderes, als das Völkerrecht schon bei seiner Entstehung abzuwürgen.« [17]
Tatsächlich wird auch in der jüngeren Literatur mit der Rechtsprechung des Nürnberger Gerichts gehadert, der seitens des Bundesregierung und des BGH jede Rechtsnatur abgesprochen wurde. [18]
Die Konstellation des Rückgriffs auf ein rückwirkend geltendes Gesetz, nämlich das bereits oben erwähnte alliierte Kontrollratsgesetz Nr. 10, habe »es dem Nürnberger Tribunal« ermöglicht, »sich kaum mit der ›subjektiven‹ Seite der Tatbestandserfüllung, also mit dem Wissen und Wollen der Angeklagten [hinsichtlich der Tatumstände; T. E.], zu beschäftigen« [19].
Solche Probleme trieben die wenigen Juristen, die das Nürnberger Urteil bislang rezipiert hatten, nicht um. Der ehemalige sozialdemokratische Weimarer Reichsjustizminister Gustav Radbruch [20] legitimierte die Anwendbarkeit des Gesetzes mit dem »Konflikt zwischen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit[, der] dahin zu lösen sein [dürfte], daß das positive, durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann den Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist, es sei denn, daß der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, daß das Gesetz als ›unrichtiges Recht‹ der Gerechtigkeit zu weichen hat.« [21]
Auch der demokratische Jurist und Antifaschist Heinz Düx sah es als eine der »tragischen Fehlentwicklungen unseres Landes, dass diese Anerkennung völkerrechtlicher Grundsätze niemals mit dem nötigen Nachdruck vollzogen worden ist.« [22] Verfassungsgrundsätze sah er durch das inkriminierte Gesetz bereits deshalb nicht verletzt, weil das Völkerrecht den innerstaatlichen Gesetzen übergeordnet wurde (Art. 25 GG) und die Tatbestände des Kontrollratsgesetzes als Ausfluss der Haager Landkriegsordnung von 1907 in Verbindung mit den UN-Resolutionen 3 und 95 der UN-Vollversammlung somit davon umfasst waren. Gleichwohl ließ die Adenauer-Regierung das Gesetz mit der »Aufhebung des Besatzungsrechtes« 1956 trotz Art. 139 GG (s. o.) im Jahr des Verbots der KPD außer Kraft setzen! Ebenfalls in jenem Jahr wurde mit Rothaug der letzte Nazijurist entlassen, alle anderen waren bereits 1951 amnestiert worden. Dies entsprach den US-Interessen im Kalten Krieg.
DDR-Funktionsträger hatten sich tatsächlich vor einer Siegerjustiz zu verantworten
Die Kritik ist letztlich auch deshalb wenig überzeugend, weil der BGH bis in die 1990er Jahre vor allem in seiner Rechtsprechung zur Rechtsbeugung die von den Nazis tatsächlich beseitigte Unabhängigkeit der Richter am »Volksgerichtshof« betonte, wie die Autorin im übrigen selbst bemerkt [23], nach der auch die Nazirichter immer nach Recht und Gesetz gehandelt hätten. Ein Vorsatz, also bewusste Rechtsbeugung und gewollter Mord, wurden stets verneint. Soviel zum subjektiven Faktor. Dies änderte sich erst in den Prozessen gegen die Funktionsträger der DDR, denen eine internationale Gerichtsbarkeit verwehrt blieb; sie hatten sich tatsächlich vor einer Siegerjustiz zu verantworten. Hier nun stellte der BGH erstmals in einem sogenannten obiter dictum (einer Nebenentscheidung) fest, dass die »Auseinandersetzung mit der NS-Justiz« als insgesamt fehlgeschlagen anzusehen sei. Die damalige Rechtsprechung sei nicht zu Unrecht oft als »Blutjustiz« bezeichnet worden. »Die vom Volksgerichtshof gefällten Urteile sind ungesühnt geblieben, keiner der […] Berufsrichter und Staatsanwälte wurde wegen Rechtsbeugung verurteilt […]. Einen nicht wesentlichen Anteil an dieser Entwicklung hatte nicht zuletzt die Rechtsprechung des BGH.« [24] Soweit die unverfängliche Selbstkritik, wenn es eigentlich gegen Sozialistinnen und Sozialisten geht. Dies hatte den BGH jedoch nicht gehindert, die Einstellung des Verfahrens gegen den Wehrmachtsleutnant Lehnigk-Emden wegen Verjährung zu bestätigen. Lehnigk-Emden sollte sich für das von der Wehrmacht im süditalienischen Caiazzo 1943 an Frauen und Kindern verübte bestialische Massaker verantworten. Der BGH konnte (oder wollte?) sich nicht vorstellen, »dass Exzesse dieser Art von der Staats- und Parteiführung [der Nazis; T. E.] gedeckt worden wären.« [25]
In dem wohl letzten Auschwitzprozess, der Strafsache gegen den ehemaligen »SS-Unterscharführer« Gröning, der im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau »Rampendienst« zwecks »Selektion« versehen hatte, hat der BGH nun erstmals in seinem Beschluss vom 20.9.16 festgestellt, dass bereits durch »allgemeine Dienstausübung in Auschwitz« eine Hilfeleistung gegenüber Führungspersonen in Staat und SS« erfolgt sei. Zu dem bestehenden »organisierten Tötungsapparat« habe das Vernichtungslager »mit dem dort für diese Zwecke diensttuenden Personal« gezählt. Die Vernichtung der ungarischen Jüdinnen und Juden sei überhaupt nur möglich gewesen, weil den Funktionären und Machthabern »eine derart strukturierte und organisierte ›industrielle Tötungsmaschinerie‹ mit willigen und gehorsamen Untergebenen zur Verfügung« gestanden habe. [26]
Zurecht bleibt für die NJW-Kommentatorin dieser Entscheidung, Prof. Dr. Anette Grünewald, »ein schaler Beigeschmack«, da für die meisten der Betroffenen »diese Rechtsprechung zu spät« komme – »nämlich zu einem Zeitpunkt, zu dem sie die Gesellschaft so gut wie nichts mehr ›kostet‹. Und das ist die zutiefst beschämende Seite dieses Beschlusses.« [27]
Es ist diese Rechtsprechung, die den Tätern die Flucht in die Demenz eröffnet. [28]
Anmerkungen:
[1] Lamprecht, Die Braunhemden auf der Rosenburg, NJW, Jg. 2016, S. 3082, 3086.
[2] Bspw. Limperg, Mayen u. a., Wenn aus Recht Unrecht wird, ebd., S. 3698; Lamprecht, a. a. O., S. 3084 f.
[3] BNSDJ steht für den »Bund Nationalsozialistischer Deutscher Juristen« als Vorläufer des NSRB (s. o.); veranstaltet wurde die Tagung seitens der »Reichsfachgruppe Hochschullehrer« im BNSDJ.
[4] Nina Hager, Vor 70 Jahren endete der Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess, in: UZ vom 14.10.16, S. 10.
[5] Heinz Düx, in: Friedrich-Martin Balzer (Hg.), Heinz Düx – Justiz und Demokratie, Gesammelte Schriften, Bonn 2013, S. 331.
[6] Zit. nach Ingo Müller, Furchtbare Juristen, Berlin 2014, S. 353; Annette Weinke, Die Nürnberger Prozesse, München 2006, S. 68.
[7] Ebd., S. 70; Christiane Wilke, in: Kim C. Priemel / Alexa Stiller, NMT – Die Nürnberger Militärtribunale zwischen Geschichte, Gerechtigkeit und Rechtsschöpfung, Hamburg 2013, S. 307; perversions wurde von der Autorin mit Verdrehungen übersetzt; es meint Rechtsbeugungen [perversions of justice]; T. E.
[8] Ebd., S. 306.
[9] Uwe Wesel, Geschichte des Rechts, München 1997, Rz. 306, S. 482.
[10] Ralph Dobrawa, Nürnberger Ärzteprozess, in: Mitteilungen, 8/2017, S. 13 f.
[11] Wesel, a. a. O., Rz. 305, 307; S. 481, 484.
[12] Zit. nach Limperg, a. a. O., S. 3702.
[13] Zit. nach Lamprecht, a. a. O., 3083.
[14] Zit. nach Müller, a. a. O., S. 355.
[15] Ebd., S. 165 ff.
[16] Zit. nach Weinke, a. a. O., S. 71 bzw. Müller, a. a. O., S. 354.
[17] Ebd.; gemeint ist das Rückwirkungsverbot (keine Strafe ohne Gesetz – nulla poena sine lege).
[18] Gutmann, Jäckel u. a. (Hg.), Enzyklopädie des Holocaust – Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden, Bd. II, München 1998, S. 1028.
[19] Wilke, a. a. O., S. 318, m. w. Nachw.
[20] Hans-Peter Schneider, in: Kritische Justiz (Hrsg.), Streitbare Juristen – Eine andere Tradition, Baden-Baden 1988, S. 295 ff.; s. a. o.
[21] Sog. »Radbruchsche Formel«; ders., Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, in: Rechtsphilosophie, Bd. III, S. 83, 86, 89.
[22] Düx, a. a. O. (Fn. 5), S. 218.
[23] Wilke, a. a. O., S. 316 f.
[24] BGH, NJW 96, 857, 859, 863.
[25] BGH, NJW 95, 1297; zit. nach Müller, a. a. O., S. 336.
[26] BGH, NJW 17, 498 ff.
[27] Dies., NJW 17, 500 f.
[28] Am 11. September 2017 wurde das bei der 64. Strafkammer des Landgerichts Neubrandenburg rechtshängige Strafverfahren gegen den damaligen Auschwitz-Sanitäter Ernst Hubert Zafke wegen altersdemenzbedingter Prozessunfähigkeit eingestellt. Zuvor war seitens des Gerichts wiederholt versucht worden, dem Naziverfolgten und Shoah-Überlebenden Walter Plywasky, dessen Eltern von den Nazis in Auschwitz ermordet wurden, die Teilnahme an der Hauptverhandlung zu verwehren. Auch Anne Frank hat Auschwitz wie die anderen Millionen dort ermordeten Jüdinnen und Juden nicht überlebt. Tausende wurden von Sanitätern wie Zafke totgespritzt, auch wenn ihm selbst eine konkrete Tatbeteiligung nicht nachzuweisen war (vgl. SZ, 12. September 2017). Nach der Anklage gegen einen ehemaligen SS-Wachmann des Vernichtungslagers Majdanek vor dem LG Frankfurt a. M. wird zunächst ebenfalls dessen Verhandlungsfähigkeit geprüft (SZ, 21./22. Oktober 2017).
Mehr von Tim Engels in den »Mitteilungen«:
2015-11: ... wenn die Geschichte dieser Prozesse ungeschrieben bleibt
2013-03: »... ich reiche Euch die Bruderhand«