Defizite und Fehler, aber nicht die Wurzeln
Kurt Goldstein (1914-2007) im Oktober 2000
Unsicherheit macht aggressiv - und die kam mit der BRD
Als einer, der auch heute noch die DDR trotz ihrer Defizite und Mängel für die bessere Alternative gegenüber der BRD hält, sage ich: Nein, die wesentlichen Ursachen für Nazis im Osten liegen nicht in der DDR!
Die heute 16-, 18- oder 20-jährigen, die Ausländer durch die Straßen jagen und Menschen mit einer Brutalität totschlagen, die mich an die SS-Wächter meiner KZ-Zeit erinnert, waren zur Wende Kinder. Sie hatten ihre ersten Jahre in einem Staat verbracht, dem es an vielem mangelte, an einem aber nicht: Sicherheit der Lebensplanung. Kindergarten, Schule, Ausbildung, Beruf oder Studium, auf jeden Fall ein Arbeitsplatz - das war selbstverständlich. Und jetzt erlebten sie als Heranwachsende das Gegenteil. Selbst wer einen Ausbildungsplatz gefunden hat, weiß nicht, ob er nach der Lehre Arbeit findet. Selbst wer einen Arbeitsplatz hat, weiß nicht, wie lange. Unsicherheit macht aggressiv, lässt nach Schuldigen suchen. Und Kader-Nazis, die nach der Wende fast ausschließlich aus dem Westen kamen und auf diesem Boden der Unsicherheit ihre Strukturen aufbauten, zeigten ihnen die angeblich Schuldigen: Ausländer, Menschen anderer Hautfarbe, Behinderte, Obdachlose, natürlich auch Linke. Dass auch Ältere, die in der DDR geprägt wurden, so denken, bloß nicht so handeln, ist kein Gegenbeweis. Für sie brach eine Welt zusammen, an der sie manches nicht mochten, die ihnen zu wenig an politischer Demokratie und Freiheit bot, auch kaum Erfahrungen im Zusammenleben mit anderen Kulturen, in der aber Arbeitsamt und Sozialhilfe Fremdwörter waren. Liebe Genossinnen und Genossen, ihr werdet mir glauben, dass ich damit nichts entschuldigen will, dass ich auch nicht das geringste Verständnis für Totschläger und "Totdenker" habe und null Toleranz für die Feinde der Toleranz fordere, aber hier liegen für mich die entscheidenden Ursachen.
Noch etwas: Es ist medien- und politiküblich, den Antifaschismus in der DDR herabsetzend als "verordnet" zu bezeichnen. Natürlich war er verordnet. Wie sollte es auch anders sein in einem Land, dessen Menschen zu 90, 95 Prozent bis Fünf nach Zwölf Hitler die Treue gehalten hatten? Ich bin mir auch der Defizite dieses Antifaschismus bewusst. Der Völkermord an den Juden wurde nicht in seiner ganzen Tiefe erfasst, der Völkermord an den Sinti und Roma kaum thematisiert, der nichtkommunistische Widerstand lange unterbewertet. Und ganz verheerend war die 1953 von der SED-Führung verfügte Auflösung der VVN mit der aberwitzigen Begründung, der Nazismus wäre in der DDR mit Stumpf und Stiel ausgerottet. Das alles ist wahr. Wahr ist aber auch, dass es diese Erziehung zum Antifaschismus, die Vermittlung seiner Werte wie Menschlichkeit, Toleranz, Völkerfreundschaft gab, und diese Werte bei vielen sich bis heute erhalten haben. In der BRD Adenauers dagegen waren die Beamten Hitlers, die Generale, die Wehrwirtschaftsführer, die Lehrer und Richter nach einer kurzen Schampause staatstragende Elemente. Das sollte sich nicht auf das geistige Klima in der Gesellschaft ausgewirkt haben und nicht bis heute nachwirken?
Ich bin sehr dafür, dass die PDS ihre Vergangenheit und die Geschichte der DDR aufarbeitet. Aber dann bitte in Gänze und nicht nur in den Teilen, die in das heute verordnete Geschichtsbild passen.
Aus: LAZ. Die Landeszeitung, herausgegeben von der PDS Berlin, Nr. 17, Oktober 2000, Seite 2, "Kontrovers: Rechtsextremismus im Osten - Hauptursachen in der DDR?" - Außerdem veröffentlicht in "Mitteilungen", Heft 12/2000 und in "Klartexte, Beiträge zur Geschichtsdebatte", herausgegeben von fünf Angehörigen der KPF der Partei DIE LINKE, Verlag am Park 2009, Seite 264/265. - Vorstehenden Text dokumentieren wir aus Anlass des 5. Todestages von Kurt Goldstein. Ab 1930 Mitglied der KPD. Er sei, so Kurt Goldstein, Deutscher, Jude und Kommunist. Entzog sich der Verfolgung durch die Nazis, ging in die Emigration. Von 1936 bis 1939 Interbrigadist in Spanien. Aus einem französischen Internierungslager 1942 nach Deutschland ausgeliefert, überlebte er Auschwitz und Buchenwald. Nach dem Krieg Partei- und FDJ-Funktionär im Ruhrgebiet. Übersiedlung in die DDR. Tätig als Journalist. Intendant der Stimme der DDR. Präsident des internationalen Auschwitzkomitees. Bis zu seinem Ableben 2007, am 24. September, aktiv in der LINKEN, in der Kommunistischen Plattform.