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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Demokratische Politik ersetzt durch Populismus

Ulla Jelpke am 26. Mai 1993 im Bundestag

 

Nach dem Ende der Sowjetunion und der Auflösung des Warschauer Vertrages sank das Interesse an politischen Flüchtlingen und Asylbewerbern im Westen rapide. Damit stieg das Interesse an einer Asylrechtsverschärfung, gekoppelt mit neuen großdeutschen Stimmungen, die nach dem Anschluss der DDR an die BRD vielfältig genährt wurden. Die chauvinistische Losung »Das Boot ist voll« wurde zunehmend von brennenden Asylbewerberheimen begleitet. Dann erlebten wir schon einmal, was sich gerade wiederholt: Mit der demagogischen Begründung, die Rechten müssten gestoppt werden, wurde deren Forderungen Rechnung getragen; auf dem Rücken der Schutzsuchenden und auf Kosten der bürgerlichen Demokratie. So kam es zur verheerenden Änderung des GG in puncto Asylrecht. Am 1. Juli 1993 trat die am 26. Mai durch den Deutschen Bundestag beschlossene Neuregelung in Kraft.

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort hat nunmehr die Abgeordnete Ulla Jelpke.

Ulla Jelpke (PDS/Linke Liste): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich erfahre gerade, daß sechs Polizeibeamte im Büro von Dagmar Enkelmann und in meinem Büro waren, um dort ein Transparent »Asylrecht verteidigen!« abzunehmen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

– Daß Sie an dieser Stelle klatschen, zeigt nur, welche demokratische Gesinnung Sie haben. Das macht das sehr deutlich.

(Zuruf von der CDU/CSU: Das müssen Sie als Kommunistin uns sagen! – Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

Ich verlange jedenfalls von der Präsidentin dazu eine Erklärung; denn noch ist es doch wohl so, daß Abgeordnete zumindest anwesend sein müssen, wenn Polizeibeamte in ihr Büro eindringen.

Meine Damen und Herren, heute siegt die Gewalt der Straße, und die Grundrechte verlieren.

(Widerspruch bei der CDU/CSU)

Es muß daran erinnert werden, daß die Beschleunigung, die das Projekt »Abschaffung des Grundrechts auf Asyl« phasenweise erfahren hat, explizit mit neofaschistischem und rassistischem Terror auf der Straße begründet worden ist. Als Zugabe wurde jeweils eine unglaubliche Hetze in den Medien gegeben.

Ich zitiere aus der »Hamburger Morgenpost«: Man kann es nicht leugnen, Roma sind eine ernsthafte Plage.

In der »Badischen Zeitung« heißt es: Roma sind die reinste Seuche.

Die »Kölner Rundschau« schreibt: Wer sich absolut nicht anzupassen vermag, muß das Land verlassen, und zwar so schnell wie möglich.

(Zurufe von der CDU/CSU: Jawohl!)

– »Jawohl« höre ich hier.

Und jetzt ein Zitat des nordrhein-westfälischen Sozialministers. Er erklärte im Sommer 1992: Die Ausländerfeindlichkeit ist eindeutig durch das Fehlverhalten einiger Ausländergruppen verursacht worden, die das Klima vergiftet haben. Es handelt sich dabei um Sinti und Roma.

Diese und andere Schlagworte wurden mehr und mehr zu Brandsätzen, Baseballschlägern und Stiefeltritten – und nur wenige hier haben sich geweigert, auf der Woge dieser Stimmung zur beschleunigten parlamentarischen Hinrichtung des Asylrechts zu surfen.

Es ist kein Appell des Bundeskanzlers vor dem Presserat an die journalistische Ethik bekanntgeworden, um die Privatsphäre und Unverletzbarkeit der Ausländer und Ausländerinnen zu schützen. Dort redet er erst jetzt und nur für die Ehre seinesgleichen. Die Furcht vor rassistischen Ausschreitungen zwingt doch niemanden, die Opfer zu Tätern zu machen, und Pro Asyl fragt ja zu Recht, ob wir in einem Land leben möchten, in dem das »Gesetz der Straße« gilt. Heute stimmt jedenfalls eine Mehrheit dafür.

(Gerhard O. Pfeffermann [CDU/CSU]: Das ist doch unglaublich, was Sie da verzapfen!)

So etwas entsteht nicht von heute auf morgen. Welche Verhältnisse hatten wir eigentlich bisher im Bereich der Asylpolitik, daß jetzt der Größenwahn an den Grenzen aufrüsten kann? Und warum wird genau das von einer Mehrheit hierzulande als Politik der Vernunft gegenüber Flucht- und Migrationsbewegungen vor der eigenen Haustür begriffen? Aus der wachsenden Zahl von Asylbewerberinnen und -bewerbern wurde nicht auf wachsende soziale und politische Probleme geschlossen, die eine tiefgreifende Änderung vor allem der Außen- und der Entwicklungspolitik zur Folge haben müßten; geschlossen wurde auf wachsenden Mißbrauch unseres angeblich zu liberalen Asylrechts. Und die Geschichte des Asylverfahrensgesetzes ist die Geschichte der Einschränkung des Grundrechts auf Asyl, des Ausbaus seiner abschreckenden und diskriminierenden Elemente wie Sammellager, mal Arbeitsverbot, mal Arbeitspflicht, Einschränkung der Freizügigkeit, Sozialhilfe als Sachleistungen, Einführung der Visumspflicht.

Auch die neuen, großzügigen Einbürgerungs- und Bleiberechtsregelungen waren leere Versprechungen. Ich erinnere an die unzähligen Anregungen und Anträge auch hier im Hause, den Bundesbeauftragten abzuschaffen, der mit seinen Zigtausenden von Einsprüchen die Verfahren verschleppt und behindert. Ich erinnere an die Forderungen, einen Sonderstatus für Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlinge zu schaffen, damit diese nicht ins Asylverfahren gedrängt werden müssen. Ich erinnere an die dringenden Bitten des Hohen Flüchtlingskommissars, endlich die Genfer Flüchtlingskonvention und die dort enthaltene Flüchtlingsdefinition wieder ins Asylverfahrensgesetz aufzunehmen.

Nichts davon wurde aufgegriffen.

Diese Geschichte hat auch die Opposition verschlissen. Ohne die SPD wäre heute eine Änderung des Grundrechts auf Asyl nicht möglich. Und die Niederlage der parteiinternen Opposition hat keineswegs am Dienstag stattgefunden, sondern die Etappe hat begonnen mit dem Festklopfen der Eckpunkte der neuen Gesetze in halbkonspirativen Kanzlerrunden und Spitzengesprächen. Dazu hat die SPD-Opposition viel zu lange geschwiegen.

Heute werden Sie eine Bürgerkriegsflüchtlingsregelung verabschieden, die elementaren Beschlüssen des Exekutivkomitees des UNHCR widerspricht. Im Falle von massenhaften Fluchtbewegungen soll nämlich den Flüchtlingen ohne Rücksicht auf ihre individuelle Flüchtlingseigenschaft im Sinne der Genfer Konvention ein Mindestschutz gewährt werden. Sie werden dagegen eine Regelung verabschieden, nach der Bund und Länder über den Kriegs- oder Bürgerkriegszustand in bestimmten Gebieten übereinstimmend entscheiden müssen; danach müssen Bund und Länder auch übereinstimmend über Kontingente entscheiden.

So legitimiert und kontingentiert müssen die Flüchtlinge dann auch noch darauf verzichten, einen Asylantrag zu stellen. Gerade die auch in Ihrer Definition eigentlich politisch Verfolgten verlieren damit ihren Anspruch auf Abschiebeschutz bei Beendigung der Kriegs- oder Bürgerkriegsregelung.

Sie opfern heute internationale humanitäre Normen der Ermächtigung für Bund und Länder über die Entscheidung, wo denn schon Krieg oder noch Krise herrscht. Nichts wird einfacher sein, als die Humanität im Bermudadreieck von politischen Überzeugungen, diplomatischen Erwägungen und dem Zwang zur Einstimmigkeit zwischen allen Bundesländern und dem Bund verschwinden zu lassen.

Das Gezerre um Übereinstimmung in Sachen ehemalige Werkvertragsarbeitnehmer der DDR bestätigt diese Befürchtungen. Der jetzt in Baden-Württemberg aufgehobene Abschiebestopp für Flüchtlinge aus Kroatien und der Umgang mit den noch geduldeten kurdischen Flüchtlingen zeigen dies ebenfalls.

Die auch von diesem Hause aus gezielt abgesenkte Toleranzschwelle der Deutschen wurde dargestellt als sachliche Grenze der Belastbarkeit. In kaum verhüllter Arbeitsteilung mit Rechtsradikalen wurde der Umgang mit Schwächeren aller sozialer, sozialstaatlicher und humanitärer Phrasen entkleidet.

(Gerhard O. Pfeffermann [CDU/CSU]: Das ist doch eine Unverschämtheit! Die produziert eine Unverschämtheit nach der anderen!)

Das Prinzip wenden Sie auch nach außen an.

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Abgeordneter Pfeffermann, ich bitte Sie, ruhig zu bleiben.

(Erneuter Zuruf des Abg. Gerhard O. Pfeffermann [CDU/CSU])

– Herr Abgeordneter, ich bitte Sie, ruhig zu bleiben.

– Fahren Sie fort, Frau Abgeordnete.

Ulla Jelpke (PDS/Linke Liste): Ich nenne die Verträge mit Rumänien, mit Polen, die Verhandlungen mit der Tschechischen Republik und anderen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Es ist sehr schlimm, was die hier sagt!)

Mit der Drohung, 40.000 Menschen zurückgeschoben zu bekommen, und der Wiedereinführung der Visumpflicht für polnische Bürgerinnen und Bürger wurde die Zustimmung der polnischen Regierung zu dem neuen Abkommen befördert. 120 Millionen Mark gibt es, nicht für den Aufbau der polnischen Gesellschaft, sondern für ein bißchen Asylbürokratie und sehr viel Technik zur Aufrüstung an den polnischen Grenzen. Letzteres muß auch noch zum großen Teil in der Bundesrepublik eingekauft werden.

(Wolfgang Zeitlmann [CDU/CSU]: Was haben Sie denn dagegen?)

Es war die Drohung mit weiterer sozialer und politischer Destabilisierung, die die Nachbarstaaten in das deutsche Flüchtlingsabwehrsystem und zur Kollaboration gezwungen hat. Unbekümmert setzt sich die Bundesregierung darüber hinweg, daß ein Großteil der Grenzschwierigkeiten zwischen den neuen Staaten im Osten durch die hier gewollte Asylpolitik verursacht wird. Die Außenpolitik, die der Innenminister macht, macht Flüchtlings- und Ausländerfeindlichkeit zum Exportschlager made in Germany. Und wenn in Ungarn die Sondereinheiten des Militärs Kopfprämien für aufgegriffene Flüchtlinge erhalten, liegt die Verantwortung dafür letzten Endes hier.

Jeder halse seinem Hinterland oder Vorhof seine Probleme auf, damit das gemeinsame Haus der Reichen sauber bleibe. – Das ist der Kern der europäischen Lastenteilung, die vom deutschen Innenminister als neue Solidarität gepriesen wird. Diese westeuropäische Komplizenschaft gegen Süden und Osten besiegeln Sie mit der Zustimmung zu den Asylgesetzen.

Die Mittel dazu sind Drittstaatenregelung und Listen sicherer Herkunftsländer. Unterlaufen werden die Genfer Flüchtlingskonvention und andere internationale Abkommen. Ermächtigt wird die Bundesregierung zur Lösung der grenzüberschreitenden sozialen Fragen mit Polizei und paramilitärischem Grenzregime. Von der Bundesrepublik geht ein System von Kettenabschiebungen aus. Mögliche Asylbewerber und Asylbewerberinnen können ohne ordentliches Verfahren von Land zu Land geschoben werden, unter Umständen bis in ihr Herkunftsland.

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Frau Abgeordnete, darf ich Sie darauf aufmerksam machen, daß Ihre Redezeit abgelaufen ist.

(Hans-Gerd Strube [CDU/CSU]: Es wird Zeit! Abtreten! – Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Die Vorlesezeit!)

Ulla Jelpke (PDS/Linke Liste): Darf ich noch einen letzten Satz sagen:

(Hans-Gerd Strube [CDU/CSU]: Auch nicht einen Satz mehr!)

Demokratische Politik wurde durch Populismus ersetzt. Wir lehnen dieses Gesetz ab.

(Beifall bei der PDS/Linke Liste – Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Das ist nicht überraschend!)

Deutscher Bundestag – 12. Wahlperiode – 160. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 26. Mai 1993, Ulla Jelpke.

Quelle: dip21.bundestag.de/dip21/btp/12/12160.pdf, abgerufen am 8.6.2018. Hervorhebungen: Bundestagsprotokoll.

 

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