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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Der Auschwitz-Prozess von 1963 bis 1965

Prof. Dr. Friedrich Karl Kaul (1906-1981)

"Ich schwöre, so wahr mir Gott helfe!"

Da sitzt er nun vor dem krummhalsigen Mikrophon, die Beine betont ungezwungen übereinandergeschlagen, so daß die grau karierte Hose die dunkle Socke frei läßt, unter der sich der Rand der eingeschobenen langbeinigen Unterhose markiert. Ja, alles an ihm atmet bürgerliche Wohlanständigkeit. Auch seine Sprache, insbesondere – er würde sagen "insonderheit" – seine Sprache. Er spricht gewollt sicher-unbeteiligt. Zu betont, als dass es natürlich klingt. Wenn er eine Frage des Schwurgerichtspräsidenten verneinen will, sagt er nicht "Nein!" sondern in der Art, in der er etwa mit abgespreiztem kleinem Finger die Teetasse zu halten für vornehm hält: "Aber nein ... nein, nein ... niemals!"

Niemals hatte er "vorher" davon gehört, dass im KZ Auschwitz gemordet wurde. "Aber nein ... nein, nein ..." Davon hatte er "vorher" nichts gehört.

Aus welchem Grunde er nach Auschwitz 1943 abkommandiert worden war? Nur um als Leiter eines Kriminal-Sonderkommandos aufzuklären, ob sich die SS-Leute an den Effekten der KZ-Häftlinge bereicherten. Nur um die Effekten ging es; ja, jawohl! Nur um diese! So hätte sein dienstlicher Auftrag gelautet.

Welche Stelle ihn nach Auschwitz abkommandiert hatte? Seine "Beschäftigungsbehörde". Ja, so nennt er die Abteilung V des unter Leitung des Massenmörders Heydrich stehenden Reichssicherheitshauptamtes, der er als Hauptsturmführer angehörte. "Nur ein Ausgleichsdienstgrad, dieser SS-Hauptsturmführer", beeilt er sich begütigend hinzuzusetzen. Von Haus aus sei er Kriminalkommissar gewesen.

Nach langem Hin und Her wird unter dem Nebel seiner gedrechselten Wortkaskaden schließlich klar, daß er von allem gewußt hat, von allem.

Er hat davon gewußt, daß eine Handbewegung des "Selektions"-Leiters genügte, die Menschen auf der "Rampe" zum Gastod zu bestimmen. Er hat davon gewußt, daß Häftlinge an der berüchtigten "schwarzen Wand" des Bunker-Blocks 11 durch Genickschuß gemeuchelt wurden. Er hat davon gewußt, daß Insassen des "Krankenbaus" mit Phenol-Einspritzungen gemordet wurden.

Er hat von allem gewußt! Doch er hat es als Kriminalist, der mit Ermittlungen in Auschwitz betraut war, noch nicht einmal für nötig gehalten, über diese Massenmorde, die ihm "vorher" oder "nachher" bekannt wurden, auch nur einen Bericht für seine "Beschäftigungsbehörde" zu machen.

"Der mir erteilte Ermittlungsauftrag bezog sich nur auf die Veruntreuung von Häftlingseffekten. Alles andere war dementsprechend füglich" – er sagt wirklich "füglich"! –, "nicht Ermittlungsobjekt."

Der Präsident des Schwurgerichts fühlt sich geniert. "Wenn Sie heute bei der Aufklärung eines Diebstahls auf einen Mord stoßen, lassen Sie den auch unaufgeklärt?"

"Tja ...", sagt der Zeuge und hebt bedauernd die Hände. Es tut ihm ja selbst alles sehr leid, aber wahrscheinlich, sehr wahrscheinlich sogar, würde auch heute – gerade heute – seine Aufklärungsfreudigkeit genauso davon abhängen, gegen wen aufgeklärt werden soll ... Das alles liegt in diesem "Tja", in dieser leeren Bewegung der Hände. Damit aber bekommt die Zeugenvernehmung des ehemaligen Hauptsturmführers Helmut Barsch im Frankfurter Auschwitz-Prozeß eine hochaktuelle Bedeutung. Denn der ehemalige Hauptsturmführer ist heute als Hauptkriminalkommissar der Polizei in Krefeld tätig – noch oder wieder tätig!

Hier ist das Krebsgeschwür im westdeutschen Staatsgefüge bloßgelegt: dieses Noch-und-wieder-Tätigsein derer, die an den Nazi-Verbrechen in größerem oder geringerem Maß Anteil hatten. Der Schwurgerichtspräsident wird unruhig. Er hat genug von dem Zeugen. Rasch macht er mit dessen Vernehmung Schluss. Nach einem kurzen prozesstechnischen Hin und Her schnell noch die unvermeidliche Eidesleistung, und auch dieser Sündenfall wäre überstanden.

Doch ich widerspreche der Beeidigung des Zeugen. Nur weniger Worte bedarf es zur Begründung meines Antrages: Der ehemalige Hauptsturmführer hat nach eigenem Eingeständnis die Mörder von Auschwitz und damit auch die Angeklagten dieses Schwurgerichtsprozesses im Amt begünstigt. Die Eidesleistung des heutigen Hauptkriminalkommissars ist deshalb von Gesetzes wegen unzulässig.

Das Gericht braucht Zeit, um über meinen Antrag zu beraten. Doch schließlich ist ihm eine Manifestation der durch Grundgesetz und Verfassung gewährleisteten richterlichen Unabhängigkeit nicht so viel wert wie ... ja, wie was wohl? Immerhin ist ein Hauptkriminalkommissar Beamter, Element des Staatsdienstes, und man selbst ist ja auch ... Kurz und gut, mein Antrag wird zurückgewiesen, ohne Begründung, versteht sich; der ehemalige Hauptsturmführer wird aufgefordert, dem Präsidenten die Eidesformel nachzusprechen: "Ich schwöre es, so wahr mir Gott helfe!" Seine Stimme ist belegt, als er der Aufforderung Folge leistet.

Beim Verlassen des Saales bemerkt ein ausländischer Korrespondent in englisch-guttural akzentuiertem Deutsch: "Das war der Offenbarungseid der Bundesrepublik!"

"Das Sterben wurde zur Gewohnheit ..."

In vielerlei Gestalt wird in der stickigen Atmosphäre des Saales, in dem das Frankfurter Schwurgericht tagt, aus der Erinnerung der Überlebenden das Grauen von Auschwitz wieder lebendig.

In kühl-dozierendem Ton berichtet der polnische Mediziner Professor Fejkiel, der von Oktober 1940 bis Januar 1945 Häftling in Auschwitz war, über die Systematik der pausenlos arbeitenden Mord-Maschinerie dieses Vernichtungslagers. Als spräche er im Hörsaal der Krakauer Universität zu seinen Studenten, so unterstreicht der schlanke Mann mit dem gelichteten hellen Haar seine Ausführungen hin und wieder durch eine leichte Bewegung der Rechten.

Nur manchmal, wenn der Vorsitzende von ihm Auskunft über gewisse Einzelheiten verlangt – so zum Beispiel, ob die Opfer der Giftexperimente, an denen der angeklagte SS-Apotheker Capesius beteiligt war, noch lebend den Experimentierraum verließen oder bereits tot auf Bahren herausgetragen wurden –, bekommt der Ton, in dem Professor Fejkiel spricht, eine etwas ungeduldige Färbung.

"Sie müssen verstehen, Herr Präsident, für uns war dieses Morden doch nichts Außergewöhnliches. Für uns war es alltäglich, so dass wir gar nicht mehr auf jede Einzelheit achteten ..."

Einen Augenblick lastet Schweigen über dem Saal. "Für uns war ja das Sterben zur Gewohnheit geworden", fügt er etwas leiser hinzu.

Der Zeuge schätzt die Zahl der durch Phenol-Einspritzungen Ermordeten auf etwa 30.000 Menschen. In die Totenscheine der Ermordeten wurden dann natürlich falsche Todesursachen, z.B. Kreislaufkollaps, Venenentzündung oder Herzmuskelschwäche eingetragen.

"Einmal", Professor Fejkiel lacht kurz, gepreßt auf, "gab es dabei für die SS Unannehmlichkeiten. Bei einem der Ermordeten war Venenentzündung am rechten Bein mit anschließender Thrombose als Todesursache angegeben worden. Eine Versicherungsgesellschaft forderte von der Lagerleitung Aufklärung, da der Mann seit Jahren rechts eine Beinprothese getragen hatte ..." Der SS-Arzt hatte keine Hemmung, den Häftling Fejkiel um Rat zu fragen, wie der Versicherungsgesellschaft diese "Panne" zu erklären wäre. [...]

Im allgemeinen, so berichtet Professor Fejkiel, wirkte die Phenol-Spritze, die direkt ins Herz gestoßen wurde, augenblicklich tödlich. Nach kurzem Besinnen fügt er hinzu: "Natürlich gab es auch Ausnahmen. Eines Tages rief mich ein Häftling in den Baderaum, wo die Leichen der Häftlinge aufgestapelt waren, die der Angeklagte Klehr mit der Phenol-Spritze ermordet hatte. Wir sahen, dass unter dem Leichenhaufen ein noch lebender Häftling herauskroch. Wir halfen ihm. Er war völlig benommen und wusste gar nicht, was ihm geschehen war. Wir holten dann aus dem Häftlings-Krankenhaus die Leiche eines normal verstorbenen Häftlings und legten sie in den Baderaum, damit die Anzahl der Leichen stimmte. Wir versuchten, den mit dem Leben davongekommenen Häftling zu retten. Wahrscheinlich hatte er die Spritze von Klehr in die Lunge bekommen, oder er besaß eine außergewöhnliche Giftresistenz. Doch alle Mühe war vergeblich. Der Häftling quälte sich noch einige Wochen, dann starb er. Sein Körper konnte doch nicht Herr über das eingespritzte Gift werden."

Der Vorsitzende hat keine Fragen mehr an den Zeugen. Ein Vertreter der Anklage jedoch möchte noch Näheres über bestimmte Experimente hören, von denen Professor Fejkiel vorher gesprochen hatte.

"Sie erwähnten, Herr Zeuge, dass man gesunde Häftlinge zwang, bestimmte Medikamente einzunehmen, um deren Wirkung auszuprobieren. Was für Medikamente waren das?"

Diese Medikamente, antwortet der polnische Mediziner, hätten keine Namen gehabt. Zur Kennzeichnung hätten sie lediglich Nummern und Buchstaben getragen. Offenbar befanden sie sich noch in der Labor-Entwicklung; ihre Wirkung sollte ja erst in Auschwitz an den Häftlingen festgestellt werden.

"Von welcher Stelle sind diese Medikamente zur Erprobung nach Auschwitz gesandt worden?" fragte der Staatsanwalt weiter.

Unruhig erhebt sich Verteidiger Laternser, dessen wesentlichste Aufgabe, wie längst offenbar, darin besteht, zu verhindern, dass die Hintermänner der SS-Massenmorde entlarvt werden.

Auch dem Vorsitzenden scheint die Frage nicht sehr zu behagen. "Woher soll der Zeuge das wissen, Herr Staatsanwalt?" unterbricht er.

"Lassen Sie ihn doch erst mal antworten, Herr Landgerichtsdirektor, vielleicht weiß er es doch", kontert der Anklagevertreter diesen Behinderungsversuch.

Natürlich weiß Professor Fejkiel als ehemaliger Häftlingsarzt, welche Stelle diese Versuche veranlasste und wie sie ausliefen. Es waren die IG-Farben, die Häftlinge als Probeobjekte für ihre Arzneimittel-Versuche missbrauchen ließen! Die Opfer dieser Versuche trugen schwerste Leber-, Gallen- und Nierenschäden davon.

Aus: Kaul, F. K., In Robe und Krawatte. Der Verteidiger hat das Wort, Berlin: Verlag Das Neue Berlin 1981, darin "Der Auschwitz-Prozess", S. 88f und S. 105ff. Der DDR-Anwalt Professor Kaul nahm als Vertreter der Nebenklage im Auftrag von nahen Angehörigen der Mordopfer am Auschwitz-Prozess teil, der am 20. Dezember 1963 in Frankfurt am Main begann.